Der Betrugsprozess gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef muss von vorne beginnen. Damit wird er noch lange Zeit nicht auf sein Vermögen zugreifen können. Sein ehemaliger Weggefährte Dölf Früh versteigert unterdessen Vincenz› Villa im Tessin.
Er suchte einst die Öffentlichkeit, war zu Gast in Talkshows, bei Radiosendungen und in den Mehrzweckhallen des Landes, draussen in den Gemeinden. Dort brillierte er. Und die Öffentlichkeit liebte ihn. Doch seit seinem Rücktritt als Chef der Raiffeisen-Gruppe hat man kaum mehr etwas von Pierin Vincenz gehört.
Dafür eine Menge über ihn: Im Februar 2018 kam der frühere Raiffeisen-Chef für fast vier Monate in Untersuchungshaft, die Zürcher Staatsanwaltschaft eröffnete ein Verfahren wegen Betrug. Am 25. Januar 2022 begann der Strafprozess gegen ihn und seinen engsten Mitarbeiter Beat Stocker. Im April desselben Jahres wurde Vincenz zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt.
Noch ist Pierin Vincenz auf freiem Fuss. Sein Anwalt ging in Berufung und am Dienstag, fast zwei Jahre nach dem erstinstanzlichen Urteil, kam die überraschende Wende: Das Obergericht des Kantons Zürich hob das Urteil der Vorinstanz wegen schwerwiegender Verfahrensfehler auf und wies die Staatsanwaltschaft an, ihre Anklageschrift zu verbessern.
Der Prozess beginnt von Neuem
Nun geht alles von vorne los: Anklage, Prozessbeginn, Termine vor Gericht. Dann wird die Schweizer Öffentlichkeit Pierin Vincenz wieder zu Gesicht bekommen. Spätestens mit der Urteilsverkündung hat dieser sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, das einzige, was man jetzt noch über ihn hört, sind Berichte, laut denen er beim Golfen auf Mallorca oder beim Segeln in Kroatien gesehen worden sein soll. Im vergangenen Frühling wurde er mit einer neuen Frau an seiner Seite in Verbier beim Skifahren sowie in einem Tessiner Grotto gesehen.
Das überrascht, schliesslich stellt sich seit Jahren die Frage, wovon Pierin Vincenz eigentlich lebt. In seiner Zeit bei Raiffeisen hat er durch Saläre, Spesen und einträgliche Verwaltungsratsmandate zwar insgesamt mehr als 40 Millionen Franken eingenommen. Doch die Staatsanwaltschaft hat sein Vermögen gesperrt.
Die Liste seiner beschlagnahmten Konten, Liegenschaften und Bargeldvermögen füllte in der Anklage drei Seiten und umfasste Vermögenswerte in Höhe von 20 Millionen Franken. Wenn er grössere Ausgaben tätigen wollte, musste Vincenz in den vergangenen Jahren stets das Gericht um Erlaubnis bitten. Mit der Neuaufnahme des Verfahrens ist dafür wieder die Staatsanwaltschaft zuständig, von ihrer Grosszügigkeit hängt ab, was Vincenz sich noch leisten kann. Während des Prozesses gab er an, seine einzige verbliebene Einnahmequelle sei die AHV.
Seine Freunde liehen ihm Millionen
Vincenz müsste das Ende des Prozesses abwarten, bis er wieder auf seinen Besitz zugreifen kann – wären da nicht die Schulden. Laut eigener Aussage hatte er bis Prozessbeginn einen Schuldenberg von 23 Millionen Franken angehäuft. Ein grosser Teil davon ist bei Freunden, die ihm aus der Patsche halfen, nachdem Raiffeisen die Hypotheken des früheren Chefs gekündigt hatte.
So schuldet er dem Bahnpatron und ehemaligen SVP-Nationalrat Peter Spuhler 6,5 Millionen Franken, die dieser ihm als Kredit gewährte, als Raiffeisen Vincenz› Villa in Teufen AR nicht mehr finanzieren wollte. Obwohl Spuhler sich bisher nicht öffentlich von Vincenz distanziert hat, steht die Villa seit dem Sommer 2022 zum Verkauf. Der Immobilienmakler Ginesta preist sie auf seiner Homepage als «modernen Wohntraum mit aussergewöhnlicher Lage» an, 8,5 Zimmer auf 830 Quadratmetern Wohnfläche. Dennoch ist für das Objekt bis anhin kein Käufer gefunden worden, was wohl auch an dem hohen Preis von über 12 Millionen Franken liegen dürfte.
Vincenz selbst wohnt, anders als seine Ex-Frau Nadja Ceregato, mit der er das Haus einst kaufte, schon lange nicht mehr in der Villa in Teufen. Zuletzt soll er sich vor allem in den Kantonen Graubünden und Tessin aufgehalten haben.
Haus im Tessin wird zwangsversteigert
Auch dort kommt sein Besitz unter den Hammer, und zwar schon bald. Am 11. April soll Vincenz› Anwesen in Morcote zwangsversteigert werden. Für die Villa sollen Vincenz und Ceregato im Jahr 2016 6,5 Millionen Franken bezahlt haben, inzwischen liegt der Schätzwert gemäss Betreibungsamt noch bei 4,2 Millionen. Zur Villa mit einer Wohnfläche gehören ein Bootshaus am Luganersee sowie ein Appartement in Mendrisio.
Die Raiffeisen-Filiale in Lugano finanzierte das Haus mit einem Hypothekarkredit von 4 Millionen Franken. Dabei soll sie sich laut Staatsanwaltschaft über die Tragbarkeitsregeln hinweggesetzt haben, da Vincenz weitere ausstehende Hypothekarkredite bei seiner damaligen Arbeitgeberin hatte.
Ehemaliger Weggefährte will sein Geld zurück
Hinter der nun angeordneten Zwangsversteigerung steckt allerdings die Immobilienfirma Tecti des ehemaligen FC-St. Gallen-Präsidenten Dölf Früh. Wie dieser am Telefon bestätigt, lieh er Vincenz Anfang 2019 in Absprache mit der Staatsanwaltschaft und der Raiffeisen 4,3 Millionen Franken, um die Hypothek der Bank abzulösen. Damals sei Vincenz noch davon ausgegangen, bald wieder auf sein Vermögen zurückgreifen zu können.
Inzwischen haben Früh und Vincenz nur noch sporadisch Kontakt. «Seit dem Urteil hat er sich sehr zurückgezogen», berichtet Früh. Damit er sein Geld zurückbekomme, hätten die beiden Männer vereinbart, das Haus zu verkaufen. Dagegen sperrte sich laut Aussage von Dölf Früh die Raiffeisen – warum, das versteht er nicht. «Herr Vincenz hätte von dem Geld sowieso nichts erhalten.» Da das Haus unbewohnt sei, verwildere es und verliere täglich an Wert. Darum müsse es nun versteigert werden.
Tatsächlich würde Pierin Vincenz nicht von einem gewinnbringenden Verkauf der beiden Häuser in Teufen und Morcote profitieren. Jeglicher Gewinn, der nach der Auszahlung der Gläubiger übrig bleiben könnte, wird zu seinem eingefrorenen Vermögen hinzugefügt, auf das er nach wie vor nicht zugreifen kann.
Dem ehemaligen Starbanker droht der Privatkonkurs
Ob er davon je etwas sehen wird, ist ungewiss. Erst nach dem letztinstanzlichen Urteil wird feststehen, ob Vincenz seiner ehemaligen Arbeitgeberin Schadensersatz zahlen muss und wenn ja, wie viel. Sollte es zu einer endgültigen Verurteilung kommen, hat das Bezirksgericht in seinem ursprünglichen Urteil bereits festgelegt, dass Raiffeisen knapp 400 000 Franken zurückerhalten soll, die Vincenz für Golfreisen und Ausflüge ins Rotlichtmilieu über die Firmenkreditkarte abrechnete.
Umstrittener sind die Rückzahlungen bei den Schattendeals, bei denen Vincenz und Beat Stocker ihre Arbeitgeber mutmasslich schädigten. Im Fall der Kredikartenfirma Commtrain sollen die beiden gemäss Urteil inklusive Zinsen 4 Millionen Franken zurückzahlen. Bei den verdeckten Transaktionen mit der KMU-Finanziererin Investnet und der Kreditfirma GCL muss ein Zivilgericht die Höhe des Schadenersatzes festlegen. Nimmt man die von der Staatsanwaltschaft ermittelten Schadenssummen zum Massstab, müsste Vincenz inklusive Zinsen 9,6 Millionen Franken erstatten.
Zusammen mit seinen Schulden und den ausstehenden Anwaltshonoraren in Millionenhöhe könnte die Forderung zum Privatkonkurs des einst gefeierten Bankers führen. Hinzu kommt, dass die Schadenssummen im nun aufgehobenen Urteil mit fünf Prozent verzinst wurden. Sollte es dabei bleiben, erhöhen sich die Kosten für Vincenz durch die erneute Verzögerung des Verfahrens erheblich.
Sollte er allerdings freigesprochen werden, muss er nicht nur den Privatklägern nichts zahlen, sondern darf selbst Schadensersatz fordern – für die Untersuchungshaft, aber auch für den gesellschaftlichen und finanziellen Schaden, der ihm durch den Prozess entstanden ist. Durch die nun erfolgte Rückweisung des erstinstanzlichen Urteils hat er bereits eine Entschädigung von gut 35 000 Franken zugesprochen bekommen
Noch kein Befreiungsschlag
Auch seiner Pension geht es an den Kragen: Die Raiffeisen beantragte im September vor dem Zürcher Obergericht, dass drei Lebensversicherungspolicen von Vincenz bei der Helvetia-Versicherung zu beschlagnahmen seien. Es geht dabei um Vorsorgeguthaben in Höhe von 4,5 Millionen Franken.
Wann Pierin Vincenz wieder auf der Anklagebank erscheint, ist unklar. Die Staatsanwaltschaft ficht den Rückweisungsentscheid des Obergerichts vor dem Bundesgericht an. Erst, wenn diese Beschwerde erfolglos verlaufen ist, beginnt das Verfahren von neuem.
Ein Befreiungsschlag ist das für Vincenz nicht, eher im Gegenteil: Das Obergericht des Kantons Zürich hat schliesslich nicht darüber befunden, ob Vincenz und Stocker schuldig oder unschuldig sind. Es hat nur entschieden, dass das Verfahren von vorne anfängt – und damit, dass der zweite Teil von Vincenz› Odyssee gerade erst begonnen hat.