Freitag, September 27

Schwierige Kinder belasten die Regelklassen: Mit diesem Argument wird heute die Abkehr vom «integrativen Unterricht» gefordert. Um 1900 klang es ganz ähnlich – damals wurden «anormale» Kinder erstmals systematisch aus der Volksschule ausgesondert.

Der Basler Schularzt steht vor einem Rätsel. An der Mädchensekundarschule sind sechzig Kin­der erkrankt. Plötzlich fangen sie zu zittern an, manche werden während Minuten, andere stundenlang von heftigen Bewegungen an Ar­men und Beinen, Rumpf oder Kopf erfasst. Die Anfälle variieren, sie treten einmal die Woche oder mehrmals täglich auf. Schliesslich diagnostiziert der Schularzt «Hysterie». Damit meint er eine Nervenkrankheit, die durch «Nervosität» oder «Schwachsinn» hervorgerufen werde. Er lässt die betroffenen Mädchen nach Hause schicken und mahnt die Eltern, sie vor Anstrengung und Auf­re­gung zu schützen. Sind die Kinder genesen, dürfen sie in die Schule zurück.

Der Vorfall ereignet sich 1891. Die Rede ist von einer «Schulepidemie». 1894 wird eine Zürcher Primarschule von der neuen Seuche heimgesucht, auch eine «junge, zart gebaute und aufgeregte» Arbeitslehrerin steckt sich an, wie ein Arzt notiert. Nach der Jahrhundertwende erfasst die «Epidemie» auch deutsche Schulen.

Was passiert da? Heutige Mediziner lehnen für die Zitteranfälle nicht nur die Hysterie-Diagnose ab, die den Fokus auf weibliche Betroffene richtete. Sie weisen auch die Kategorie «Epidemie» zurück. Als Ursache des Phänomens vermuten sie Streptokokken-Bakterien, mit denen sich die in unhygienischen Wohnungen lebenden Kinder angesteckt hätten. Die meisten Erkrankten kamen in der Tat aus ärmlichen Arbeiterhaushalten. Eine andere Erklärung nennt als Auslöser der Anfälle Chorea. Die Krankheit wird durch Stoffwechselstörungen hervorgerufen. Damit ist freilich nicht begründet, wieso die Anfälle plötzlich und massenhaft auftraten – und weshalb die Zeitgenossen so beunruhigt wie bereitwillig von einer Epidemie sprachen.

Gewiss ist nur eines: Mit der Diagnose «Hysterie» trifft der Basler Schularzt den Nerv seines Milieus. Progressive Psychiater, Psychologen und Pädagogen haben um 1900 ein geschärftes Bewusstsein dafür entwickelt, in der Volksschule «kranke» Kinder zu identifizieren. Und zwar nicht mehr nur solche, die mit körperlichen ­Makeln behaftet, also schwerhörig, blind oder «taubstumm» sind, sondern auch solche mit geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen, die sich wiederum körperlich äussern. Hinter temporären somatischen Auffälligkeiten können sich dauerhafte psychische Schäden ver­bergen. Gefragt ist wissenschaftlich fundierte Un­ter­schei­dungs­fähigkeit.

Am Ende des 19. Jahrhunderts findet damit ein Paradigmenwechsel statt, wie der Historiker Carlo Wolfisberg am Beispiel Zürichs dargelegt hat: Die Volksschule fängt an, zwischen «normalen» und «anormalen» Kindern zu differenzieren und Letztere gesondert zu behandeln.

Heidi wäre in der Sonderschule

Als die liberalen Eliten in den 1830er Jahren die Volksschule aus der Taufe hoben, war ihr Ziel die Integration: eine Stände, Klassen, Stadt und Land umfassende Institution, die das Fundament für den zu schaffenden demokratischen Nationalstaat legen sollte. Gesondert behandelt und in eigens für sie gegründeten Anstalten beschult wurden nur körperlich behinderte Kinder, «Idioten» und «Verwahrloste», wie man sagte.

Ein Vorbote des neuen Trends, Seele und Hirn der Kinder auf Intaktheit zu prüfen, findet sich in Johanna Spyris Buch «Heidiʼs Lehr- und Wander­jahre» von 1880. Der Roman erzählt die Geschichte des Waisenmäd­chens Adelheid, das auf einer Alp in Graubünden aufblüht und in der Grossstadt Frankfurt am Main zu verkümmern droht. Wieder auf der Alp, bringt Heidi nicht nur ihren menschenscheuen Grossvater dazu, sich den Leu­ten im Dorf anzuschliessen: Dank Heidis Ermutigung gelingt der gelähmten Klara, dem Stadtkind, sogar das Gehen. Das alles glückt auch darum, weil sich Heidi selbst nicht länger dagegen sträubt, lesen und schreiben zu lernen.

Spyri, weder Psychiaterin noch Pädagogin, scheint bloss die Natürlichkeit des Bergkinds zu feiern und eine Brücke zwischen Natur und Kultur zu schlagen. Doch sie hat ein untrügliches Sensorium für das, was die fortschrittlichen Kreise umtreibt – für die Frage, was mit den Kindern los ist. Letztlich drehe sich der Bestseller darum, schreibt der Historiker Patrick Bühler, ob Heidi normal oder gestört ist und wie die Umwelt darauf reagiert. Wäre das Mädchen um 1900 zur Schule gegangen, wäre es wohl gesondert behandelt worden. Ob Spyri das begrüsst hätte, ist offen.

Ab 1900 nimmt die Zahl der medizinischen Diagnosen rapide zu – in der Schweiz genauso wie in Deutschland und Frankreich. Psychiater entdecken mit diversen Verfahren, etwa dem berühmten IQ-Test, «nervöse», «psychopathische» und «melancholische» Kinder, «sittlich minderwertige», «zwangskranke», «debile» und andere mehr. Ärzte, Erziehungsberater und Psychologen, die in den Dienst der Volksschulen treten oder die Kinder im Auftrag der Erziehungsräte examinieren, übernehmen gleichsam einen «Lehrauftrag in Psychopathologie» – «die Schule wird zum Sanatorium», wie Bühler es formuliert.

Die einen stützen, die anderen schützen

Die Experten sind geradezu versessen auf die Identifizierung abweichender Kinder. Darum finden sie Krankheiten und Anomalien, wo die Lehrer früher bloss Marotten, schlechtes Benehmen oder mangelnde Gottesfurcht gesehen ha­ben. Deshalb stossen sie auf eine Psycho-Epidemie – die Basler und Zürcher Zitteranfälle –, wo zuvor bloss von Herdendrang und Nachäfferei die Rede gewesen wäre. Die Spezialisten identifizieren die Kinder, um sie zu separieren. Sie teilen die Volksschule in spezielle Klassen auf, um die «normalen» Kinder vor den anderen, den «anormalen», zu schützen.

Von vorn müssen sie nicht anfangen. Schon ab 1882 haben die Städte La Chaux-de-Fonds, ­Ba­sel und Zürich die ersten «Spezialklassen» und «Hilfsklassen» für «schwachbefähigte» und «geis­tig rückständige Kinder» geschaffen; 1890 folgt St. Gal­len, 1900 Lugano. In den Spezialklassen sollen die als geistig schwach identifizierten Kinder angepasst unterrichtet werden. Gültig ist der Lehrplan der Regelklassen, doch Stoffmenge und Klassengrösse werden reduziert. Ein Pionier der Sonderbeschulung ist der Zürcher Lehrer ­Albert Fisler, der die ersten Bildungskurse für Spezialklassenlehrer einrichtet. Sie stehen am Anfang der neuen Disziplin Heilpädagogik, die bald an Universitäten gelehrt wird; sie drängt die Medizin bei der Abklärung auffälliger Schulkinder in den Hintergrund.

Die Spezialklassen und Hilfsklassen, die später und bis heute auch «Kleinklassen» heissen, sind ein zweischneidiges Instrument. Der deutsche Psychiater Emil Kraepelin, auf seinem Gebiet die Autorität schlechthin, hält 1901 fest, es sei die Aufgabe der Hilfsschulen, die «geistige und körperliche Verkümmerung zahlreicher Kinder» zu verhindern und die Volksschulen vom «Bleigewicht der Unbegabten und Zurückbleibenden» zu entlasten. Er rät den Lehrern, das Augenmerk auf die «krankhaft veranlagten Kinder» zu richten und «Verständnis für ihre Eigenart» zu zeigen. Dass die von den Experten iden­tifizierten Kinder vorwiegend aus den Unterschichten kommen, ist für Kraepelin kein Thema.

Einerseits sollen die Spezialklassen schwache Kinder stützen, andererseits jedoch belegen sie diese mit dem Stigma der Minderintelligenz und Anomalie. Zusätzlich wird den Kindern Gefährlichkeit unterstellt. Sie machen die Schule krank, darum ist sie vor ihnen zu schützen. Die Spezialklassen haben die Funktion, die Volksschule zu entlasten, damit sie ihren gewohnten Gang gehen kann. Die «normalen» Schulkinder sollen im Unterricht und in ihrer Entwicklung nicht länger von den auf irgendeine Weise defi­zitären Kindern gestört werden.

Ziel: die «Volksgesundheit» verbessern

Manche Kinder machen die Schule und damit die künftige Gesellschaft krank – dies ist das Credo. In den Jahrzehnten zuvor hat es gerade umgekehrt gelautet: Die Schule mache die Kinder krank, hiess es lange Zeit. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sorgten sich Ärzte und Pädagogen um die gehäuft auftretenden «Schulkrankheiten». Indem die Schule die Kinder in schlecht belüftete und beleuchtete Zimmer pferche und auf harte Holzbänke setze, verursache sie Krankheiten wie Skoliose, also die Verkrümmung der Wirbelsäule, Kurzsichtigkeit, Blutarmut, Kopfschmerzen oder Nasenbluten. Manche Me­diziner sprachen gar von der «Schulpathologie», die bei den überlasteten Kindern durch zu intensives Kopfrechnen und Lesen hervorgerufen werde.

Der Kanton Bern handelte 1881. Er gab eine Studie in Auftrag, die die Schulgebäude daraufhin untersuchte, wie feucht die Mauern oder wie dicht die Dächer waren. Die Schulhäuser sollten künftig so gebaut werden, dass sie die Kinder nicht mehr krank machten.

Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts schmücken schweizweit stattliche Schulhäuser, auf de­nen mancherorts gar ein Türmchen mit Uhr thront, die Quartiere und Dörfer. Doch gerade in diesen Schulschlösschen, die von der Bildung des ganzen Volks künden, setzt sich der separierende Ansatz durch: Im «gesunden» Umfeld richtet sich das Augenmerk verstärkt auf die «krankmachenden» Kinder.

Um 1930 führen Zürich und Basel-Stadt sogenannte Beobachtungsklassen für «psychopathische Kinder» ein, die über eine «normale Intelligenz» verfügen, aber mit «sozialer und psychischer Rückständigkeit» auffallen. Sie werden ein Jahr lang von Psychiatern und Psychologen untersucht und dürfen dann zurück in die Normalschule oder werden in Heilanstalten eingewiesen. Das Ziel ist die Verbesserung der «Volksgesundheit» und die psychische Gesundheit aller künftigen Erwachsenen.

Der neue Ausdruck für diese Bestrebungen lautet «Psychohygiene». Die Universität Basel richtet für sie 1937 den europaweit ersten Lehrstuhl ein. Sein Inhaber, der Psychiater und Psychoanalytiker Heinrich Meng, verficht die Idee, dass die Behörden im Interesse von Staat und Gesellschaft prophylaktisch interve­nieren könnten, wenn sie wüssten, wie viele Kinder psychisch krank, auffällig oder schlicht normal sei­en. Die Prävention von Verbrechen steht an obers­ter Stelle: Für Meng ist klar, dass die defizitären Kinder ein grosses Risiko tragen, kriminell zu werden.

Der Siegeszug der Psychologie geht einher mit jenem der separativen Beschulung. Im Kanton Zürich erreicht sie in den 1970er Jahren den Höhepunkt, wie der Historiker Carlo Wolfisberg berechnet hat: 4 Prozent aller Kinder besuchen in dieser Zeit Kleinklassen und Sonderschulen. 1920 waren es noch 2, um 1890 gar nur 0,2 Prozent. Ginge es nach Psychologen und Heilpädagoginnen, erhielte je­de Form der Behinderung ihre eigene Beschulung. Im Kanton Basel-Stadt erreichen die Kleinklassen ihre grösste Ausdehnung in den 1990er Jahren.

Ein neues Paradigma

Die Klimax ist auch der Kipppunkt. Um 2000 kündigt sich wieder ein Paradigmenwechsel an. Nun propagieren Pädagoginnen und Psychologen den integrativen Unterricht: Alle Kinder sollen so lange wie möglich in der gleichen Klasse bleiben, damit die leistungsmässig schwächeren von den stärkeren profitieren und umgekehrt – die Koedukation fördere die kognitive und so­zia­le Entwicklung aller Kinder. Schon 1996 hat der Kanton Zü­rich ein Leitbild verabschiedet, wonach alle Kinder und Jugendlichen in Kinder­garten und Schule gemeinsam an Bildung und Erziehung teilhaben sollen. Carlo Wolfisberg sieht einen Grund für diese Entwicklung darin, dass der stigmatisierende Charakter der «Tubeli­schulen», wie sie genannt wurden, nicht länger zu übersehen war.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Schu­len schweizweit verpflichtet, die Schüler der Klein- und Sonderklassen in die Regelklassen zu integrieren. Die pädagogischen Wissenschaften sind sich einig: Kleinklassen gehören ab­geschafft. Neue Schulgesetze legen dies fest. Sie stützen sich auf das Gleichstellungsgesetz für Behinderte von 2004 und das Übereinkommen der Uno über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2008.

Wer Mühe mit dem Stoff hat oder mit «unerwünschtem Verhalten» auffällt, geht nun in den Nachhilfeunterricht, in die Logopädie oder Psychomotorik oder wird im Schulzimmer von der Heilpädagogin betreut. Mitte der 2010er Jahre profitieren im Kanton Zürich fast 40 Prozent aller Schulkinder von einer solchen Massnahme, wobei die grosse Mehrheit aus migrantischen und ökonomisch schwachen Verhältnissen kommt. Ob die Sonderbehandlung inner- oder ausserhalb der Volksschule erfolgt: Betroffen sind stets Randgruppen und Minderheiten. Diese Konstante überdauert seit dem 19. Jahrhundert alle Paradigmenwechsel.

Die Kleinklassen haben ihre Schülerinnen und Schüler als dumm etikettiert, und zwar le­bens­läng­lich. Die Ausgegliederten wurden zu Outsidern und fanden kaum mehr eine Lehrstelle. Darauf spielt die Berner Hip-Hop-Formation Chlyklass an, die sich in provozierender Absicht so getauft hat.

Belastung und Burnout

Doch die Kleinklassen sind nicht Geschichte. Das Thema wird schweizweit kontrovers diskutiert. Diesen Sommer gab ein Po­si­tions­papier der FDP zu reden, laut dem die Volks­schule «an den Anschlag» gerate und die integrative Schule die Ziele nicht erreiche. Seit 2023 fordern in den Kantonen Aargau, Basel-Stadt und Bern Politiker, Lehrerinnen und auch Eltern die Wieder­einführung von Kleinklassen und Sonderschulen. Sie erklären, die schwierigen Schüler seien eine kaum zu bewältigende Belastung für die Regelklassen. Die Lehrerinnen stünden vor dem Burnout, und die Mehrzahl der Schulkinder werde am Lernerfolg gehindert. Kurz: Die schwierigen Kinder würden die Schule krank machen.

Heilpädagoginnen und Erziehungswissenschafter widersprechen: Die Forschung belege, dass der integrative Unterricht allen Schulkindern zugutekomme. Eine bestimmte Gruppe auszusondern, sei willkürlich. Der Ausgang der Auseinandersetzung ist offen. So schnell wird sie nicht enden.

Ein Artikel aus der «»

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