Gemäss den Befürwortern erhöht der Ausbau der Nationalstrassen die Sicherheit. Doch so einfach ist es nicht.
Im Abstimmungskampf über den Autobahnausbau spielt das Argument eine wichtige Rolle. Die Befürworter sagen, die Beseitigung von Engpässen erhöhe die Sicherheit auf den Autobahnen und auf dem nachgelagerten Strassennetz. «Wir haben viel zu viele Unfälle», sagt Jürg Röthlisberger, der Direktor des Bundesamts für Strassen (Astra), in einem Interview mit der NZZ. Im ersten Halbjahr habe sich die Zahl der Todesopfer auf Autobahnen gegenüber 2020 und 2021 verdoppelt. Bei den Schwerverletzten sehe es ähnlich aus. «Das kommt nicht von ungefähr.»
Dabei gelten die Nationalstrassen als die sichersten Strassen. Sie machen zwar nur etwa 3 Prozent des Netzes aus, aber die Verkehrsteilnehmer legen auf diesen rund 45 Prozent der Fahrzeugkilometer zurück. Dennoch kommt es auf dem nachgelagerten Netz ungleich häufiger zu schweren Unfällen. Zudem ist die Zahl der getöteten oder schwer verletzten Personen auf Schweizer Strassen seit den 1970er Jahren generell zurückgegangen, obwohl der Verkehr stark zugenommen hat. Das schreibt das Bundesamt für Statistik. Es führt dies auf technische, rechtliche und erzieherische Gründe zurück.
Ist es auf den Autobahnen also zu einer Trendwende gekommen? Dramatisch ist die Entwicklung bei den schweren Unfällen in den letzten zwei Jahren nicht, wie die Zahlen des Astra zeigen. Im Jahr 2023 wurden auf Schweizer Autobahnen 28 Menschen getötet, so viele wie im Vorjahr. Bei den Schwerverletzten war ein Anstieg von 231 auf 239 Fälle zu verzeichnen. Der Astra-Direktor Röthlisberger dürfte vor allem wegen der Halbjahresstatistik erschrocken sein, die sein Amt Ende August veröffentlicht hat. Vom Januar bis im Juni verdoppelte sich die Zahl der Getöteten im Vergleich zu den Jahren 2020 und 2021 auf 14.
Die Jahre 2020 und 2021 sind jedoch ein Sonderfall, da während der Corona-Pandemie weniger Autos unterwegs waren. Die Zahl der Fahrzeugkilometer ging im Jahr 2020 um rund 18 Prozent zurück. Auch im Jahr 2021 war die Fahrleistung immer noch rund 11 Prozent tiefer als vor der Pandemie 2019. Weniger Verkehr führt auch zu weniger Unfällen.
Höheres Unfallrisiko trotz sichereren Autos
Ist nun von den Corona-Jahren abgesehen tatsächlich eine Trendwende zu beobachten? Ab den 1970er Jahren bis etwa Mitte der 2010er Jahre seien die Unfallzahlen deutlich zurückgegangen, sagt der Astra-Sprecher Thomas Rohrbach. Das gelte für die Autobahnen wie für das gesamte Strassennetz. Seit dem Jahr 2015 stagnierten die Zahlen aber gerade bei den Autobahnen.
«Ein Grund ist das hohe Verkehrsaufkommen», sagt Rohrbach. Die Folge seien labile Strassenverhältnisse, Ausweichverkehr, Stau und stockender Verkehr. Dadurch steige das Unfallrisiko nicht nur auf der Autobahn, sondern auch auf dem nachgelagerten Netz. So würden die positiven Effekte von immer sichereren Fahrzeugen und einer modernen Strasseninfrastruktur kompensiert.
Tatsächlich steigt die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten seit 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie – allerdings stärker auf den nachgelagerten Strassen als auf den Autobahnen. Die punktuellen Ausbauten haben auch zum Ziel, das Netz wieder verlässlicher und sicherer zu machen. Wenn Automobilisten und Lastwagenfahrer auf den Nationalstrassen bleiben, ist die Sicherheit grösser. Die Überlastung der Autobahnen erhöhe die Unfallzahlen, teilte der Schweizerische Verkehrssicherheitsrat am Dienstag mit. «Insbesondere ein Anstieg des Ausweichverkehrs auf Kantons- und Gemeindestrassen verschlechtert die Sicherheit erheblich.»
Spurerweiterungen kritisch bewertet
Einige der sechs Ausbauten, über die das Stimmvolk am 24. November entscheidet, bringen einen markanten Sicherheitsgewinn. Das gilt etwa für den Fäsenstaubtunnel in Schaffhausen, wo der Verkehr dank einer zweiten Röhre neu richtungsgetrennt geführt wird. Als sehr gut bewertet ein externer Bericht zuhanden des Astra vom Dezember 2022 zudem die dritte Röhre des Rosenbergtunnels in St. Gallen mit dem Zubringer beim Güterbahnhof. Auffallend ist jedoch, dass der Bericht bei einzelnen der sechs Projekte von leicht negativen Auswirkungen auf die Sicherheit ausgeht, namentlich für die Spurerweiterungen zwischen Schönbühl und Kirchberg sowie Bern-Wankdorf und Schönbühl. Insbesondere auf dem letztgenannten Abschnitt kommt es häufig zu Unfällen.
Das Astra bezeichnet die verwendeten Bewertungsmodelle als stark vereinfacht. Mehrere Aspekte des Sicherheitsgewinns würden nicht berücksichtigt, sagt der Sprecher Rohrbach. Das gelte etwa für die Rückverlagerung des Ausweichverkehrs auf die Nationalstrassen. Mit jedem Auto mehr, das wieder die funktionierende Autobahn nutze, sinke auf dem nachgelagerten Strassennetz die Unfallwahrscheinlichkeit. Staus auf der Autobahn würden zudem häufiger zu Auffahrunfällen führen. Diese gehören zu den häufigsten Unfallursachen auf Nationalstrassen. Gemäss dem Astra bewirken sämtliche sechs Projekte einen Sicherheitsgewinn, wenn man alle Faktoren betrachtet.
Die sechs Ausbauten bringen eine punktuelle Entlastung. Der Bundesrat dämpft in seiner Botschaft zum Ausbauschritt 2023 selber die Erwartungen. Die Zahl der Unfälle werde zwar vermindert, weil mehr Verkehr auf den sicheren Autobahnen abgewickelt und die Zahl der Auffahrunfälle bei Staus reduziert werde. Doch die positiven Effekte würden durch den entstehenden Mehrverkehr gedämpft.