Sonntag, Dezember 1

Das bewegte Leben der Zürcher Pazifistin Clara Ragaz – und die Widersprüche, die es zusammenhielt.

Wenige Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs schreibt eine Zürcher Pfarrersfrau einen Brief an ihren Mann. Es ist kein gewöhnlicher Brief.

«Uns geht es hier anständig», heisst es darin. «Nur mit dem ins Bett gehen hapert es immer.» Dann, nur einen Satz später: «Gestern musste ich einen Vortrag des Genossen S. über mich ergehen lassen im sozialistischen Abstinentenbund. Am Nachmittag war’s dann dafür fein. Ich half Trotzki ein Manifest (. . .) verdeutschen.»

Erst Familienalltag, dann ein nerviger Sozialist und am Schluss Übersetzungshilfe für Leo Trotzki, den späteren Anführer der kommunistischen Revolution in Russland: Das ist damals der Alltag von Clara Ragaz, einer Frau mit radikalen Ansichten und beinahe bürgerlichem Familienleben.

In ihren Briefen geht es um Hemdkragen und Weltkriege, Urlaubsfragen und Pazifismus. Ragaz – Bürgertochter, Pfarrersfrau, Mutter – ist auch Lehrerin, Sozialarbeiterin und Feministin.

Zu den Männern in ihrem Leben hat sie ein zwiespältiges Verhältnis. Sie sind ihr nahe und, in einem Land ohne Frauenstimmrecht, ihr Weg, um Einfluss zu üben. Aber sie überstrahlen sie auch, reduzieren sie in den Augen ihrer Zeitgenossen zum Anhängsel – allen voran ihres Mannes, des bekannten Theologen Leonhard Ragaz.

Pfarrersfrau im Alltagsgrau

Clara Ragaz, die vor 150 Jahren geboren wurde, erhält in diesem Jahr eine späte Ehrung. Erst kürzlich hat die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) eine Gedenktafel für sie eingeweiht.

Ragaz kommt 1874 in Chur zur Welt, als Tochter eines Gerichtsschreibers und einer Hausfrau. Früh liest sie «Die Waffen nieder!», das Buch einer österreichischen Pazifistin, und kommt über ihre Gotte – Gründerin eines Vereins für das Frauenstimmrecht – mit den Ausläufern der beginnenden Frauenbewegung in Berührung.

Sie lässt sich – untypisch für eine junge Frau ihrer Herkunft – zur Lehrerin ausbilden und lernt bei der Arbeit einen Pfarrer kennen: Leonhard Ragaz. Während sieben Jahren wirbt er um sie, aber sie weist ihn ab. «Um Ihnen das zu sein, was Sie von einer Frau verlangen müssen und dürfen, müsste ich eine ganz andere werden», schreibt sie. «Und ob ich das könnte? Ich wage nicht Ihr und mein Glück aufs Spiel zu setzen, um die Frage zu entscheiden.»

Irgendwann – warum genau, ist unklar – gibt sie nach. 1901 heiraten die beiden und ziehen kurz darauf nach Basel, wo er einer Kirchgemeinde vorsteht. Ragaz’ Zeit als Pfarrersfrau beginnt. Viele Pflichten, immer in der zweiten Reihe, die Geburt ihrer zwei Kinder.

In einem Gedicht von damals gibt sie ihre Stimmung so wieder: «Ringsum, wohin ich schau, / Bleiernes Wintergrau. (. . .) Labender Morgentau, Goldener Sonnenstrahl, / Wo seid ihr hin zumal? (. . .) Frost täte nicht so weh, / Wie dieses Alltagsgrau, / Ringsum, wohin ich schau.»

Lenin – eine «Katastrophe»

Dann die Befreiung: Claras Mann wird als Professor nach Zürich berufen – und sie hat plötzlich Zeit für soziale Projekte. 1921 gibt er seine Stellung auf, aus Protest gegen die «verbürgerlichte Kirche» – und um sich mit ihr der Gassenarbeit zu widmen. Ein finanziell folgenschwerer Entscheid, den die beiden zusammen treffen.

Sie ziehen vom vornehmen Zürichberg ins Arbeiterquartier Aussersihl – damals ein Pulverfass. Streiks, Proteste, Revolutionäre aus dem In- und Ausland, aber auch Arbeitslosigkeit, Armut, Wirtschaftskrise: Zürich ist in der Zwischenkriegszeit ein sozialer Brennpunkt.

«Bei Nacht hier klingeln», steht heute noch an der Fassade von Ragaz’ Haus an der Gartenhofstrasse 6. Mittellose Heimarbeiterinnen, Prostituierte und Flüchtlinge suchen hier Unterstützung. Das Ehepaar Ragaz organisiert unentgeltliche Rechtshilfe, Vorlesungen, Konzerte, Sonntagsschule für Kinder und natürlich Gottesdienste.

Auch an der Schaffung der modernen Schweizer Sozialarbeit ist Ragaz beteiligt – als eine der ersten Dozentinnen an der 1920 gegründeten «Sozialen Frauenschule».

Politisch steht Clara Ragaz weit links. Als überzeugte Sozialistin tritt sie für eine radikale Umwälzung der Gesellschaft ein, wenn auch mit friedlichen Mitteln. Es bleibt eine offene Frage, wie ihr Pazifismus zum militanten Ansatz ihres Bekannten Trotzki passt.

Klar ist dagegen, was das Ehepaar Ragaz von dessen Mitrevolutionär Lenin hält. «Sein Sozialismus ist durch und durch Militarismus», schreibt Leonhard 1919. «Er ist der grösste Vertreter des Hass-Sozialismus.» Lenins Anhänger nennt er «Verblendete», dessen Ideologie «den Weg zu einer neuen Katastrophe».

Für Sittlichkeit und Sozialismus

Statt für das nebulöse Ziel einer Revolution engagiert sich Clara Ragaz zeitlebens für Konkretes: die Rechte von Heimarbeiterinnen, Abstinenz von Alkohol, das Verbot von Prostitution – und das Frauenstimmrecht.

Die Frauen, so Ragaz, müssten sich von der Vorstellung befreien, «die Welt, wie sie die Männer für uns und für sich eingerichtet haben, sei die einzige zu Recht bestehende».

In Vorträgen und Publikationen prangert sie das «Untertanenbewusstsein» der Frauen an, wie auch ihre «ökonomische und rechtliche Abhängigkeit» von den Männern. Prostitution sieht sie als etwas Frauenfeindliches und Unmoralisches – «besseres Recht», hofft sie, werde auch zu «besserer Sittlichkeit» führen.

Mehr Rechte, mehr Bildung und mehr – in diesem Fall religiöse – Moral sollen aus Arbeiterinnen und Arbeitern bessere Menschen machen: Das ist die Leitschnur der sozial-religiösen Bewegung, die das Ehepaar Ragaz verkörpert. Die Überzeugung dahinter ist: Soziale Not ist Ausdruck struktureller Benachteiligung – der Ausweg daraus braucht aber Willen und individuelle Anstrengung.

Sie selbst drückt es einmal so aus: «Wir müssen Gott bei unserer Rettung behilflich sein.»

Erfolglos für den Frieden

Neben ihrem Glauben teilt Ragaz auch andere Überzeugungen, die spätere Generationen von Frauenrechtlerinnen vehement ablehnen werden. So glaubt sie fest an natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Frauen, so Ragaz, müssten auch deshalb mehr zu sagen haben, weil «Sanftheit, Milde, Hingebung» zu ihrem Wesen gehörten – während Männer eher Krieg und Konflikten zugeneigt seien.

Diese Überzeugung steht auch hinter ihrem längsten und hartnäckigsten – aber auch erfolglosesten – Engagement: jenem für Frieden und Abrüstung in Europa. Ragaz versteht sich zeitlebens als Pazifistin, ist in der europäischen Friedensbewegung aktiv.

1919 organisiert sie in Zürich einen Frauenfriedenskongress, zu dem Aktivistinnen aus ganz Europa anreisen. Die dort formulierten Appelle bleiben, wie auch jene zum Frauenstimmrecht, ungehört.

Ragaz will das lange nicht wahrhaben, selbst als der Faschismus sich in Europa auszubreiten beginnt. Sie verlässt 1935 gar die Sozialdemokratische Partei (SP), weil diese aus ihrer Sicht zu stark für die militärische Landesverteidigung eintritt.

Im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges muss aber auch Ragaz eingestehen, dass Gewaltlosigkeit angesichts der totalitären Bedrohungen ihre Grenzen hat.

Das Münchner Abkommen von 1938 – heute das Sinnbild gescheiterter Appeasement-Politik gegenüber Adolf Hitler – nennt sie einen «Scheinfrieden».

«Mut und Unerschütterlichkeit»

Ragaz stirbt 1957, zwölf Jahre nach dem Sieg über Nazi-Deutschland und vierzehn Jahre vor der Einführung des Frauenstimmrechts. Laut der Historikerin Brigitte Studer gehört sie zu den «bedeutendsten Schweizer Pazifistinnen und Feministinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Die NZZ würdigt 1992 den «Mut und die Unerschütterlichkeit, mit denen Clara Ragaz für ihre Ideale eintrat».

Dennoch ist sie heute weitgehend vergessen. Ihr religiös geprägter Blick auf soziale und Geschlechterfragen ist aus der Mode geraten.

Selbst die Trotzki-Übersetzung, von der sie 1914 so stolz berichtete, wird heute jemand anderem zugeschrieben: ihrem Mann Leonhard.

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