Montag, September 30

Vor 20 Jahren starb Sigi Feigel. Er war alles in einem: Macher, Patriarch, überzeugter Jude und überzeugter Schweizer.

Sigi Feigel erzählte gern Geschichten über seinen Grossvater. Eine davon ging so: In der russischen Stadt, in der sein Ahne lebte, zogen Banden durch die Strassen, raubend, vergewaltigend, mordend. Jüdinnen und Juden waren beliebte Opfer.

Wenn das geschah, nahm Feigels Grossvater jeweils seinen schweren Schmiedehammer und stellte sich in die Tür. Er schrie: «Wer hier herein will, dem schlage ich den Schädel ein.» Keiner trat über die Schwelle.

Sigi Feigels Todestag jährte sich diese Woche zum zwanzigsten Mal. Feigel, der wohl bekannteste Präsident der Israelischen Cultusgemeinde Zürich, hatte sich einst das Ziel gesetzt, den Verein gegenüber der nichtjüdischen Welt zu öffnen. Als er im August 2004 im Alter von 83 Jahren starb, sprachen Bundesräte und Stadtpräsidenten an seiner Abdankung. Die Stadt Zürich benannte 2007 einen beliebten Aufenthaltsort an der Sihl nach ihm.

Von jedem Bundesrat die Telefonnummer

Feigel war zu Lebzeiten einer der bekanntesten Schweizer Juden. Aber er war kein hammerschwingender Schmied. Dafür war er zu sehr Schweizer. Einer, der Kompromisse zustande brachte. Der sich hemdsärmlig, ja bäurisch ausdrückte. Der es mit jedem konnte. Und von jedem Bundesrat die Telefonnummer hatte.

Der Sohn russischer Emigranten kannte die städtische und die ländliche Schweiz, weil er in Hergiswil, Kanton Nidwalden, aufgewachsen war. Er studierte Jura im Zürich der dreissiger Jahre, heiratete und stieg in die Textilfirma der Familie seiner Frau Eva Heim ein.

Erst kurz vor dem Pensionsalter sattelte er nochmals um und machte mit 62 Jahren das Anwaltspatent. Er sei der Älteste im Raum gewesen, witzelte er gerne, inklusive Examinatoren. Religiös war Feigel nicht, er ass Schweinefleisch und fuhr am Samstag Auto.

Ronnie Bernheim lernte Sigi Feigel Anfang der 1970er Jahre kennen. Bernheim kehrte damals von einem Studienaufenthalt aus Südamerika zurück nach Zürich. In Argentinien und Brasilien waren ihm die Aufmärsche der Militärdiktatur mit zum Teil antisemitischem Unterton in die Knochen gefahren. Als Jugendlicher in Zürich hatte er keinen Antisemitismus erlebt, aber jetzt wollte er wissen, ob dessen Wiedererstarken auch in der Schweiz denkbar wäre.

Mit dieser Frage wurde er beim Präsidenten der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich vorstellig.

«Du kommst grad recht», habe Feigel zu ihm gesagt und eine soeben erschienene antisemitische Schweizer Hetzschrift auf den Tisch geknallt. «Da müssen wir etwas machen.»

Die beiden stellten den Drucker der Hetzschrift zur Rede: ob er wisse, was er da drucke. Das Magazin wurde eingestellt.

Dreissig Jahre lang blieb Bernheim Feigels rechte Hand. Sie hätten sich nicht nur für Juden, sondern für alle Minderheiten eingesetzt – etwa nicht nur für jüdische, sondern auch für muslimische Friedhöfe.

Damals sei noch anders über Migration und Minderheiten gesprochen worden als heute, sagt Bernheim. Und Feigel war ein gefragter Gesprächspartner, der nie Nein sagte, wenn ihn Journalisten anriefen.

Die Medienpräsenz war seine Macht. Denn ein politisches Amt hatte er nicht. Nachdem er das Präsidium der Israelitischen Cultusgemeinde abgegeben hatte, machte er einfach in der Funktion des Ehrenpräsidenten weiter.

Bernheim erzählt: «Er sagte oft, er habe eine Marktlücke gefunden. Oder einfach: ‹Du, ich bin einfach vernünftig.›»

Feigel scharte engagierte Persönlichkeiten um sich und baute zahlreiche gemeinnützige Stiftungen gegen Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus auf, die ihn überdauerten. Bernheim wirkt weiterhin in allen Stiftungen im Sinne von Sigi Feigels Grundsätzen.

Bernheim erzählt, Feigel sei auch ein Patriarch gewesen. Er schildert eine lange Diskussion in einer der Stiftungen – an das Thema erinnert er sich nicht mehr –, als es um eine gemeinsame Haltung ging. Es gab eine Grundsatzabstimmung. Das Resultat: Alle waren sich einig, bis auf Feigel.

Zwei Tage später breitete dieser im «Tages-Anzeiger» seine Meinung aus. Er habe Feigel zur Rede gestellt, erinnert sich Bernheim. Der habe geantwortet: «Weisst du, ihr habt das nicht so ganz verstanden.»

Das habe manche gestört, sagt Bernheim. «Aber ich stand immer zu ihm, weil er im Nachhinein betrachtet oft recht gehabt hat.»

In den neunziger Jahren geriet die Schweiz wegen des Umgangs mit nachrichtenlosen Vermögen in die Kritik. Juden auf der Flucht vor nationalsozialistischen Häschern hatten ihre Vermögen Schweizer Banken anvertraut. Ihren Nachkommen begegneten die Banken mit kühler Abweisung. Sie ignorierten das Problem – bis die Schweiz zum Feindbild angelsächsischer Medien wurde.

Feigel hatte als Anwalt geprellte Angehörige beraten und stand für sie ein. Als aber der jüdische Weltkongress mit kategorischen Forderungen auftrat, stellte er sich gegen dessen Repräsentanten.

Jetzt war er der Schweizer, der seine Heimat verteidigte.

Er tat dies aus Patriotismus. Aber nicht nur: Vielmehr ahnte er, dass Ressentiments auf die Schweizer Juden zurückfallen könnten, sobald die internationale Medienkarawane weitergezogen sein würde.

Als seinen grössten Erfolg bezeichnete Feigel, dass das Schweizervolk in den neunziger Jahren die Rassismusstrafnorm ins Gesetz aufnahm. Vor dem Abstimmungskampf überzeugte er persönlich das SVP-Schwergewicht Christoph Blocher, die Strafnorm nicht aktiv zu bekämpfen.

Vom Um-den-Finger-Wickeln könne aber keine Rede sein, sagt Bernheim. Blocher und Feigel hätten sich vielmehr gegenseitig respektiert. «Die beiden waren sich in vielem ähnlich: intelligente Alphatiere, überzeugte Macher, Patriarchen.»

Feigel habe Blocher dargelegt, dass das Gesetz nicht zu einer Klagewelle führen, sondern eine Art Auffangnetz für schlimme Ausreisser sein werde. Das habe sich auch bewahrheitet, wenn man sich heute die gefällten Urteile anschaue. Auch wenn Blocher sein Stillhalten später bereut habe.

Feigel liebte seine Heimat. Und doch hatte der Mann, der vielen als Fels in der Brandung galt, bis zum Schluss Zweifel, ob er in der Schweiz wirklich akzeptiert sei.

Die Journalistin Klara Obermüller hat mit Sigi Feigel sechs Jahre vor seinem Tod ein Buch veröffentlicht. Es ist ein langes Gespräch mit ihm. «Schweizer auf Bewährung» heisst es. Den Titel hat er gewählt.

Er erzählt darin, wie die Gemeinde Hergiswil seinen Vater nur habe einbürgern wollen, wenn er sich als konfessionslos bezeichne. Oder wie sein bester Freund aus der Kantonsschule mit ihm gebrochen habe, und zwar mit den Worten: «Jetzt will ich politische Karriere machen und kann mir einen Juden als Freund nicht leisten.»

Der Freund wurde später Regierungsrat.

Am Ende des Buches sind Zuschriften an Feigel abgedruckt. Manche sind wohlwollend. Viele triefen vor Judenhass. Obermüller sagt: «Er hat oft gesagt, die positiven Zuschriften würden überwiegen. Aber ich bin nicht sicher, ob das stimmt.»

Obermüller erzählt, wie unangenehm es für Feigel war, wenn er als Redner an einer 1.-August-Rede auftrat und dies schwitzend unter einer kugelsicheren Weste tun musste. Und sie erinnert sich an ein Treffen bei ihm daheim, bei dem auch die Zürcher Stadträtin Ursula Koch anwesend war. Beim Apéritif ging eine Bombendrohung ein. Sie stellte sich als falsch heraus. Der Anrufer hatte Feigel aus dem Haus locken und überfallen wollen, so die Vermutung der Polizei.

Der Mörder vor dem Büro

Einmal wäre er um ein Haar Opfer eines Mordanschlags geworden. Im August 1999 rammte ein Bäcker aus dem Kanton Schaffhausen einem Kippa tragenden Touristen aus Israel ein Teigmesser mit 23 Zentimeter langer Klinge in den Rücken. Der Mann überlebte schwer verletzt.

Ein psychiatrisches Gutachten ergab später, dass der Täter im Wahn gehandelt hatte und sich von Schweizer Juden verfolgt fühlte. Er hatte Sigi Feigel vor seinem Büro aufgelauert. Als der nicht vor die Türe trat, suchte er sich spontan ein anderes Opfer.

«Viele hätten sich zurückgezogen. Er nicht», sagt Obermüller. «Er hatte Zivilcourage.»

Auch heute gibt es Juden, die in der Öffentlichkeit hinstehen und sich wehren. Die Präsenz von Sigi Feigel erreichen sie aber nicht. Die historische Konstellation, seine Geschichte und seine Persönlichkeit machen die Figur Feigel einmalig.

Was würde er heute sagen, da nach dem 7. Oktober Angriffe auf Jüdinnen und Juden auch in Zürich sprunghaft zugenommen haben?

Ronnie Bernheim sagt: «Er würde die Hamas ganz klar verurteilen und aufzeigen, dass sie Israel ungeändert zerstören will. In den Schweizer Medien passiert diese Verurteilung insgesamt leider zu wenig. Er würde für die Sicherheit Israels einstehen, aber auch Benjamin Netanyahu, seine extremistischen Minister und die Siedlungspolitik kritisieren und legitime palästinensische Belange darlegen.»

Klara Obermüller erzählt, Feigel habe immer betont, dass er als Schweizer nicht für die israelische Politik verantwortlich sei – eigentlich eine Banalität. «Aber er würde tierisch leiden, an Israel und der Situation für die Juden in aller Welt. Und er würde seine Stimme erheben. Er fehlt heute.»

Die Geschichte des Grossvaters, der mit dem Hammer im Türrahmen stand, war für Feigel wegweisend. Im Buch schreibt er dazu: «Es ging mir immer am besten, wenn ich mich wehrte. Ich fühlte mich befreit. Und ich fand bei einigen wenigen immer auch Zustimmung und Hilfe.»

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