Paläogenetische Untersuchungen sind in der Archäologie gerade sehr gefragt. Aber aus alten Knochen DNA zu gewinnen, ist kompliziert. Die Schauplätze: eine geheime Höhle voller Dreck und der vielleicht sauberste Ort der Welt.
Langsam hangeln wir uns an einer wackeligen Leiter hinab ins dunkle Loch. Ein paar trockene Blätter segeln neben uns nach unten. Für viel mehr wäre auch gar kein Platz im engen Schacht. Fast rutschen wir aus, als die Füsse den unebenen, lehmigen Boden berühren. Gebückt tasten wir uns im schlappen Schein der Stirnlampen nach unten in die Höhle hinein. Nach wenigen Metern abwärts, öffnet sich der Gang zu einer Art Kapelle. Von hier gehen diverse Spalten ab, selbst im Watschelgang käme niemand weiter.
«Vorsicht», ruft Timo Seregély, Archäologe mit dem Schwerpunkt Prähistorie an der Universität Bamberg und Leiter unseres dreiköpfigen Grabungsteams, von hinten, «links liegt ein unversehrter Schweineschädel. Den brauchen wir noch.» Wir stoppen abrupt. Als der Akkuscheinwerfer angeht, grinst zehn Zentimeter neben uns der besagte Schädel, überzogen mit einer gelblichen Sinterschicht.
Seregély und seine Mitarbeiterin, die Geografiestudentin Mira Weller, haben bei früheren Ausgrabungen in dieser Höhle bereits Arm- und Beinknochen eines Mannes geborgen, der in Hockerstellung lag. Das könnte eine Form der Bestattung gewesen sein, wie Seregély vermutet, vor ungefähr 3000 Jahren. Nun suchen sie nach den Fussknochen. Daraus soll das Erbgut des Toten isoliert werden.
Genetische Untersuchungen an Menschen- und Tierknochen sind seit einiger Zeit eine der wichtigsten Errungenschaften in der modernen Archäologie. Und sie sind ein Beispiel für die äusserst fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Feldforschung und Laborwissenschaften. Die DNA kann eine Vielzahl von Informationen liefern, die nicht an Fundobjekten ablesbar sind: Augenfarbe, Krankheiten, ethnische oder geografische Herkunft, Stammbaum der Menschheit und Migrationsbewegungen.
Warum liegen die Toten in der Höhle?
Wir sind nun also einige Meter unter der Erde auf der Suche nach solchen alten Knochen. Die Höhle liegt in Franken in Bayern; wo genau, das ist geheim. «Das sind wichtige Fundstätten, wir wollen nicht, dass da Höhlentouristen oder Raubgräber eindringen und Knochen stehlen oder deren Anordnung zerstören», erklärt Seregély.
Pling, pling. Wasser tropft auf den Helm, ein Handschuh reisst beim Abstützen auf der rauen Wand auf. Mira Weller hockt sich vor einen sofakissengrossen Steinbrocken in einer Nische in der Nähe des Eingangsschachts, unter dem Seregély die gesuchten Fussknochen vermutet. Die zweite Ausgräberin liegt auf der linken Seite, Ellbogen und Füsse an Boden und Wände gestützt, nur die rechte Hand bleibt zum Hantieren. Die nächsten Stunden graben wir mit Löffeln und kleinen Spachteln den Stein frei. Ab und zu finden wir Stückchen von verkohltem Holz. Das könnten Reste von menschengemachten Feuern sein, erklärt die Studentin.
Warum nur sind vor Tausenden von Jahren Menschen hier in diese enge, feuchte, völlig dunkle Höhle geklettert? Suchten sie Zuflucht vor einem Gewitter? Wollten sie vielleicht Tote bestatten? Eine Wohnhöhle war es nicht, dazu fehlen die passenden Objekte. Und es war sicher auch damals schon reichlich unbequem. Warum also? Auch nach hundert Jahren Forschung können Archäologen diese Frage nicht beantworten. Mithilfe der DNA aus den Knochen könnte es jetzt gelingen.
Svante Pääbo begründet die Paläogenetik
Archäologen stützen ihre Interpretationen auf die materiellen Hinterlassenschaften der Menschen aus der Vergangenheit. Die Zusammenarbeit mit Genetikern aber hat schon mehrfach vermeintlich gesicherte Erkenntnisse über den Haufen geworfen.
Da ist zum Beispiel die Sache mit den Neandertalern – damit fing alles an. Seit der schwedische Forscher Svante Pääbo und sein Team Mitte der 1990er Jahre erstmals DNA aus Knochen von Neandertalern entschlüsselt haben, hat sich die Erforschung der alten DNA, abgekürzt aDNA, rasant weiterentwickelt.
Pääbo war zuerst nur ein belächelter Spinner. Kaum ein Kollege glaubte, dass man aus alter DNA, die Jahrtausende in feuchter Erde, umgeben von Bakterien vor sich hin verrottete, wirklich aussagekräftige Informationen gewinnen konnte. Doch er schaffte dieses Kunststück – und wurde zum bewunderten Begründer der sogenannten Paläogenetik, die die Vergangenheit anhand von Erbgutschnipseln erforscht. 2022 erhielt Pääbo den Nobelpreis.
Er fand als Erster heraus, dass sich Neandertaler und Homo sapiens vermischt haben. Ein Team von der Princeton University hat kürzlich gezeigt, dass die Kontakte zwischen den beiden Menschenarten über 200 000 Jahre hinweg andauerten. Die Folgen tragen heutige Europäer in Form von bis zu zwei Prozent Neandertaler-DNA in sich. So stammen zum Beispiel die Gene für rote Haare oder jene, die manche von uns zu Frühaufstehern machen, von den Neandertalern.
Die ersten Bauern in Mitteleuropa kamen aus Westanatolien
Eine andere Erkenntnis, die nur durch Paläogenetik möglich war, betrifft die Herkunft der ersten Bauern in Mitteleuropa. Archäologen waren jahrzehntelang davon ausgegangen, dass sich vor etwa 7000 Jahren die umherziehenden Jäger und Sammler zu sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern entwickelt hatten. Dann zeigte im Jahr 2009 eine aDNA-Untersuchung von Knochen der ersten Bauern aus ganz Europa: Sie waren Einwanderer aus Westanatolien und der Ägäis, die innerhalb von 150 Jahren die zuvor hier lebenden Menschen verdrängten.
Die Einwanderer kamen mit «Frauen, Kindern und Sack», wobei der Sack für domestizierte Tiere und Pflanzen steht. So drückt Joachim Burger das aus, der für die Studie verantwortlich war. Burger leitet die Arbeitsgruppe Paläogenetik und Anthropologie am Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie der Universität Mainz. Und er hat neue Fragen. Sie sind kleinteiliger als die nach der Herkunft der Menschen im Neolithikum: Sie beziehen sich auf die Toten in der Höhle in Franken, in der Timo Seregély gräbt.
Burger will wissen, warum ein paar Menschen in der Höhle und nicht wie alle anderen ausserhalb bestattet wurden: War es das Grab einer bestimmten Familie? Oder eines für Kranke und Aussätzige oder für Fremde, die im Ort kein Familiengrab hatten? Einige der Skelette stammen auch aus einer Zeit, in der die Toten standardmässig verbrannt wurden, weshalb DNA-Analysen unmöglich sind – die Knochen aus den Höhlen sind eine einmalige Chance.
Der älteste Knochen, den Seregély und sein Team aus der Höhle je geborgen haben, ist zwischen 5800 und 6000 Jahre alt. Die aDNA-Analyse hat gezeigt: Das Individuum stammt aus Westanatolien, weist aber auch genetische Spuren von Menschen aus dem heutigen Sardinien auf. Seine Vorfahren könnten über mehrere Etappen und einen Zeitraum von 1000 bis 2000 Jahren von Westanatolien über den mediterranen Raum, die Iberische Halbinsel und Westeuropa in die Region Frankens gelangt sein.
Um solche Wanderbewegungen nachzuvollziehen, benötigen die Forscher DNA aus Knochen von mehreren Fundorten und unterschiedlichen Individuen. Seregély und sein Team haben schon mehrere Höhlen der Fränkischen Alb durchforstet und dort Knochen von mehr als dreissig Menschen und vierzig Tieren geborgen.
Die Knochen werden dann persönlich an das Team von Joachim Burger in Mainz übergeben. «Der Postweg ist zu riskant, das Paket könnte verlorengehen, oder die Knochen könnten beschädigt werden», sagt der Bamberger Forscher.
Der vielleicht reinste Ort der Welt: das Paläogenetiklabor
Das Labor ist aufgebaut wie ein Heiligtum. Vor jeder der vielen Türen, die hineinführen, muss man die nächsthöhere Stufe der Reinheit erreicht haben.
Die Frau, die in aller Freundlichkeit über dieses Heiligtum und seine Reinheit wacht und draussen auf uns wartet, heisst Laura Winkelbach und ist Paläogenetikerin.
Bevor wir zusammen die erste Tür durchschreiten dürfen, müssen wir morgens geduscht und frisch gewaschene Kleider angezogen haben. Im ersten Vorraum werden wir reiner, indem wir uns der Schuhe und Taschen entledigen. Nur die Tüte mit einer weiteren Garnitur ungetragener Kleidung darf hinter die nächste Tür. Dort, im zweiten Vorraum, ziehen wir uns um. An der Tür zum dritten Vorraum ist der Boden mit einer klebrigen Folie bedeckt, an der Haare und Fussel haften sollen. Mit einem Bein auf dieser Folie balancierend, ziehen wir ein zweites Paar frischer Socken über das erste.
Im dritten Vorraum ziehen wir sterile Einmalhandschuhe an und dann einen dieser weissen Schutzanzüge, die immer nach Ebola-Epidemie aussehen. Beim Hineinschlüpfen versuchen wir, den Anzug möglichst nicht von aussen anzufassen.
Wir werfen die Handschuhe weg und nehmen neue.
Wir setzen ein Haarnetz auf, eine chirurgische Maske, die Kapuze des Anzugs, einen Gesichtsschild und Fussüberzieher.
Wir werfen die Handschuhe weg und nehmen neue – drei Paar übereinander.
Dann gehen wir durch die nächste Tür.
Jetzt sind wir im Labor. Für jeden Schritt der DNA-Gewinnung gibt es hier einen eigenen Raum. Das Allerheiligste ist der Raum, in dem die DNA für die Vervielfältigung und anschliessende Sequenzierung vorbereitet wird. Er wird von zwei Türen beschützt. Hinter diesen Türen darf sich niemand bewegen, wenn hier gearbeitet wird – die verwirbelte Luft wäre nicht rein genug.
Kontaminierung der aDNA muss vermieden werden
Die strengen Regeln im Reinraumlabor für Paläogenetik an der Universität Mainz sollen verhindern, dass die DNA, die hier aus archäologischen Knochenfunden extrahiert wird, mit moderner DNA verunreinigt wird. Würde ein Hautschüppchen von Laura Winkelbach in das Laborgefäss mit den Überresten einer Frau aus dem Neolithikum fallen, wäre das Ergebnis der Analyse unbrauchbar: Die genetischen Merkmale liessen sich nicht mehr zuordnen.
Das Gleiche gilt für die Proben untereinander. Auf keinen Fall dürfen sie sich vermischen. Die Kontaminierung des Materials muss vermieden werden. Deshalb ist die Befolgung des Reinraumprotokolls absolut essenziell, und die meiste Zeit bei der DNA-Analyse verbringt Winkelbach mit Dekontaminierung, man könnte auch sagen: mit Putzen.
Das geschieht mit sehr viel Küchenpapier und einer Trias von Reinigungsmitteln, die auf alle Gegenstände gesprüht oder zum Abspülen verwendet werden: erst flüssige Seife (vom Hersteller von Laborbedarf), dann flüssige Bleiche (aus dem Drogeriemarkt, ist billiger) oder ein Mittel, dessen Name keine Zweifel hinsichtlich seiner Wirkung zulässt: DNA-Exitus.
Auch die Knochenprobe selbst muss dekontaminiert werden
Nicht nur die Arbeitsumgebung, auch die Probe selbst muss dekontaminiert werden. Winkelbach holt aus einem Schrank zwei Tütchen mit Knochenstücken hervor. Der Name der Höhle in Franken steht auf ihnen, welchem der dort gefundenen Individuen der Knochen zugeordnet wird und von welcher Position im Skelett er stammt, in diesem Fall vom Oberarm.
Wir gehen durch eine Tür, neben der auf einem Schildchen «Sägeraum» steht. In dem Raum befindet sich eine Arbeitsfläche, darüber eine Glasbox mit Abzug. Wie im gesamten Labor ist hier alles technisch und weiss, Schränke, Tische, Türen. Farbig sind nur die beiden bunt gemusterten Küchenbrettchen, die in der Box liegen und während des Sägens den Glasboden vor Kratzern durch scharfe Geräte schützen sollen. «Die sind von Tchibo», sagt Winkelbach.
Sie hat die Hände in der Glasbox, hält in der einen Hand in eine Pinzette eingeklemmt das erste Knochenstück, in der anderen eine kleine elektrische Rotationssäge. Nach und nach entfernt sie die braun gefärbte Oberfläche und das schwammartig strukturierte Material im Inneren eines Knochens. «Die sogenannte Spongiosa ist porös und kann deshalb besonders stark durch die ehemalige Umgebung kontaminiert sein», erklärt sie.
Das Gerät setzt sie immer wieder ab, denn bliebe es zu lange an einer Stelle, könnte die DNA durch die Reibungshitze beschädigt werden. Es staubt, und in der Luft liegt ein leicht süsslicher, leicht verbrannter Geruch. Das sei ein erfreuliches Zeichen, sagt Winkelbach: «Wenn der Knochen beim Sägen riecht, ist er gut erhalten und hart.» Am Ende schneidet sie ein etwa 1×1 cm grosses Stück heraus. Nur dieses Stück wird die nächsten Schritte durchlaufen, und nur aus ihm wird am Ende DNA extrahiert werden.
So funktioniert DNA-Extraktion
DNA aus alten Knochen zu gewinnen, ist ein langwieriger Prozess. Die grössten Erfolgsaussichten hat man beim Felsenbein aus dem Schädel, denn hier ist die Wahrscheinlichkeit gut erhaltener DNA am höchsten. Ist das Felsenbein nicht verfügbar, kommen Zähne in Betracht oder Fussknochen – sie sind durch das auf ihnen lastende Gewicht dichter als andere Knochen. Nur in Ausnahmefällen, bei seltenen und wichtigen Funden wie denen aus der fränkischen Höhle, probiert man es mit Bein- oder Armknochen.
Nach dem Sägen werden die Knochenstücke, verpackt in neue Tütchen, unter UV-Licht gelegt, um sie nochmals zu dekontaminieren. Winkelbach wendet sie dabei nach 45 Minuten, um beide Seiten zu bestrahlen. Anschliessend werden sie einzeln zermahlen, Knochen und Zellen werden chemisch zerstört, und die DNA wird schliesslich mithilfe eines Enzyms herausgelöst.
Alte DNA zu analysieren, das ist eine Herausforderung. Denn alte DNA gibt es in den Knochen nur noch in kleinen Schnipseln. Man kann das vergleichen mit Sätzen, die in viele kleine Stücke zerbrochen sind, auch mitten in den Wörtern. Aus den Bruchstücken müssen nun wieder komplette Sätze und in der Folge ein Text zusammengebastelt werden. Dafür sucht ein Computerprogramm überlappende Fragmente. Nur die Überlappung ermöglicht es, die Schnipsel korrekt aneinanderzusetzen.
Paläogenetik und aDNA können nicht alles beantworten
DNA-Untersuchungen in der Archäologie erregen mitunter einiges Aufsehen, gerade, wenn es um grosse Wanderbewegungen geht. Im vergangenen Jahr haben Paläogenetiker gezeigt, dass die Bevölkerung Europas vor 14 500 Jahren praktisch vollständig verschwand und durch eine einwandernde Gruppe ersetzt wurde. Aber warum das geschah, ob zum Beispiel die Neuankömmlinge besser an das sich verändernde Klima angepasst waren, das kann die DNA-Analyse nicht beantworten.
Ebenso wenig kann die Analyse alter DNA erklären, warum die Neandertaler ausstarben, Homo sapiens aber nicht. Die aDNA liefert auch nur wenig Hinweise darauf, ob eine Vermischung zwischen Gruppen, seien es die Neandertaler und die modernen Menschen oder auch die Einwanderer aus Anatolien, freiwillig ablief.
Man kann nur sagen: Wenn in einer Population das Y-Chromosom von Neuankömmlingen stammt, kamen vorwiegend männliche Einwanderer. Die haben sich dann mit den ortsansässigen Frauen vermischt. Sollte das gewalttätig geschehen sein, sollte es Kämpfe oder Massaker mit vielen Toten gegeben haben, lässt sich das unter Umständen archäologisch nachweisen.
«Man muss damit aufräumen, dass es mit der Paläogenetik jetzt eine Methode gibt, die alle historischen Fragen beantwortet», sagt denn auch Joachim Burger. «Genetisch Kelten, Römer und Germanen unterscheiden, das geht nicht. Manchmal mag die Antwort einfach sein, etwa bei der Frage nach Neandertaler oder Mensch, aber nicht bei komplexen historischen Verhältnissen der jüngeren Geschichte.»
Interessanter und nur durch aDNA zu klären seien oft sozialanthropologische Zusammenhänge: Gab es Sklaven? Wie war das Heiratssystem, polygam, monogam? In einer Studie ohne Beteiligung Burgers haben Wissenschafter kürzlich nachgewiesen, dass die frühen Kelten im heutigen Süddeutschland bereits Dynastien von Machthabern hatten – und die Zugehörigkeit über die mütterliche Linie definiert wurde. An den prunkvollen Gräbern konnten die Archäologen das nicht ablesen.
Falls die geheime Höhle in Franken ein Grab war, dann jedenfalls kein prunkvolles; ihre Funktion ist immer noch ungeklärt. Die Fussknochen haben wir bei der Expedition nicht gefunden. Einen menschlichen Schädel auch nicht.
Die Molekularbiologin Stephanie Lahrtz hat fröstelnd erlebt, wie unbequem und abenteuerlich Ausgrabungen sein können. Die studierte Archäologin Esther Widmann ärgert sich, beim Verbrauch von Einmalhandschuhen im Reinraumlabor nicht mitgezählt zu haben. Die Infografikerin Anja Lemcke war hocherfreut über die Nachhilfe in Biologie zu ihrem Lieblingsthema Frühmenschen.
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