Das Pfarramt werde in seiner heutigen Form bald aussterben. Das sagt ausgerechnet der Mann, der bald zum Nachfolger Zwinglis wird.
Wenn es etwas gibt, was Christian Walti kann, dann ist es reden. An diesem Nachmittag im September in einem Café im Zürcher Niederdorf tut er es zwei Stunden lang.
Er spricht über Erbarmen («bitte mehr davon») und die Menschen auf der Gasse, über Politik («Parteien sind nicht so meins») und genderneutrale Toiletten («kriegt man hin»), über Jesus und den Zürichsee («Heimat»). Dazu trinkt er Espresso – für mehr bleibt zwischen den Ausführungen ohnehin keine Zeit.
Der Pfarrer, der Totenkopf-Kekse bäckt
Walti wird per Februar 2025 Pfarrer am Grossmünster in Zürich. Derzeit ist er Pfarrer an der Friedenskirche in Bern. Dort hat er ein soziales Restaurant mitgegründet sowie das «Death Café» initiiert, das dem Thema Tod seinen Schrecken nehmen soll. In einem Dokumentarfilm von SRF sieht man ihn Totenkopf-Kekse backen und Menschen auf der Strasse die Füsse waschen.
Auf Letzteres angesprochen, verwirft Walti die Hände. «O Gott, bitte nicht diese Geschichte!» Eine Zeitlang sei es ihm vorgekommen, als habe die halbe Schweiz ihn abgespeichert als «diesen merkwürdigen Pfaffen, der anderen die Füsse wäscht». Er habe nach der Ausstrahlung des Films 2017 sogar Zuschriften von Fussfetischisten erhalten. Dabei sei es ihm um etwas völlig anderes gegangen: um eine Annäherung, die ein Stück weit die geltende Hierarchie umkehrt.
Diese Geste sei in Ländern wie Armenien oder Syrien ganz normal. «In der Schweiz ist das religiöse Feld aber anders besetzt. Wenn man hier als Vertreter der Kirche so eine Aktion macht, dann gilt man schnell als ‹cringe›.» Er mache sich heute mehr Gedanken darüber, wie etwas gegen aussen wirke, sagt Walti. Und fügt dann an: «Okay, vielleicht liege ich ab und zu ein wenig daneben. Damit kann ich gut leben.»
Überhaupt scheint Walti kein Problem damit zu haben, Aufmerksamkeit zu erregen. Er ist sehr aktiv in den sozialen Netzwerken und äussert sich auch zu politischen Fragen.
Als die Schweiz 2020 über die Konzernverantwortungsinitiative abstimmte, argumentierte er auf einem Podium für das Anliegen. Die Kirchen standen damals in der Kritik, weil viele Pfarrerinnen und Pfarrer, Gemeinden und Kantonalkirchen die Initiative unterstützten. Für Walti war das Engagement folgerichtig: «Die Kirchen haben ein starkes Bekenntnis zu den Menschenrechten – und darum ging es.»
Ist dagegen von sogenannten «christlichen Werten» die Rede, winkt Walti ab. Es sei nicht die Aufgabe der Kirchen, Christliches in die Öffentlichkeit einzubringen, sondern «Allgemeinmenschliches». Besonders vorsichtig sollten sie sich äussern, wenn es um eigene Interessen wie etwa die Kirchensteuer gehe.
«Ich hätte Mühe, für meinen Lohn einzustehen», sagt Walti. «Ich stehe aber gerne dafür ein, dass ich keinen Rappen für die Beerdigung eines Obdachlosen verlangen muss, weil es Steuerzahler gibt, die das übernehmen.»
Womit er sich doch recht klar zur Kirchensteuer geäussert hat.
Das ist typisch für ein Gespräch mit Walti: Er spricht eloquent, klug, auch witzig. Kontroverse Aussagen verpackt er geschickt, ohne dabei seine Ansichten zu verleugnen.
Man kann ihn sich gut an einem Stammtisch vorstellen, wie er mit Menschen am anderen Ende des theologischen oder politischen Spektrums diskutiert – und wie sie danach zusammen ein Bier trinken.
Dazu passt, dass der Co-Präsident der Freidenker-Vereinigung, Valentin Abgottspon, ihm auf Facebook zur neuen Stelle gratulierte.
Eine kleine Rebellion
Waltis Weg zum Pfarramt war nicht vorgezeichnet. Aufgewachsen ist er in Zollikon in einer gutbürgerlichen Familie. Zwar habe er als Jugendlicher stark nach Antworten auf Sinnfragen gesucht, doch die Religion habe dabei kaum eine Rolle gespielt.
Erst die Begegnung mit verschiedenen religiösen Menschen habe sein Befremden in Interesse verkehrt. Als er sich dann für Theologie einschrieb, war das für ihn fast so etwas wie eine Rebellion. «Auch wenn sie unterdessen stolz sind – damals hielten meine Eltern meinen Wunsch, Pfarrer zu werden, für eine Flause. Und je mehr sie das dachten, desto mehr wollte ich es.»
Heute ist Walti Pfarrer mit Leib und Seele. Weggefährten bezeichnen ihn als unprätentiösen Macher, der Projekte anreisst, ohne sie bis ins Letzte kontrollieren zu wollen. Er gilt als gut vernetzt und sozial engagiert.
Das hat auch die Kommission überzeugt, die Walti zur Wahl empfiehlt. «Imponiert hat uns zudem, wie er sich intellektuell mit der Theologie auseinandersetzt – und wie er gleichzeitig in der Lage ist, sie zu elementarisieren», sagt der Kommissionspräsident Konrad Schmid.
Der «Zwingli vom Dienst»
Waltis Frau, die ebenfalls Pfarrerin ist, und seine beiden Kinder bleiben vorerst in Bern wohnen. Er selbst kehrt zumindest Teilzeit zurück nach Zürich, wo er studiert und mehrere Jahre gelebt hat. Am Grossmünster wird der 42-Jährige Nachfolger von Huldrych Zwingli.
Es ist ein Job mit einer gewissen Strahlkraft, eine Art «Zwingli vom Dienst», wie er es nennt. Er wolle den Menschen Zugang zu einer höheren Macht ermöglichen – selbst wenn sie nicht christlich seien, sagt Walti. «Mir persönlich ist der Kontakt zu echten Menschen wichtiger als schöne Gebäude.»
Was so locker klingt, kann als Ausdruck eines sich wandelnden Verständnisses von Kirche und Pfarramt gelesen werden: weg von der Institution, von jahrhundertealten Strukturen und der Rolle des Pfarrers als Autoritätsperson. Walti sagt denn auch: «Das Pfarramt wird in der heutigen Form nicht mehr lange überleben.» Schon jetzt wollten viele Menschen zwar kirchliche Rituale, dabei aber explizit keine Gebete mehr.
Für ihn heisse das, neue Wege zu finden, um die christlichen Inhalte zu vermitteln. «Wenn ich eine Trauerfeier gestalte, finden die Menschen das meist berührend. Sie fragen sich aber auch: ‹Was macht dieser Clown da vorne?›» Er fühle sich wohl mit dieser Vorstellung. «Hauptsache, ich ermögliche ihnen, in Bewegung zu kommen. Das ist es, was Clowns ausmacht: Sie tun absurde Dinge, wie Tee über eine Glace zu giessen, und am Ende denkt man anders über die Welt.»
Es sind solche Sätze, die der Präsident der Pfarrwahlkommission, Konrad Schmid, mit «elementarisieren» meint: theologische Gedanken so herunterbrechen, dass sie verstanden werden, ohne dabei banal zu sein. Man könnte auch sagen: Christian Walti kann einfach sehr gut reden.