Ab kommender Woche feilscht das Parlament wieder über das Armeebudget: kleinkrämerisch, als hätte der russische Angriffe auf Europa nichts mit der Schweiz zu tun. Es ist Zeit für einen Lagerapport.
Russland testet in der Ukraine den Atomkrieg. Im russischen Fernsehen werden Ziele für Luftangriffe in der EU diskutiert. Sabotageakte gegen kritische Infrastrukturen in der Ostsee und anderswo häufen sich. Gleichzeitig verbreiten Mittelsmänner des Kremls Warnungen an den Westen – sehr deutlich auch in der Schweiz: Akzeptiert den Willen Wladimir Putins, sonst droht der dritte Weltkrieg.
Die Schweiz ist mit angegriffen, aber der Bundesrat schweigt und scheint sich über die Lagebeurteilung des Nachrichtendiensts, der Armee und auch befreundeter Regierungen eher zu nerven. Die logische Konsequenz – eine energische und rasche Aufrüstung der Armee – würde die eidgenössische Stabilitätsformel entlarven: die Umverteilung der finanziellen Mittel auf die einzelnen Partikularinteressen.
Das Parlament feilscht deshalb in der kommenden Wintersession lieber um einen Kompromiss bei den Armeeausgaben. Soll das Militärbudget bis 2030 oder 2035 auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts wachsen – oder vielleicht bis 2032, wie es eine Gruppe von Ständeräten plötzlich vorschlägt? Treiber der Diskussion sind weder die Bedrohung noch die militärischen Bedürfnisse, sondern allein die Finanzen.
Verfassungsauftrag wird nicht erfüllt
Die Kleinkrämerei wird begleitet von Halbwahrheiten und Zweifel über die Pläne der Armee. Das Verteidigungsdepartement (VBS) wisse gar nicht, wofür es das Geld ausgeben wolle, behaupten selbst Mitglieder der Sicherheitspolitischen Kommission, die es eigentlich besser wissen müssten. Zugegeben, die Eckwerte in der Armeebotschaft sind schwer verdaubare Kost, formulieren aber die Absicht des Bundesrats.
Vorerst geht es einzig und allein darum, die derzeitige Armee vollständig auszurüsten, zu modernisieren und die gröbsten Lücken zu schliessen: sowohl bei der Bewaffnung als auch bei der Munition. Der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, hat die Liste der Beschaffungsprojekte in seinem «schwarzen Buch» am 17. August 2023 präsentiert. Leider aber praktisch ohne politisches Publikum.
Doch um es deutlich zu sagen: Dieser erste Aufwuchsschritt reicht nicht, dass die Schweizer Armee ihren Verfassungsauftrag, einen Krieg zu verhindern, tatsächlich erfüllen kann. Erst reicht nicht ohne verbindliche militärische Partnerschaften. Mit dem geplanten Wiederaufbau der Luftverteidigung wird nur ein Teil der kritischen Infrastrukturen gegen weitreichende Waffen geschützt.
Ein Waffenstillstand könnte die Lage weiter verschlechtern
Die Schweiz erhöht mit ihrem mangelnden Willen zur Aufrüstung die Opportunität eines Angriffs. Ein Volltreffer auf einen ungeschützten Energieknotenpunkt in der Schweiz verursachte eine Mangellage in den Nachbarländern: maximale Wirkung bei minimalem Aufwand. Die Schweiz darf nicht zu einer Sicherheitslücke in Europa werden. Unbewaffnet hilft ihr die Neutralität nichts.
«Bei deutlicher oder sich mindestens abzeichnender Lageveränderung» empfiehlt das Führungsreglement der Schweizer Armee, einen Lagerapport durchzuführen. Die Entwicklungen der letzten Wochen sollten die Bundespräsidentin längst zu einer solchen Aussprache mit dem Bundesrat gedrängt haben. Als VBS-Chefin braucht sie ein klares Mandat, die Bevölkerung zu orientieren.
Auch wenn der Schritt spät käme: Die Bundespräsidentin sollte noch vor Jahresende gemeinsam mit dem Direktor des Nachrichtendiensts und dem Chef der Armee schonungslos die aktuelle Lage besprechen und die Konsequenzen für die Schweiz ableiten. Eine Sofortmassnahme wäre die Beschleunigung der Nachrüstung. Mittelfristig braucht es einen Plan zur gezielten Aufrüstung.
Ein rascher Waffenstillstand in der Ukraine wird nach der Amtsübernahme Präsident Donald Trumps in den USA wahrscheinlicher, bedeutet aber keinen Frieden, sondern einen Teilsieg Russlands. Gewalt als Mittel der Politik zahlt sich aus. Die Lage wird sich deshalb eher verschlechtern. Der Kreml wird sein Ziel nicht aufgeben, Europa zu spalten und zu beherrschen.