Bevor eine Art ausstirbt, verarmt sie genetisch. Das lässt sich selbst durch Wiederansiedlungen nicht ausgleichen. Deshalb ist es auch nicht egal, wenn eine Art aus der Schweiz verschwindet, die es anderswo noch häufig gibt.
Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, da waren die Raubwürger in der Schweiz überall. Aus ihren Verstecken stürzten sie sich auf ihre Opfer, töteten sie durch einen Biss in den Nacken und spiessten sie anschliessend an Bäumen auf. Auf Schweizer Boden geschah das zum letzten Mal 1986.
Aber es ist kein Grund zur Freude, dass es in der Schweiz keine Raubwürger mehr gibt. Der Raubwürger ist kein menschlicher Meuchelmörder, sondern ein Vogel, ungefähr so gross wie eine Amsel und schwarz-weiss-grau gemustert. Seit fast vier Jahrzehnten ist die Art in der Schweiz ausgestorben, so wie viele andere auch: In den vergangenen 150 Jahren sind mindestens 245 Arten aus dem Land verschwunden.
Keine dieser Arten wurde mit dem grossen Knall vernichtet wie die Dinosaurier, Asteroideneinschlag, Apokalypse, alle tot. Aussterben, das passiert in der Schweiz täglich, aber nicht plötzlich. Es ist ein langsamer Prozess, und weil es dabei nicht knallt, bleibt er oft unbemerkt – bis es zu spät ist. Und selbst dann kann beim flüchtigen Hinschauen der Eindruck entstehen, es sei alles in Ordnung. Denn manchmal existiert eine Art noch Jahrhunderte weiter. Aber sie hat bereits keine Chance mehr.
Der Roi du Doubs ist eines der nächsten Wirbeltiere, die in der Schweiz aussterben werden
Im Sommer des vergangenen Jahres wateten Biologen zwei Tage und eine Nacht lang durch einen Fluss im Schweizer Jura und suchten einen König: den Roi du Doubs, auf Deutsch wesentlich weniger imposant Rhonestreber oder Apron genannt, ein etwa 20 Zentimeter langer Fisch, gelblich mit dunklen Querstreifen, aus der Familie der Barsche. Er lebt von jeher nur in einem Abschnitt des Doubs südlich von Saint-Ursanne, getrennt von drei weiteren und ebenfalls sehr kleinen Populationen im Einzugsgebiet der Rhone in Frankreich.
Seit mindestens zwei Jahrzehnten ist bekannt, dass der Bestand im Doubs zurückgeht, wegen der Erwärmung des Klimas und damit des Wassers und wegen Veränderungen des Habitats, Wehren und Wasserkraftwerken. Im Jahr 1999 gab es noch maximal 160 Exemplare in der Schweiz. 2023 startete das Bundesamt für Umwelt eine erneute Suchaktion. Ein einziges Tier wurde gefunden.
Aber selbst wenn es 10 oder 20 gewesen wären: Es wären «living dead», lebende Tote, dem Untergang geweiht. Denn mit nur noch wenigen Exemplaren verarmt die Art genetisch immer weiter, bis sie irgendwann nicht mehr lebensfähig ist.
Steinböcke, Luchse und Bartgeier sind genetisch verarmt
Dieses Problem der genetischen Verarmung ist die Vorstufe zum Aussterben. Und sie betrifft auch Arten, von denen man eigentlich denken könnte, ihr Zustand habe sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert.
Als Beleg für Erfolge beim Naturschutz wird gerne die Wiederansiedlung von Steinböcken, Luchsen und Bartgeiern in der Schweiz angeführt. Alle drei Arten waren spätestens Ende des 19. Jahrhunderts hierzulande ausgestorben, weil sie von Jägern geschossen wurden. Steinböcke aus Norditalien wurden Anfang des 20. Jahrhunderts, Luchse aus den slowakischen Karpaten in den 1970er Jahren, im Zoo geschlüpfte Bartgeier 1991 in der Schweiz ausgesetzt und haben sich seitdem etabliert.
Doch weil es jeweils nur ein paar Individuen waren, machen sich nun die Folgen der Inzucht bemerkbar. «Man spricht von einem Flaschenhals in der Population», sagt Florian Altermatt, Professor für Ökologie an der Universität Zürich. «Die Zahl der Individuen nimmt wieder zu, aber die genetische Vielfalt fehlt. Wenn es einmal in einer Generation weniger als etwa 30 reproduzierende Tiere gab, entsteht ein genetisches Signal, das man fast nicht mehr wegbekommt.»
Dieses «genetische Signal» äussert sich zum Beispiel bei den Steinböcken in einem geringeren Gewicht, stärkerem Parasitenbefall und weniger Widerstandskraft gegen Krankheiten. Bei Luchsen im Jura sind Fehlbildungen an den Ohren beobachtet worden, die vermutlich diese Ursache haben.
Eine weitere Folge von Inzucht und genetisch verarmten Populationen ist auch eine verminderte Fortpflanzung. Wenn nicht von aussen Tiere zuwandern oder gezielt ausgewildert werden und den Genpool auffrischen, ist der Fortbestand sowohl der Steinböcke als auch der Luchse wie der Bartgeier in der Schweiz langfristig nicht gesichert.
Viele Arten tragen bereits die Aussterbeschuld in sich und werden verschwinden
So wie den Steinböcken geht es vielen Arten: Sie sind da, es wurde und wird vielleicht sogar grosser Aufwand betrieben, um die letzten Exemplare zu erhalten. Doch sie tragen etwas in sich, was Wissenschafter «Aussterbeschuld» nennen: Der Abstand zum nächsten geeigneten Lebensraum ist zu gross. Fortpflanzen können sie sich nur mit den Individuen in unmittelbarer Umgebung.
Betroffen sind auch viele Pflanzenarten, die nur noch auf inselartig isolierten Parzellen nährstoffarmer Böden in einem Meer von landwirtschaftlichen Flächen mit Monokulturen vorkommen.
Die Zeitverzögerung, die die Aussterbeschuld mit sich bringe, bedeute, dass die Menschen die Konsequenzen nicht sofort bemerkten, sagt Niklaus Zimmermann, Biologe von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). «Wenn man sie dann bemerkt, sind sie sehr schwer rückgängig zu machen.»
Wissenschafter gehen davon aus, dass es bereits viele Arten gibt, die eine Aussterbeschuld in sich tragen. Das bedeutet: In den kommenden Jahrzehnten werden sie alle verschwinden.
Sie werden das erst auf der einen Fläche tun, dann im ganzen Kanton, dann im Mittelland, dann in der Schweiz. Aussterben ist immer zuerst ein lokales Phänomen.
Arten sind über ihr ganzes Verbreitungsgebiet genetisch vielfältig
Die meisten Arten, die es in der Schweiz gibt, gibt es auch anderswo. Wenn eine Art in der Schweiz ausstirbt, hat das global erst einmal keine Bedeutung, könnte man deshalb meinen.
Doch das ist ein Irrglaube: «Wenn es zum Beispiel eine Art nur in den Alpen gibt und sie in der Schweiz verschwindet, ist das ein grosser Teil ihres Verbreitungsgebiets», sagt Altermatt.
Und eine Wiederansiedlung, selbst wenn sie gelinge, sei eben auch keine Wiederherstellung des einstigen Status quo: «Arten sind über ihr ganzes Verbreitungsgebiet genetisch vielfältig, meist sind sie in ihrem Erbgut an lokale Umweltbedingungen angepasst», erklärt er. «Wenn diese Merkmale verlorengehen, kann das nicht einfach durch genetische Varianten von anderswo ersetzt werden.» Eine ausgestorbene Art ist unwiederbringlich verloren.
Erst nach jahrzehntelanger Suche gilt eine Art als ausgestorben
Wann kann man sagen: Diese oder jene Art ist ausgestorben? «Wenn es keinen begründeten Zweifel mehr gibt, dass eine Art noch vorkommt. Beispielsweise wenn eine Art mit spezifischem Aufwand über zwei oder drei Jahrzehnte lang immer wieder gesucht und nicht mehr gefunden wurde», antwortet Altermatt.
Schliesslich ist noch die Frage, ob es wirklich so schlimm ist, wenn eine Art ausstirbt. Arten gibt es ja so viele, kann es da wirklich ein Problem sein, wenn irgendein Grundwasser-Flohkrebs für immer verschwindet, von dessen Existenz allenfalls ein paar Fachleute wussten?
Ja, sind sich sowohl Altermatt als auch Zimmermann sicher. «Jede Art ist nicht einfach isoliert, sie steht in Beziehung zu vielen anderen Arten. Wenn eine Art ausstirbt, hat dies vielleicht nicht sofort eine Wirkung. Oft sind aber viele Arten voneinander abhängig, das kann dramatische Folgen haben», sagt Zimmermann. Oft verstünden wir noch gar nicht, welche welche der vielen Arten, etwa Mikroorganismen, welche Rolle im Netzwerk eine Ökosystems einnehmen.
Biodiversität bedeutet Absicherung – wie ein Aktienportfolio
«Arten entstehen und sterben aus, beides sind natürliche Prozesse», sagt Altermatt. «Und beides passierte lange nur selten. Die Raten waren über lange Zeit etwa gleich. Aber seit etwa 1800 nimmt diese Aussterberate menschengemacht zu und beschleunigt sich seit etwa 1950, so dass sie heute mindestens 100-fach höher liegt.» Es sterben mehr Arten aus als neu entstehen, die Zahl der Arten insgesamt nimmt ab.
Eigentlich ist es nicht schwer zu verstehen, warum das ein Problem ist. «Genetische Vielfalt und überhaupt Biodiversität ist für die Menschen eine Absicherung», sagt Altermatt. «Es ist wie bei der Geldanlage: Wenn alles auf ein Unternehmen gesetzt wird, ist das Risiko viel höher als bei einem breit abgestützten Aktienportfolio.» Diversifizierung bedeute grössere Sicherheit gegen Ausfälle. Und genauso sei es mit der Biodiversität: «Eine hohe Biodiversität ist eine Absicherung, dass Ökosysteme nicht kollabieren.»
Auch Zimmermann streicht heraus, welche Bedeutung die Artenvielfalt für die menschliche Gesellschaft hat. «Ein artenreicher Gebirgswald ist deutlich weniger anfällig auf extreme Dürre oder Hitze als ein artenarmer Wald. Biodiversität ist daher wie eine Versicherung gegen Klimaveränderungen.»
Denn bei Dürre oder Überschwemmungen gehe das Leben für Tiere und Pflanzen weiter. Für Menschen hingegen wird es unter Umständen in bestimmten Gegenden unmöglich. Der Mensch, sagt Zimmermann, sei einer der anfälligsten Organismen im System.
Eine solide Menge an Raubwürgern würde der Schweiz guttun.