Die Tellspiele in Interlaken haben Wilhelm Tell abgesetzt. Doch das grösste Drama ist der Tellspielverein selbst. Sein Präsident kämpft ums Überleben.
Auf der Freilichtbühne in Interlaken ist Robin Hood in das Haus von Wilhelm Tell eingezogen. Hinter den Kulissen ist der Stall Nr. 9 zwar immer noch für das Pferd von Gessler reserviert, so steht es auf einer Plakette, aber Gessler wird heute nicht reiten. Und der Wegweiser, der mit «Rütli» angeschrieben ist, führt nach Locksley in der Grafschaft Nottinghamshire. Bald galoppieren auch schon die Pferde des Sheriffs über die Szene, angeführt von dem unausstehlichen Sheriff selbst, der Robin Hood für vogelfrei erklärt hat und dessen Gemeinde unterjochen will. Die Bösen bekämpfen die Guten, aber die Guten wehren sich, Nebel raucht, Feuer lodert in der Burg – bis die Leute von Locksley die Obrigkeit endlich in die Flucht schlagen und Robin Hood und Lady Marian regieren. Applaus im Publikum, die Freiheit ist zurück.
Wilhelm Tell geistert weiterhin durch das Stück: Robin Hood ist sein Stellvertreter im ewigen Freiheitskampf. Kurz vor der Aufführung hat im Selbstbedienungsrestaurant eine junge Frau zu ihrem Freund gesagt: «Isch ja fascht s’glich, beides sind Rebelle gsi.» Dann haben sie Pommes frites bestellt.
«Der Starke ist am mächtigsten allein», hatte Tell proklamiert. Aber an seiner Stelle steht jetzt Robin Hood und sagt: «Nume zäme simer schtarch.» Es ist doch nicht alles fast das gleiche.
Zum ersten Mal in ihrer hundertzwölfjährigen Geschichte spielen die Tellspiele von Interlaken in diesem Sommer nicht den Tell. Lange war er ein Publikumsgarant, und auf der riesigen Betontribüne – gebaut für 2200 Leute – mussten Extrastühle herangeschafft werden. Inzwischen ist die Tribüne im hinteren Teil umgenutzt und dennoch meistens nur halbvoll. Und Tell ist abgesetzt.
Was ist los im Rugenwald von Interlaken?
Das Leiden des Minnesängers
Am Ende von «Robin Hood» betritt ein Mann mit einer fiedelnden Drehleier die Szene. Er singt: «Es brucht di, es brucht mi, es brucht alli mitenand / So, nur so isch Friede im Land.» Eigentlich ist es das Happy-End, besungen von einer Nebenfigur: Der Minnesänger verkündet den Sieg über den Sheriff von Nottingham.
Tatsächlich aber ist dieser Minnesänger die Hauptfigur im existenziellsten aller Tellspiele. Er heisst Pascal Minder und präsidiert den Verein Tellspiel Interlaken, er verwaltet eine grosse Geschichte, aber er sagt: «Ob wir nächstes Jahr noch spielen können, wissen nur die Götter. Unsere Existenz hängt an so einem dünnen Faden wie noch nie. Dass wir Robin Hood zeigen, gehört zur Überlebensstrategie.»
Tell ist längst kein Publikumsgarant mehr. In den besten Zeiten kamen vierzigtausend Leute, achtzehntausend müssen es sein, damit wenigstens die Kosten gedeckt sind, aber im vergangenen Sommer waren es noch zwölftausend. Es braucht längst: alle miteinander.
In den Anfangszeiten ruhten die Tellspiele von Interlaken in sich selbst. Es war das erste Freilichtspektakel weit und breit. Man spielte Schillers Tell im Original, ohne Kürzungen, vier Stunden lang, aber die Leute kamen trotzdem, sogar die Stehplätze verkauften sich. Wer wollte, konnte seine Rolle jahrzehntelang spielen. So begriffen sich bald auch manche der Laiendarsteller als Institution. Die Tribüne wurde immer grösser, die Häuser im Bühnenbild wurden immer massiver – bis alles unverrückbar schien. Der Germanist Peter von Matt hat einmal geschrieben: «Die Beweiskraft der Mythen (…) bedarf immer neu der Vergegenwärtigung. Steinerne Denkmäler sind der Versuch, die Wiederholung des mythischen Erlebens zu sichern.» Die Freilichtbühne in Interlaken ist der Versuch, beides auf ewig zu verankern: den Mythos Tell und den Erfolg der Tellspiele.
Aber im Berner Oberland gibt es längst nicht mehr nur die Tellspiele. Die Thunerseespiele zeigen laufend neue Musicals und Bühnenbilder, die sich jeweils aus dem See erheben, sie können auf einen grossen «Presenting Sponsor» zählen und auf den früheren Manager von Udo Jürgens, der den Verwaltungsrat präsidiert. Im neusten Stück des Landschaftstheaters Ballenberg spielt eine professionelle Schauspielerin die Hauptrolle. Und in Interlaken bemühten sich Laien, jedes Jahr etwas Neues aus dem Tell herauszuholen.
Im Jahr 2016 engagierten die Tellspiele den namhaften Freilichtregisseur Ueli Bichsel, der alte Gewohnheiten aufbrechen sollte. Er versuchte es erstmals mit Mundart statt mit Schillerdeutsch, was Traditionalisten im Ensemble missfiel und den damaligen Gessler zum Rücktritt bewegte. Er führte ein Casting ein, um die Rollen neu verteilen zu können. Bis heute hat er grosse Fans bei den Tellspielen, aber auch er konnte den Niedergang nicht aufhalten.
Pascal Minder sitzt im «VIP-Bereich», den sie im hinteren Teil der Tribüne eingerichtet haben. Er ist eigentlich Schulleiter, den Tellspielverein führt er in der Freizeit, ehrenamtlich. Er hat ein Familienprojekt daraus gemacht: Seine Frau leitet das Sekretariat, einer der Söhne die Technik, die Tochter steht mit ihm auf der Bühne – und der andere Sohn spielte den Walterli, als er selbst im Jahr 2019 den Tell gab. Aber die familiäre Idylle trügt.
Im Drama der Tellspiele besetzt Pascal Minder die Hauptrolle: Wird er der Präsident sein, der Wilhelm Tell begraben muss?
Das Erfolgsgespenst
Er will sich dereinst nicht vorwerfen lassen, es habe ihm der Mut gefehlt. Im vergangenen Jahr haben sie noch einmal alles versucht mit dem Tell: Eine 45-Minuten-Best-of-Version sollte die gestressten Touristinnen und Touristen zwischen Jungfraujoch und Luzern in den Rugenwald locken. Man deckte die Hotels mit Werbematerial ein, das kostümierte Ensemble verteilte Flyer, es gab einen Trailer, neue Kopfhörer mit Simultanübersetzung, aber es half alles nichts. Die Best-of-Vorführungen waren so schlecht besucht, dass die Bühne jeweils besser besetzt war als die Tribüne. «Die Touristen, die nach Interlaken kommen, haben schlicht keine Freizeit», sagt Pascal Minder.
Und der Erfolg der Vergangenheit ist das Gespenst der Gegenwart. Die grosse Infrastruktur kostet viel zu viel Geld. Minder geht vom VIP-Bereich hinüber zur Technikbühne. Vor der Hauptprobe stieg das Mischpult aus, man müsste es dringend ersetzen, sagt er, aber die 80’000 Franken, die das kostet, hat der Verein nicht mehr. Dann zeigt er hinauf in die Bäume, zehntausend Quadratmeter Wald, die der Verein in Fronarbeit bewirtschaften muss. Im vergangenen Winter brauchte man einen Helikopter für eine Sicherheitsrodung. «Wie Sie wissen, kostet bei einem Helikopter jede Minute ein Vermögen.»
Über Weihnachten und Neujahr musste er hunderttausend Franken zusammensuchen. Eine Übernahme durch die umliegenden Gemeinden ist vorerst gescheitert, aber Pascal Minder sagt: «Ich kämpfe bis zum bitteren Ende.»
Zu modern, zu wenig modern
In der «Rundschau» des Schweizer Fernsehens kritisierte vor der Premiere ein früherer Gessler-Darsteller den Tellspielverein und seinen Präsidenten: «Me het geng aus wölle modernisiere, u das chunnt nid guet.» Er ist überzeugt, der Original-Tell wäre bis heute «von Bedeutung». Als der Fernsehreporter ihn zurück auf die Naturbühne führte, rezitierte er Gessler in reinem Schillerdeutsch.
Ueli Bichsel, der frühere Regisseur («Tell – ein Stück Schweiz»), war an der Premiere von «Robin Hood». Ihm gefiel die «lebendige, frische Inszenierung», aber er glaubt, die Tell-Spiele hätten sich noch viel grundsätzlicher erneuern müssen. «Robin Hood ist einfach ein englischer Doppelgänger des Tells, aber ein solcher Heldenepos ist nicht mehr zeitgemäss. So bleiben die Tellspiele gefangen in der Aura von Wilhelm Tell.» Er wäre auf ein Musical umgestiegen, aber er weiss, dass die Häuser auf der Freilichtbühne im Wege stünden.
Robin Hood – ein Vernunftentscheid
Pascal Minder lächelt und sagt, für seine acht Jahre als Vereinspräsident hätte er seiner Meinung nach «mindestens einen Bachelor» verdient. So viel habe er gelernt. «Ich muss überall den Grind hinhalten.» Er kennt die Kritik, er hat sie schon gehört, als das Schillerdeutsch verschwand. Tellspiele, die nicht mehr den Tell zeigen – ein Zeichen der Selbstvergessenheit?
Er verweist auf einen «überdeutlichen Vereinsentscheid» aus dem Jahr 2020, wonach man es «mit einer Nicht-Tell-Produktion» versuchen wolle. «Wir verzichten kurzfristig auf Tell, um ihn langfristig zu erhalten», sagt Minder. Er ist stolz auf seinen Satz, vielleicht weil er hofft, damit könnten alle leben. Auf seinem Linkedin-Profil steht ein Zitat von Albert Einstein: «Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.»
Eigentlich hätte es «Mein Name ist Eugen» werden sollen. Der Regisseur Michael Steiner, der diesen Stoff erfolgreich ins Kino gebracht hatte, war bereits «ein Weekend lang auf Platz», wie Minder sagt. Aber für den «Eugen» hätte es neue Kostüme gebraucht, und auch die Tell-Häuser hätten fremd gewirkt. «Robin Hood», wie Tell ein Mittelalter-Stoff, sei ein «Vernunftentscheid».
Pascal Minder ist die Hauptfigur in einem sehr schweizerischen Stück: Der Präsident, der den Bedeutungsverlust seines Vereins stoppen will – und aufgerieben wird zwischen jenen, denen die Reformen zu weit und den anderen, denen sie zu wenig weit gehen.
Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit
Als das Casting für «Robin Hood» begann, sah sich Pascal Minder bestätigt. Noch nie hätten sich so viele Leute gemeldet. «Wir erleben eine Verjüngung. Ein neues Zeitalter beginnt.» Er klingt jetzt wie der Freiherr von Attinghausen, der zum Ende von Tell hin den Neuanfang verkündet: «Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit / Und ein neues Leben blüht aus den Ruinen.» Aber so leicht wird der Mythos nicht zur Realität.
Minder hält «Wilhelm Tell» für ein grossartiges, aber schweres Drama: mit unzähligen Erzählsträngen, einem komplizierten Helden – und am Ende warten doch alle nur auf den Apfelschuss. Robin Hood komme leichter daher, mit mehr Humor und mehr Action. Ein Schauspieler fliegt an einem Seilzug durch den Bühnenhimmel, Feuerspucker bauen sich vor der Tribüne auf. «Das spricht die Jungen vielleicht besser an», sagt Minder.
Am Ende des Abends empfängt er als Minnesänger die standing ovations des Publikums. «Ich bin sprachlos», ruft er im Namen des Ensembles. Dann bittet er die Leute, für die Tellspiele zu werben. Ungefähr sechshundert Leute sind gekommen, die Tribüne ist halbleer. Die Zahlen liegen fünfzehn Prozent unter der letzten Tell-Saison. Ein Held allein kann Interlaken nicht mehr retten.
«Robin Hood», noch bis am 7. September bei den Tellspielen in Interlaken.