Kleine Häppchen, grosser Genuss: Auf Mallorca bringen Tapas-Chefs die Touristinnen und Touristen dazu, jede Selbstdisziplin im Olivenöl zu ertränken.
Jeder Spanien-Tourist – übrigens eine aussterbende Spezies, da niemand weiss, wie lange sie noch geduldet sind im Königreich – vergisst seine Intervalldiät auf der Stelle, sobald er spanischen Boden unter den Füssen spürt. Vor allem, wenn er dort an einer der geschätzt eine Million Tapas-Bars vorbei spaziert. Nein, nicht vorbei, sondern hinein. Der Versuchung und dem Hunger nach. Auch ich pfeife dann auf meinen sonst eisernen Verzicht, was das Snacken angeht, und stürze mich pausenlos auf Anchoas, Oliven, Patatas bravas, kleine Tintenfischchen, Jamon, Pan y Tomate und was sonst noch alles an den Theken verführerisch vor mich hingestellt wird. Und sie taugen auch als Ausrede, um den Alki in mir zu überlisten. Ein Glas Sherry um neun Uhr morgens, da muss ich doch etwas zwischen die Zähne dazu kriegen, sonst kann ich mich gleich bei den AA in die Runde setzen.
Über die Entstehungsgeschichte gibt es verschiedene Versionen, am plausibelsten scheint eine ganz ähnliche, die auch meinem Argument für die zu Hause gelassene Disziplin entspricht. Alfons X, König von Kastilien und Léon, soll im 13. Jahrhundert so krank gewesen sein, dass ihm der Arzt zwischen den Mahlzeiten kleine Häppchen und Wein verordnet hat (muss ich mal meinem Doktor stecken). Nach seiner Genesung – von was auch immer – soll er per Dekret befohlen haben, dass Wein nur noch mit Essen gereicht werden darf. Auch wenn es bloss eine Olive war.
Andere Quellen erzählen von findigen Wirten, die mit Brotscheiben (Tapas) die Weingläser abdeckten, damit sich keine Fliegen am Rebensaft gütlich tun konnten. Sie entwickelten diesen «Deckel» kontinuierlich weiter, bis zur heutigen Vielfalt, die oft in aufwendig hergerichteten Tellerchen endet, mehr kreatives Gericht denn Snack. Die reichhaltigsten werden im Baskenland serviert, dort – mittels langer Holzspiesse zusammengehalten – auch Pinchos genannt.
Den kulinarischen Kulminationspunkt in Sachen Tapas gesetzt hat wohl der Jahrtausendkoch Ferran Adria in seinem legendären Lokal El Bulli. Er servierte ein 30-gängiges Menu, im weitesten Sinne alles klassische Häppchen, mittels der Molekularküche aber ad absurdum geführt, wie seine Oliven-Sphären: Die grünen Früchte wurden dekonstruiert und durch Gelieren wieder in ihre Form gebracht. Doch diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei.
Tapas können, müssen aber nicht geteilt werden
Ich sitze in der zum Restaurant Sa Tafona umfunktionierten Ölmühle des Hotels Son Bunyola, gelegen an einer der bezauberndsten Buchten des mallorquinischen Tramuntana-Gebirges. Die ehemalige Finca wurde von Sir Richard Branson zu einem dieser Hotels umgewandelt, die einem augenblicklich das Gefühl vermitteln, hier nie mehr wegzuwollen. Daran sind auch die Menschen, die einem dort aufs Beste umsorgen, nicht unschuldig. Brenda Lisiotti, Executive Chef, serviert mir hier Tellerchen um Tellerchen, belegt mit grossartigen Köstlichkeiten.
Das Tomaten-Thema verarbeitet sie in einer Tarte Tatin und als Tatar, den Oktopus A la gallega reicht sie mit einer chilenischen Aji-Amarillo-Sauce. Es ist mal wieder zum Hineinweinen gut. «Ich habe das Glück, sämtliche Zutaten aus nächster Nähe sourcen zu können. Das kommt meinem maximal saisonalen Ansatz sehr entgegen. Auf den 1300 Hektaren (!), die das Hotel umgeben, wächst praktisch alles, was ich an Pflanzlichem verarbeite. Seafood kommt aus dem tiefblauen Meer vor uns, Fleisch und Schinken der schwarzen Schweine aus dem Nachbardorf.»
Brenda verbindet in ihren Tapas-Kreationen die lokalen Produkte punktuell mit asiatischen und südamerikanischen Zutaten, Würzmitteln und Kochtechniken. Einige der Teller werden als Sharing-Idee gereicht. Obwohl mir die Teilerei von Essen seit einiger Zeit auf den Wecker geht, mir ist die doppelte oder dreifache Portion höchst willkommen. Alles für mich. König Alfons hat bestimmt auch nicht geteilt!
Ein Dank an König Alfons
Einen ähnlichen Ansatz in seinen Tapas-Kreationen verfolgt der Kärntner Simon Petutschnig in seinem Restaurant Fera, eröffnet in einem historischen Stadtpalais in Palma, wie auch im Yara, sein neueres, hippes Lokal in Puerto Portal, direkt am Jachthafen. Ob er Wagyu-Tatar in knusprige Norirollen füllt, Carpaccio von roten Solér-Gambas schneidet oder Carabineros zu Croquetas frittiert, seine Appetithappen – ob nun Gruss aus der Küche oder Tapas, ist mir gerade herrlich egal – reflektieren die pflanzliche und tierische Vielfalt der Balearen und ihrer Gewässer.
Enge Partnerschaften mit lokalen Produzenten ermöglichen Petutschnig eigene Produktelinien wie Wein, Olivenöl oder Honig. Und vom Bluefin-Tuna mit Gurke und Tomate ordere ich ohne schlechtes Gewissen einen Nachschlag. Er wächst in nachhaltiger Zucht auf.
Mit einem mit zeitgemäss-mallorquinischer Küche vollgeschlagenen Bauch schlendere ich die Phalanx an riesigen Jachten ab. Vor einer besonders monströsen ist ein Ferrari mit Luzerner Kennzeichen parkiert. Doppelter Show-off. Nicht wenige der Schiffe tragen einen weiblichen Vornamen. Meines aber würde Tapas heissen. Oder König Alfons.
Richard Kägi ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Auf eine Jacht kann er gut verzichten. Seine Rezepte veröffentlicht er auf homemade.ch und richardkaegi.ch. Instagram @richifoodscout