Am 14. Dezember 2020 kontaktierte Alexei Nawalny die Männer, die ihn in Sibirien vergiften wollten. Einer machte in einem bizarren Gespräch ein Geständnis. Seither ist er verschwunden, und Nawalny ist tot. Heute schaut man den Dokumentarfilm «Nawalny» wie eine Todesahnung.
In den Tagen nach Alexei Nawalnys Tod lief überall der Film, der seine Geschichte zu fassen versuchte.
Alexei Nawalny hat den Giftanschlag mit Nowitschok überlebt. Im Schwarzwald ist er wieder zu Kräften gekommen. Es ist der 14. Dezember 2020, jener Tag, an dem er sein Mordkommando anrufen will. Hinter ihm hängt eine Pinnwand mit einer Landkarte und Porträtbildern von russischen Geheimdienstmitarbeitern, die mit roten Fäden verbunden sind. Der letzte Faden führt zu einem Porträt von Wladimir Putin, dem Präsidenten der Russischen Föderation.
«Wer ist der Dümmste?», fragt Nawalny. Eine eindeutige Antwort erhält er nicht. Neben ihm sitzen seine politische Mitstreiterin Maria Pewtschich und Christo Grozev, ein bulgarischer Journalist von Bellingcat, einem Recherchenetzwerk, das Grozev als «Organisation von digitalen Nerds» beschreibt.
Grozev ist es, der in den Wochen davor recherchiert hat, wie eine Gruppe von Geheimdienstleuten versuchte, Nawalny mit dem Giftstoff Nowitschok zu ermorden. Er hat sich darauf bei Nawalny gemeldet und sich bald mit anderen Medien verknüpft, um die Recherche breiter abzustützen («Der Spiegel», CNN und «The Insider»).
Ebenfalls im improvisierten Ermittlungsraum ist der kanadische Dokumentarfilmer Daniel Roher, der mit seiner Kamera alles festhält.
«How bizarre»
«Ich denke, wir versuchen am besten, die Dummen aufs Glatteis zu führen», sagt Nawalny. Was folgt, ist ein Telefonstreich beim russischen Geheimdienst, der auch die Schlüsselszene in Rohers Oscar-prämiertem Dokumentarfilm geworden ist. Das Telefonat und seine Folgen erklären Putins Regime, das Wahrheit und Wirklichkeit selber kreiert und sich von Fakten nicht stören lassen will.
Nawalny ist sich der absurden Situation bewusst: Er ermittelt zum Mordversuch an seiner eigenen Person – «how bizarre», singt er in einem Begleitvideo für die sozialen Netzwerke.
«Bist du nervös?», fragt die Mitstreiterin Pewtschich. «Nein», sagt Nawalny – und wirkt tatsächlich nicht besonders angespannt.
«Hier ist Alexei Nawalny, ich wollte fragen, warum Sie mich töten wollten» – die Person am anderen Ende hängt gleich auf. Beim zweiten Anruf dasselbe.
Dann ändert Nawalny die Strategie, er gibt sich als Mitarbeiter des russischen Gemeindiensts FSB aus, der einen Bericht zuhanden seiner Behörde verfassen muss. Sein rhetorisches, komödiantisches Talent kommt zum Einsatz, auch Abgebrühtheit. Offensichtlich hat er ein Gefühl für die Sprache dieser Menschen. Am anderen Ende ist jetzt der Chemiker Konstantin Kudrjawzew, der bald ein verblüffendes Geständnis leistet.
Als Nawalny das Gespräch beendet, triumphiert er nicht wirklich. «Der Arme», sagt er. «Sie werden ihn umbringen.» Der Journalist Grozev, begeistert: «Ich glaube, nach der Sache wirst du Präsident. Im Ernst.» Nawalny: «Nach der Sache . . . Jetzt bringen sie mich sicher um.»
Der Anruf
Konstantin Kudrjawzew: Hallo?
Alexei Nawalny: Konstantin?
Kudrjawzew: Ja.
Nawalny: Guten Tag. Ich heisse Maxim Sergejewitsch Ustinow. Ich bin Nikolai Patruschews Assistent. Wladimir Bogdanow gab mir Ihre Nummer. Verzeihen Sie die frühe Störung. Ich muss Sie dringend zehn Minuten sprechen.
Es klingt wie aus einem russischen Beamtenroman, «Der Doppelgänger» von Dostojewski.
Kudrjawzew: Ich höre.
Nawalny: Ich brauche eine kurze Auskunft, eine kurze Einschätzung der Teammitglieder: Was ist bei uns in Tomsk schiefgelaufen? Warum ging die Sache mit Nawalny so daneben?
K.: Ich würde gern helfen, aber ich sitze zu Hause und habe Corona.
N.: Deshalb rufe ich Sie doch an.
K.: Rufen Sie lieber Makschakow an.
N.: Makschakow rufe ich selbstverständlich an. Das Verfahren ist einfach: Ich rufe Alexandrow, Makschakow und Tajakin an. Und alle werde ich um eine kurze Erklärung bitten. Ich muss berichten, warum es nicht geklappt hat. Woran lag es, und wie hätte es besser geklappt?
Nawalny checkte am 20. August 2020 am Flughafen Tomsk, Sibirien, ein. Ziel Moskau. Der Giftstoff Nowitschok fing während des Flugs an zu wirken, Nawalny schrie vor Schmerz. Notlandung in Omsk. Spital, künstliche Beatmung. Bis Julia Nawalnaja, seine Frau, bei Putin die Erlaubnis erwirkte, Nawalny nach Berlin zu fliegen.
K.: Diese Frage habe ich mir selbst schon mehrfach gestellt. Ich würde sagen, der Job war gut ausgeführt.
Nawalny bleibt ungerührt. Pewtschich hält sich – erstaunt, entsetzt – die Hand vor den Mund.
K.: Der Job wurde genau wie geplant ausgeführt. So, wie wir es zuvor schon mehrfach geprobt hatten. Aber Sie wissen ja selbst, bei unserer Arbeit . . . gibt es immer sehr viele Details. Wir versuchen natürlich immer, möglichst alles zu berücksichtigen. Aber weil die gelandet sind, Sie verstehen schon . . . Er flog los, und dann gab’s die Notlandung. Das veränderte die Situation. Und nicht zu unseren Gunsten. Das ist meine Einschätzung. Hätte der Flug etwas länger gedauert, hätte es anders ausgehen können.
N.: Wenn er länger geflogen wäre?
K.: Die Ärzte am Boden haben sofort gehandelt. Die haben ihm sofort irgendein Gegenmittel verabreicht. Wäre er nur ein bisschen länger geflogen, hätte wohl alles anders ausgehen können.
Nawalny jubelt still, die Hände in die Luft.
N.: Das heisst, die Dosis war nicht richtig kalkuliert. Warum?
K.: Sie war richtig kalkuliert, da gab es sogar noch Puffer.
N.: Okay, dann sagen Sie mir bitte, wie wurde die Substanz verabreicht, wie lief das technisch ab?
K.: Das sollte lieber über eine gesicherte Leitung laufen.
N.: Ja, selbstverständlich. Sie wissen schon, für wen mein Bericht ist. Und da geht’s nicht um eine gesicherte Leitung. Wie kann ich jemandem, der nicht viel Ahnung hat und keine Details wissen will, kurz und knapp das Vorgehen erklären? Wie kann ich das präzise formulieren?
K.: Wissen Sie das etwa nicht?
N.: Manches weiss ich, manches nicht. Aber ich muss Sie fragen. Ich habe die Anweisung: «Rede mit dem und dem, und frag das und das.» Das tue ich jetzt.
K.: Das kann ich Ihnen über dieses Telefon nicht sagen.
N.: Erstens: Wo sind die Kleider? Was ist damit?
K.: Die waren da. Die hab ich zuletzt in Omsk gesehen. Wir haben sie nach der Bearbeitung dort gelassen. Ich hab keine Ahnung, wo sie am Ende gelandet sind. Ich kann nur sagen, als wir ankamen, haben die Jungs sie uns übergeben, die von der örtlichen Omsker . . . Na ja, die von dieser Polizei da . . .
Nawalny lacht stumm.
N.: Von der örtlichen Polizei?
K.: Ja, genau.
N.: Das heisst, die Kleider wurden behandelt. Damit ist alles okay, ja?
K.: Zumindest war alles clean, als wir sie zurückgegeben haben.
N.: Welches Kleidungsstück stand im Fokus? Welches Kleidungsstück birgt theoretisch das höchste Risiko?
K.: Na ja, die Unterhose. Im Leistenbereich.
N.: Der Leistenbereich der Unterhose.
K.: Na ja, im Schritt eben, am sogenannten Eingriff. An den Nähten.
N.: Okay, Moment. Das ist wichtig, Moment. Wer hat gesagt, dass die Unterhose am Eingriff behandelt werden soll? Makschakow?
K.: Ja.
N.: Erinnern Sie sich an die Farbe der Unterhose?
K.: Blau.
N.: Blaue Unterhose. – Und die Hose?
K.: Da bestand auch die Möglichkeit, dass an der Innenseite noch Rückstände waren. Da hätte noch was sein können, deshalb haben wir die auch gereinigt . . . damit auch da keine Spuren mehr sind.
N.: Was glauben Sie, wie die Deutschen das letztlich entdeckt haben?
K.: Vielleicht haben die spezielle Methoden oder Geräte.
N.: Wo an seinem Körper konnten Spuren sein, die sie entdeckt haben?
K.: Am Körper nirgends. Wahrscheinlich im Blut. Der Körper wurde vermutlich noch direkt bei uns im Krankenhaus gewaschen.
N.: Jetzt steht hier noch eine etwas merkwürdige Frage. Sie sind ja mehrfach mit Nawalny gereist, auch 2017 nach Kirow. Wie schätzen Sie ihn ein?
K.: Er unternimmt nie überflüssige Schritte. Das ist meine Meinung. Er ist sorgfältig und vorsichtig. Wahrscheinlich hat er irgendwie intuitiv gespürt, dass er von uns beschattet wurde. Ist zumindest möglich. Sind Sie noch da?
N.: Ja, ja. Ich mache mir nur Notizen. Wollen Sie noch etwas hinzufügen? Was halten Sie noch für wichtig? Was sollte noch in meinen Bericht?
K.: Nichts. Ich denke, ich habe Ihnen alle Informationen gegeben. Zu viele vielleicht. Ehrlich gesagt bin ich geschockt von diesen Fragen. Sie verstehen schon, diese ganze Situation jetzt . . .
Nawalny lacht stumm.
N.: Wir sind alle geschockt. Können Sie sich vorstellen, wie geschockt ich bin?
K.: Ja.
N.: Gut, alles klar . . .
K.: Alles klar.
N.: Machen Sie’s gut.
Die Rückkehr
Nach diesem Telefonat schien Nawalny den entscheidenden Beweis zu haben. Aber wo war die Behörde, die in seinem Fall ermitteln wollte? Glaubte er, dass seine Enthüllung zu einem Volksaufstand führen würde? Vielleicht hoffte er es, er träumte von der russischen Präsidentschaft. Sprach immer wieder davon, was er ändern würde, käme er an die Macht. Instinktiv schien er aber zu ahnen, dass es mit ihm kein gutes Ende nehmen würde. «Jetzt bringen sie mich sicher um», sagte Nawalny nach seinem Telefongespräch mit dem Chemiker Kudrjawzew. Trotzdem kehrte er zurück nach Russland. Fast wie in einer griechischen Tragödie, dem Schicksal entgegen, da es ohnehin nicht in den eigenen Händen liegt.
Drei Gedanken könnten bei der Rückkehr nach Russland zentral gewesen sein.
Erstens bezog Nawalny seine Glaubwürdigkeit daraus, dass er sich dem Regime furchtlos stellte. Er wollte und musste zurück, eine Opposition aus dem sicheren Ausland hätte seinen Nimbus zerstört. Wie hätte er eine lethargische russische Bevölkerung zum zivilen Ungehorsam motivieren können, während er selbst die Ruhe im Schwarzwald geniesst?
Er war eine politische Alternative zu Putin, forderte freie Wahlen. Ohne ihn zu verklären, hat seine patriotische Hingabe etwas Selbstvergessenes, Märtyrerhaftes. Er schien nicht anders zu können.
Der zweite Gedanke ist mit der Hoffnung verknüpft, dass die präzisen Enthüllungen um seine Vergiftung die Bevölkerung aufrütteln könnten. Umso mehr, als er einen Tag nach seiner Verhaftung auch ein Video unter dem Titel «Ein Palast für Putin. Die Geschichte der grössten Bestechung» veröffentlichte – es wurde über 130 Millionen Mal geschaut.
Seine Rückkehr war perfekt orchestriert, das Medienecho gewaltig, aber das änderte nichts an den Machtverhältnissen in Russland und auch nichts an seinem Schicksal – zumindest nicht zum Guten.
Berichte zu einer möglichen Vergiftung von Nawalny wurden von den Staatsmedien propagandistisch niederkartätscht. Er habe am Vorabend Selbstgebrannten getrunken, sagte ein Moderator im russischen Fernsehen. Auch Kokain und Antidepressiva wurden ins Spiel gebracht.
Putin sprach vom «Patienten in einer Berliner Klinik», Nawalnys Namen sagte er nicht. Dieser Patient werde von US-Geheimdiensten unterstützt. «Vergiften muss man ihn deshalb nicht. Der juckt doch keinen. Verstehen Sie?», sagte er lachend in die Kamera und fügte hinzu: «Wenn man das gewollt hätte, hätte man es umgesetzt.»
Die Geschichte mit der Unterhose hob der Kreml besonders hervor, um sich über Nawalny lustig zu machen. Der Kreml-Sprecher Peskow: «Nawalny leidet unter Verfolgungswahn. Oder er ist krankhaft fixiert auf seinen Schambereich. So sollte die ganze Sache wohl behandelt werden.»
Der dritte Gedanke ist vielleicht die Einsicht, dass alles keinen Unterschied macht. Wer Russland in Putins Augen verhöhnt und seinen Geheimdienst der Lächerlichkeit preisgibt, ist in Lebensgefahr, lebt er nun im Schwarzwald oder in Sibirien. Dieses Regime beseitigt seine Opponenten bei Bedarf auch ausserhalb der Landesgrenze.
Im Januar 2022 kehrte Nawalny also nach Moskau zurück und wurde am Flughafen gleich verhaftet. Zuletzt war er im Straflager von Charp, am Polarkreis, interniert. Am 16. Februar 2024 meldete die russische Gefängnisverwaltung seinen Tod.
Das Vermächtnis
Im Dokumentarfilm wird Alexei Nawalny gebeten, eine Botschaft an die Russen zu formulieren, für den Fall, dass er stirbt. Nawalny beginnt auf Englisch, aber der Dokumentarfilmer bittet ihn nun, Russisch zu sprechen. Wenn man diesen Film heute schaut, dann sieht man ihn als eine einzige Todesahnung. Er ist schon im Bewusstsein gemacht, das Vermächtnis eines Toten zu sein.
«Ganz einfach: Gebt nicht auf», sagt Nawalny auf Russisch. «Das dürft ihr nicht. Wenn man mich getötet hat, dann heisst das, dass wir im Moment unglaublich stark sind. Sonst hätten sie mich nicht getötet. Diese Stärke müssen wir nutzen. Nicht aufgeben! (. . .) Das Böse braucht nur eins zum Sieg: die Tatenlosigkeit der guten Menschen. Seid deshalb nicht tatenlos.»