Sonntag, September 29

Pierre-Alain Schnegg ist Berner Gesundheitsdirektor und Präsident der Organisation, die die Arzttarife erstellt. Dass die neuen Pauschalvergütungen bei den Medizinern auf Ablehnung stossen, ärgert den SVP-Politiker.

Herr Schnegg, bei den Tarifen für ambulante Behandlungen in Praxen und Spitälern kommt es zu einer kleinen Revolution: Ab dem Jahr 2026 soll es für die häufigsten Eingriffe Pauschalen geben. Warum braucht es das?

Der heutige Tarif Tarmed ist komplett veraltet. Er ist auf dem Stand von vor 20 Jahren stehengeblieben. Dadurch gibt es für manche Behandlungen viel zu viel Geld, für andere viel zu wenig. Pauschalen haben sich im stationären Bereich der Spitäler bewährt. Und auch das Parlament hat entschieden, dass die ambulanten Pauschalen eine Priorität sein müssen.

Was sind die Vorteile der Pauschalen?

Sie zwingen die Ärztinnen und Ärzte dazu, effizient zu arbeiten. Sie können es sich gar nicht leisten, unnötige Sachen zu machen, dafür bekommen sie ja keine Entschädigung mehr – anders als im Einzelleistungstarif von heute, der in dieser Hinsicht falsche Anreize setzt. Und die Pauschalen vereinfachen auch die Administration: Statt 10 oder 20 einzelne Leistungen zu erfassen, kann ein Mediziner einfach die Pauschale abrechnen.

Nun wehren sich aber die Verbände der Spezialisten gegen die Vorschläge, die die von Ihnen präsidierte Organisation ambulante Arzttarife vorgelegt hat: Die Pauschalen seien so schlecht gemacht, dass sie eine «existenzielle Bedrohung» darstellen würden. Hat Sie dieser massive Widerstand überrascht?

Nicht wirklich. Es hat noch jedes Mal, wenn ein neuer Tarif eingeführt wurde, Kritik gegeben. Ich verstehe, dass Pauschalen den Praxisärzten, die noch nie mit ihnen gearbeitet haben, zu Beginn etwas suspekt sind. Pauschalen bedeuten ja auch, dass man für die Behandlung der Patientin X etwas zu viel Geld erhält, für die Behandlung der Patientin Y etwas zu wenig – und sich das dann unter dem Strich ausgleicht. Daran müssen sich gewisse Ärzte zuerst gewöhnen.

Die Spezialisten werfen Ihrer Tariforganisation vor, alle Inputs ignoriert zu haben. Was sagen Sie dazu?

Gewisse Rückmeldungen haben wir erst in den letzten Wochen bekommen, das ist schade, so konnten wir das nicht mehr berücksichtigen. Aber in der sehr kurzen Zeit seit dem Beschluss des Bundesrates vom 19. Juni war es ohnehin nicht möglich, eine umfassende inhaltliche Überarbeitung der beiden teilgenehmigten Tarifstrukturen vorzunehmen.

Hat die vom Bundesrat gesetzte Frist also ein seriöses Arbeiten verunmöglicht?

Es war für den Bundesrat eine schwierige Abwägung. Entweder die Diskussionen vertiefen und die Fachgesellschaften einzeln abholen – dafür wäre eine Inkraftsetzung erst per 2027 möglich gewesen. Oder rasch finalisieren und dafür 2026 anstreben. Der Bundesrat hat sich – auch nach Gesprächen mit den Tarifpartnern – für die rasche Variante entschieden. Wir sind uns im Verwaltungsrat absolut bewusst, dass es bei den Pauschalen, wie wir sie heute vorschlagen, noch Verbesserungspotenzial gibt.

Was heisst das konkret?

Ein Tarif für medizinische Behandlungen sollte möglichst gut die Realität in Praxen und Spitalambulatorien abbilden. Deshalb muss man ihn fortlaufend weiterentwickeln. Bei den 2012 eingeführten stationären Spitalpauschalen sind wir schon bei Version 15! Bei den neuen ambulanten Pauschalen müssen wir uns vorerst auf die Daten der Spitäler abstützen. Aber wir werden immer mehr Informationen bekommen, auch aus den Praxen, und können die Pauschalen so verbessern. Es ist ein lernendes System.

Offensichtlich haben die Spezialisten die Geduld nicht, auf solche Verbesserungen zu warten.

Wir haben extra die Zahl der Pauschalen, die anfänglich zum Einsatz kommen, nochmals um mehr als die Hälfte reduziert. Und bei der zweiten Version wollen wir uns darauf konzentrieren, die bestehenden Pauschalen zu überarbeiten, statt bereits weitere Pauschalen zu entwickeln. Ich kann die Kritik der Spezialisten nicht wirklich nachvollziehen, wenn ich sehe, dass vorerst nur rund 10 Prozent ihrer Behandlungen in den Praxen betroffen sein werden. Klar ist auch: Für Haus- und Kinderärzte wird es keine Pauschalen geben.

Es ist doch zumindest fragwürdig, dass in einzelnen Pauschalen sehr unterschiedliche Behandlungen vereint sind. Etwa jene für Verbrennungen: Sie umfasst ein heterogenes Gebiet – von einer Fingerkuppe, die jemand in die Geburtstagskerze gehalten hat, bis zur Verbrühung der ganzen Brust und des Bauchs.

Das ist ein hypothetisches Beispiel. Jemand, der starke Verbrennungen hat, wird doch nicht in einem Ambulatorium verarztet und nachher wieder nach Hause geschickt. Nein, das ist ein Fall für die hochspezialisierte Medizin, inklusive eines längeren Spitalaufenthalts. Es geht dann nicht mehr um ambulante Pauschalen. Aber grundsätzlich ist es möglich, die Pauschalen künftig zu differenzieren. Wenn wir in den Daten sehen, dass die Behandlungen, die unter eine Pauschale fallen, sich bezüglich Aufwand zu stark unterscheiden, werden wir daraus zwei Pauschalen machen.

Sehen Sie keine Gefahr, dass sich die Ärzte auf jene Behandlungen konzentrieren, die kurz dauern, aber die gleich hohe Pauschale ergeben wie längere Eingriffe?

In jedem System gibt es Fehlanreize. Aber unsere Ärzte sind Profis, sie haben den hippokratischen Eid geleistet. Ich gehe davon aus, dass sie nicht mit solchen Sachen spielen und alles dem Profit unterordnen.

Die Spezialisten warnen aber auch davor, dass gewisse Eingriffe in der Schweiz künftig nicht mehr angeboten würden, weil sie stark defizitär seien.

Es gibt in jedem Spital schon heute Behandlungen, die hoch defizitär sind – und trotzdem werden sie gemacht. Gute Medizin stellt doch den Patienten und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt! Und eben: Wir werden das System weiter verfeinern, so dass es immer weniger Eingriffe geben wird, die stark unter- oder übertarifiert sind.

Geht es den Spezialärzten auch darum, ihre hohen Einnahmen zu verteidigen?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Unsere Simulationen zeigen, dass die Praxen im Durchschnitt durch die Pauschalen nicht weniger Geld verdienen sollten als heute. Mich irritiert etwas anderes: Manche Ärzte wollen nicht sehen, welch riesige Chance wir jetzt hätten.

Welche Chance meinen Sie?

Wir können das Gesundheitswesen auf eine völlig neue Grundlage stellen. Dies dank zwei Reformen: Die Pauschalen und der Tardoc betreffen die Tarife. Und die Vorlage, die im November zur Abstimmung kommt, sichert die einheitliche Finanzierung dieser Leistungen. Zusammen beseitigen diese Reformen die grossen Fehlanreize, die wir heute haben. Und sie geben uns die Werkzeuge, um endlich die Ambulantisierung voranzutreiben.

Warum ist es wichtig, mehr Behandlungen ambulant statt stationär durchzuführen?

Ambulante Eingriffe sind nicht nur deutlich günstiger. Sie senken auch das Infektionsrisiko und brauchen weniger Personal. Das ist angesichts des Fachkräftemangels essenziell.

Unzufrieden sind auch die Kinderspitäler: Die neuen Pauschalen nähmen keine Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse der Kindermedizin, etwa dass eine Behandlung mehr Zeit braucht und es besonders viele Patienten mit seltenen Krankheiten gibt. Lassen Sie die Kinderspitäler ausbluten?

Natürlich nicht. Die Kinderspitäler klagen schon lange, dass sie zu tiefe Vergütungen bekommen, besonders für ambulante Behandlungen. Ich verstehe diese Position. So haben wir im Kanton Bern soeben entschieden, die Kinderklinik der Insel stärker zu unterstützen. Aber die Tarifreform bringt auf jeden Fall einen Fortschritt für die Kindermedizin, für die der heutige Tarmed besonders schlecht ist. Wir wollen, dass der Tardoc und die Pauschalen die Kosten künftig auch für die Kinderspitäler decken.

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