Um Tiktok, Facebook und X zu regulieren, greifen demokratische Staaten zu autoritären Mitteln. Das ist gefährlich.
Die sozialen Plattformen geraten in den Fokus der Politik. Nicht, dass es bisher keine Versuche zur Regulierung von Facebook, X oder Tiktok gegeben hätte. Doch die Behörden scheinen meist einen Schritt hinterherzuhinken. Sie können sich nicht richtig durchsetzen. Nun schlagen die ersten Staaten eine härtere Gangart ein. Das allerdings ist problematisch.
Brasilien hat am Freitag den Zugang zur Plattform X, vormals Twitter, gesperrt. Der Oberste Gerichtshof hatte die Sperrung nach einem monatelangen Streit verfügt. X hatte sich geweigert, auf richterliche Anordnung Nutzerdaten herauszugeben und Konten zu sperren, die Falschinformationen verbreitet und zum Sturm auf Gebäude in der Hauptstadt Brasilia aufgerufen haben sollen. Im Januar 2023 kam es zu Protesten von Anhängern des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro.
In diesen politischen Streit zwischen den Linken und den Bolsonaro-Anhängern hatte sich auch der Besitzer von X, der Tech-Milliardär Elon Musk, eingemischt. Er spricht von «Zensur» des Gerichts und wird von den Rechten dafür gefeiert. Nachdem X dem Gerichtshof keinen neuen Rechtsvertreter des Unternehmens in Brasilien bekanntgegeben hatte, kam es nun zur Sperre.
Ein ähnlicher Konflikt sorgte kürzlich ebenfalls für Schlagzeilen. Die französischen Behörden verhafteten am 24. August den Gründer und Chef von Telegram, Pawel Durow, als dieser mit seinem Privatflugzeug in Paris landete. Telegram ist ein Messenger-Programm, das aber in seiner Funktionsweise mit riesigen Gruppen und administrierten Kanälen eher einer sozialen Plattform entspricht.
Der Vorwurf gegen Durow lautet, dass Telegram kriminelle Aktivitäten wie Drogenhandel, Kindsmissbrauch, Betrug oder Terrorvorbereitung in seinen Kanälen dulde und kaum dagegen vorgehe. Inzwischen ermitteln die französischen Behörden gegen Durow wegen Beihilfe zu Verbrechen und deren Verschleierung sowie wegen der Weigerung, den Behörden angeforderte Informationen bereitzustellen. Er ist auf Kaution entlassen.
Staaten können ihre Gesetze nicht durchsetzen
Extremistische Inhalte oder Abbildungen von sexuellem Kindsmissbrauch sind in den sozialen Netzwerken ein Problem. Dass Telegram solche Aktivitäten toleriert, keine Inhalte sperrt und nicht einmal mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitet, ist stossend. Die Plattformen haben eine Verantwortung, der sie sich nicht einfach entziehen können, indem sie auf die Meinungsfreiheit verweisen.
Dass Gerichte und Sicherheitskräfte ihre Möglichkeiten ausschöpfen, um an gewünschte Informationen heranzukommen, überrascht deshalb nicht. Soziale Plattformen müssen mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten.
Gleichzeitig sind die Sperre von X in Brasilien und die Verhaftung Durows in Frankreich auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Die Staaten bekunden Mühe, sinnvolle Regulierungen für soziale Plattformen zu finden und gesetzliche Bestimmungen gegen die Tech-Unternehmen durchzusetzen. Dass mit Musk und Durow zwei offensichtlich eher egozentrische Personen mit einer radikalen Haltung zur Meinungsfreiheit betroffen sind, erschwert die Rechtsdurchsetzung zusätzlich.
Die staatliche Regulierung der sozialen Plattformen geschah lange nur zurückhaltend. Das mag erstaunen. Denn die Tech-Firmen formen mit ihren Inhalten und Algorithmen auf Tiktok, X oder Facebook die Öffentlichkeit. Hingegen verlieren traditionelle Akteure wie Medien, Wissenschaft oder Parteien an Glaubwürdigkeit und Einfluss.
Inzwischen gelten soziale Netzwerke oft als Haupttreiber unerwünschter Entwicklungen. Der Terroranschlag von Solingen in Deutschland entfachte eine Diskussion über die Radikalisierung Jugendlicher auf Tiktok. Staatliche Desinformationskampagnen, welche die öffentliche Meinung beeinflussen sollen, sind auf Facebook oder X der normale Alltag. Telegram dient Extremisten und Kriminellen als Ort des geschützten Austausches.
Frankreich hat wegen Unruhen Tiktok abgeschaltet
Die Tech-Unternehmen schaffen mit ihren Plattformen zwar keine neuen Phänomene. Aber sie verstärken unerwünschte Strömungen oder erleichtern bestehende Entwicklungen. Die sozialen Netzwerke sind weltumspannend, kaum reguliert und weitgehend anonym. Kein Wunder, dass sie problematische Aktivitäten anziehen.
Die Politik wiederum ist hektisch damit beschäftigt, die schlimmsten Auswüchse der sozialen Plattformen zu bekämpfen. Doch nicht immer kommen dabei die besten und effektivsten Mittel zur Anwendung. Wenn Staaten gar zu autoritären Methoden greifen, ist das verheerend.
Dass ausgerechnet Frankreich bei Telegram rigoros gegen dessen Chef vorgeht, passt zu einem anderen Fall. Staatspräsident Emmanuel Macron, der eine Faszination für Tech-Unternehmer wie Musk oder Mark Zuckerberg haben soll, propagierte im Zusammenhang mit gewalttätigen Krawallen vor einem Jahr in Paris, dass in solchen Fällen soziale Plattformen vorübergehend abgeschaltet werden könnten.
Im Mai nun griff Frankreich tatsächlich zu diesem Mittel. Wegen Unruhen in der zu Frankreich gehörenden Überseeregion Neukaledonien sperrten die Behörden die Video-App Tiktok, um so angeblich die Kommunikation zwischen den Randalierern zu erschweren und die Verbreitung von Falschmeldungen zu verhindern. Das Magazin «Politico» schrieb von einem «erstmaligen Schritt innerhalb der Europäischen Union».
Tatsächlich hat Frankreich damit zu einem Mittel gegriffen, das sonst in deutlich weniger freiheitlichen Staaten oder in autoritären Regimen zur Anwendung kommt. In den letzten Monaten haben Staaten wie Tansania, Bangladesh oder die Türkei aus politischen Gründen den Zugang zu bestimmten Plattformen eingeschränkt. Weitergehende Sperren gibt es zudem schon länger in Ländern wie Iran oder China.
In Deutschland zeigt sich nach der mutmasslich islamistisch motivierten Messerattacke eines Syrers ebenfalls ein häufiger politischer Reflex. Zum Massnahmenkatalog gegen Terror, den die Bundesregierung vor wenigen Tagen vorgestellt hat, gehören Mittel der Überwachung. Die Behörden sollen Informationen aus dem Internet mittels Gesichtserkennung auswerten können. Und das Bundeskriminalamt soll zur automatisierten Datenanalyse künstliche Intelligenz einsetzen dürfen.
Wunsch nach Überwachung ist verständlich
Wenn Jugendliche sich auf Tiktok radikalisieren, so ein häufiger Gedanke, dann müsste es doch auch möglich sein, mittels Überwachung der sozialen Netzwerke die potenziellen Täter frühzeitig zu erkennen und an ihrer Tat zu hindern. Diese Idee erscheint einleuchtend: Die Strafverfolgungsbehörden sollten die technologischen Mittel nutzen, um dank automatisierten Algorithmen Straftaten zu verhindern.
Doch dieses Vorgehen ist gefährlich. Denn konsequent angewendet führt eine solche Früherkennung zu einer Massenüberwachung im Internet. Die automatische Auswertung von Informationen muss so umfassend sein, dass auch Angaben von unschuldigen und harmlosen Nutzern betroffen sind. Zudem führen gelegentliche Fehler des Algorithmus zu einer falschen Beschuldigung, welche die betroffene Person dann selbst entkräften muss. Der Weg hin zur perfekten Dystopie ist kurz.
Der Glaube an die Technologie trübt zudem den Blick. Nicht jedes Problem, das sich auf Tiktok, Instagram oder Telegram manifestiert, kann durch Überwachung oder die Regulierung dieser Plattformen gelöst werden. Um radikalisierte Jugendliche rechtzeitig zu erkennen, ist eine umfassende Überwachung vielleicht gar nicht das beste Mittel. Stattdessen könnten Prozesse und Strukturen, um mögliche Gefährder zu melden und anzusprechen, viel effizienter funktionieren.
Für demokratische Staaten stellt sich noch ein weiteres Problem. Sie geben mit jeder zusätzlichen Überwachung, die ohne Anfangsverdacht erfolgt, ein Stück ihrer freiheitlichen Gesellschaft preis. Sie verwenden die gleichen Mittel, die der Westen bei autoritären Staaten wie China, Russland oder Iran verurteilt. Die Demokratien machen sich im äussersten Fall mit ihrem Bekenntnis zur liberalen Gesellschaft unglaubwürdig.
Geschäftsmodell der sozialen Plattformen ist die Ursache
Wenn demokratische Staaten tatsächlich zu autoritären Mitteln wie Internetsperren oder verdachtsunabhängiger Überwachung greifen wollen, muss dieser Schritt gut überlegt und breit abgestützt sein. Denn wenn westliche Gesellschaften ihre Freiheiten einschränken, ist das ein Erfolg für jene Kräfte, die mit Terror oder mit Desinformationskampagnen gegen den Westen ankämpfen.
Die Aktivitäten der Behörden, welche die sozialen Plattformen zu zähmen versuchen, sind oft nur Symptombekämpfung. Das Problem der sozialen Plattformen liegt tiefer. Die Algorithmen sorgen dafür, dass die Nutzer immer mehr vom gleichen Inhalt zu sehen bekommen. Das Geschäftsmodell ist auf Aufmerksamkeit ausgelegt, was nach immer krasseren und extremeren Inhalten verlangt. Solange die Gesellschaft soziale Plattformen mit diesen Eigenschaften nutzt und akzeptiert, muss sie auch mit den Folgen leben.