Glaubt man Schweizer Medien, beherrscht der ungarische Ministerpräsident alle Zeitungen und öffentlichen Sender. Orbans Problem ist vielmehr, dass er die Medien nicht unter Kontrolle hat. Das rächt sich nun.
Im Boulevardblatt «Blikk», der grössten Zeitung in Ungarn, ist der Politiker Peter Magyar derzeit fast täglich in den Schlagzeilen. Der «Blikk» dokumentiert gern und ausführlich sein Privatleben und zeigt ihn im Fitnessstudio, wo er seine Muskeln präsentiert.
Beim Fernsehsender RTL Klub, dem grössten TV-Kanal in Ungarn, ist der Politiker Peter Magyar ebenfalls Dauergast. RTL interviewt ihn gern und ausführlich im Studio und zeigt ihn auf Veranstaltungen von Budapest bis Debrecen, wo ihn seine Anhänger feiern.
Peter Magyar ist Ungarns populärster Oppositionspolitiker. Lange war er ein treuer Gefolgsmann von Ministerpräsident Viktor Orban und gar mit dessen Justizministerin verheiratet. Vor einem Jahr wechselte er spektakulär die Seite und liess sich scheiden.
Die führenden Medien Ungarns sind allesamt Orban-kritisch
Heute liegt Peter Magyar in den Umfragen gleichauf mit Viktor Orban. Für Orban ist das eine Novität. Seit seiner Wahl im Jahr 2010 gab es noch nie einen politischen Widersacher, der ihm auch nur annähernd das Wasser reichen konnte.
Der spektakuläre Aufstieg des Oppositionspolitikers Peter Magyar und seiner Tisza-Partei gründet zu gutem Teil auf seiner Unterstützung durch die Journalisten. Sie haben, von «Blikk» bis RTL, Orbans Widersacher gross herausgebracht. Denn die führenden Medien Ungarns sind allesamt Orban-kritisch.
Aber hallo, denken Sie nun, bisher habe ich doch immer gehört und gelesen, dass Orban die Medien in Ungarn total im Griff habe und beherrsche. Orban, sagt etwa die «Tagesschau» von SRF, «hat die Medien auf seinen Kurs gebracht». Der «Tages-Anzeiger» schreibt über Orban: «Sämtliche Massenmedien sind unter seiner Kontrolle.»
Das ist nun der grösste Blödsinn, den ich jemals über Ungarn gelesen habe. Das Problem von Orban ist in Wirklichkeit, dass er die Massenmedien nicht unter Kontrolle hat.
«Orban ist Sperma», lautet eine «Blikk»-Schlagzeile
Die grossen TV-Kanäle, Zeitungen, Nachrichtenmagazine und Online-Portale Ungarns sind weitgehend regierungskritisch. Unter den im Markt führenden Blättern und Sendern steht kaum jemand auf der Seite von Viktor Orban und seiner Fidesz-Partei. Ich habe jahrelang in Budapest gelebt, und ich kenne dort viele Journalisten und Verlagsleute. Ich gebe darum aus Ortskenntnis gerne einen Überblick über die ungarische Medienbranche.
Die grösste Zeitung Ungarns ist das Boulevardblatt «Blikk», das zu Ringier gehört. Der «Blikk», wie sein Schweizer Schwesterblatt «Blick», fährt einen unabhängigen bis linksliberalen Kurs. Er gehört ins Orban-kritische Lager. «Wir halten Distanz zu Orban und seiner Fidesz», sagt der Chefredaktor.
Die bisher aggressivste Schlagzeile von Ringiers «Blikk» war ein publikumswirksamer Volltreffer. «Orban egy geci», lautete sie, auf Deutsch: «Orban ist Sperma». Die despektierliche «Blikk»-Schlagzeile wurde dann von Orbans Gegnern überall in Budapest auf die Hausmauern gesprayt.
Die grösste klassische Tageszeitung wiederum ist die sozialistische «Nepszava». Sie schiesst täglich aus allen Rohren gegen den Ministerpräsidenten. Sie gehört einem steinreichen Unternehmer, der von Orban rein gar nichts hält. Das grösste Nachrichtenmagazin des Landes ist «HVG». Es ist dezidiert auf Anti-Orban-Kurs. Zu dessen Ärger hat sich das Blatt darauf spezialisiert, dubiose Hinterzimmerabsprachen zwischen der Regierungspartei und der Wirtschaft aufzudecken.
«Wir lassen uns nicht einschüchtern»
Der grösste TV-Sender, seit zwanzig Jahren, ist RTL Klub. Er ist eine Tochter des deutschen Medienkonzerns Bertelsmann. RTL ist im Anti-Orban-Lager, seit der Ministerpräsident 2015 versuchte, den regierungskritischen Sender mit einer TV-Werbesteuer zu disziplinieren. «Wir lassen uns nicht einschüchtern», sagt der Bertelsmann-Konzernchef Thomas Rabe.
RTL ist auch darum so stark, weil in Ungarn der öffentliche Rundfunk extrem schwach ist. Die sieben Kanäle, die im Besitz der Regierung sind, haben zusammen einen Marktanteil von gerade einmal 10 Prozent. Nirgendwo sonst in Europa hat ein öffentlicher Sender derart schlechte Einschaltquoten. Niemand in Ungarn schaut das staatliche Orban-TV.
Im Internet, in Osteuropa der wichtigste News-Kanal, erlitt Orban eine besonders heftige Niederlage. Im Jahr 2020 übernahm ein Orban-Vertrauter den zuvor führenden und unabhängigen News-Kanal «Index.hu». Er kaufte ihn, um ihn auf regierungsnahen Kurs zu bringen. Alle achtzig Redaktoren kündigten darauf und gründeten das neue Portal «Telex.hu». In kurzer Zeit wurde die Neugründung die Nummer eins im News-Markt. Seitdem attackiert sie Orban im Tagesrhythmus. Dahinter folgen mit den unabhängigen «24.hu» und «Blikk.hu» eine ganze Reihe von ebenso regierungskritischen Online-News-Sites.
Nur in einem Mediensegment hat die Regierung die Marktleader auf ihrer Seite. Retro Radio und Radio 1, die zwei grössten Radiosender des Landes, gehören politischen Verbündeten von Viktor Orban. Nur, das spielt keine Rolle. Beide sind reine Hitsender ohne politische Sendegefässe im Programm.
Orban hat Medienmacht – in der Provinz
Fassen wir zusammen: Viktor Orban hat keinen Einfluss auf die grösste Boulevardzeitung des Landes, keinen Einfluss auf die grösste Tageszeitung des Landes, keinen Einfluss auf das grösste Newsmagazin des Landes, keinen Einfluss auf den grössten TV-Sender des Landes und keinen Einfluss auf das grösste Online-Portal des Landes. Alle stehen in kritischer Distanz zu Orbans Regime.
Es braucht darum schon eine gute Portion an journalistischer Phantasie, um zu sagen, Orban habe «alle kritischen Medien unter seine Kontrolle gebracht», wie es das Schweizer Fernsehen formulierte.
Die grössten Erfolge erreichten die Anti-Orban-Medien bisher bei den Bürgermeisterwahlen in Budapest. Im Jahr 2019 agierten sie vereint gegen Orbans Fidesz-Partei und brachten dadurch ihren rot-grünen Gegenkandidaten durch. Der Wahlerfolg wiederholte sich 2024. Budapest, wie rund ein Drittel der ungarischen Städte, ist seitdem fest in linker Hand.
Nun ist Budapest wie Zürich und Berlin. In grossen Städten wählt man links und grün, auf dem Land wählt man konservativ. Und es ist auch in den Medien wie in Zürich und Berlin. In den grossen Städten sitzen die sogenannt progressiven Redaktionen und TV-Stationen. Konservative Blätter und Sender finden sich eher ausserhalb der City.
In Ungarn ist es genauso. Orbans Macht, auch seine Medienmacht, liegt ausserhalb von Budapest. Er ist der Held der ländlichen Bevölkerung. Dort holt er seine Stimmen, die ihm bei der letzten Wahl zu landesweiten 54 Prozent und damit zur absoluten Mehrheit im Parlament verhalfen. Orban kann dadurch problemlos durchregieren.
Auf dem Land hat er auch die Medien tatsächlich im Griff. Kesma heisst hier sein Vehikel, eine regierungsnahe Stiftung. Rund 400 meist kleinere Blätter, TV-Kanäle und Online-Seiten haben sich zu einem Medienverbund zusammengeschlossen. Die Lokalzeitungen aus Ungarns Provinzen sind fast lückenlos vertreten. Der Verbund ist vollkommen regierungstreu. In der Provinz hat Orban alles unter Kontrolle, auch die Medien.
Via Kesma kann Orbans Regierungspartei die ländliche Bevölkerung fast nahtlos erreichen. Als Gegenleistung bekommen die Medienhäuser der Kesma-Stiftung gegen 200 Millionen Franken im Jahr an zentralen Werbegeldern. Sie fliessen aus den Budgets der Regierung und den staatseigenen Energiekonzernen. Die regierungskritischen Medienhäuser wie Ringier hingegen werden bei den staatlichen Werbeausgaben weitgehend geschnitten.
Sein Gegner wird wie ein Heiliger gefeiert
Auf die regierungsnahen Medien wie die Traditionszeitung «Magyar Nemzet» und den Sender TV2 ist denn auch Verlass, wenn es gilt, Orbans neuen Widersacher Peter Magyar niederzumachen. Zu dessen Scheidung etwa berichteten sie begeistert über allerlei seltsame Videos, die dabei aufgetaucht waren. Und als der Oppositionspolitiker Magyar diesen Sommer von der Polizei schwer betrunken aus einem Nachtklub abgeführt werden musste, überschlugen sich die Schlagzeilen der Orban-treuen Medien.
Viel genützt hat es nicht. Die in Budapest dominierenden Anti-Orban-Medien feiern Peter Magyar konsequent als den kommenden Mann. Das Newsmagazin «HVG» hebt ihn als heiligen St. Georg aufs Titelbild, der gegen den bösen Drachen Viktor kämpft. Der TV-Sender RTL Klub begleitet ihn hautnah bei seinen inszenierten Demonstrationen und berichtet, ziemlich übertrieben, von 300 000 Teilnehmern, die ihm zugejubelt hätten. Und der Online-Marktleader «Telex» fährt für seinen politischen Favoriten eine Kampagne unter dem ebenso pompösen wie entlehnten Titel «X-Factor: Das Unfassbare».
In achtzehn Monaten sind Wahlen in Ungarn. Viktor Orban wird erneut antreten. Bis dahin wird er sein grösstes Problem nicht los: Er hat die Medien nicht unter Kontrolle.
Kurt W. Zimmermann war unter anderem Chefredaktor der «Sonntags-Zeitung» und Herausgeber des Magazins «Facts». Heute ist er Medienkolumnist der «Weltwoche». Er ist mit einer Ungarin verheiratet und lebte lange in Budapest.