Ausfälle und Maskenpflicht an der Tour de France, Marlen Reussers Olympia-Verzicht – was Infektionen für Spitzensportler bedeuten. Und was die Corona-Pandemie verändert hat.
Im Frühsommer wurde der Radfahrerin Marlen Reusser präventiv ein Zahn gezogen. Es bestand die Möglichkeit, dass dieser eiterte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das medizinische Team um Reusser bereits alles versucht, um herauszufinden, weshalb es ihr nach einem Frühling mit Sturzverletzungen sowie einer Erkältung immer noch nicht gutging: Eine bakterielle Infektion schloss das Team aus; es suchte Infektionsherde, machte ein Computertomogramm der Nasennebenhöhlen. Letztlich kam es zur Erkenntnis, dass ein Virus schuld sein müsse.
Nun verzichtet die 32-Jährige auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris. Seit zwei Monaten kann sie nur reduziert trainieren, hochintensive Belastungen sind unmöglich. Ob sie bis zu den Rad-Weltmeisterschaften in Zürich Ende September wieder ihre Bestform erreicht? Völlig unklar.
News from @TeamSDWorx-Protime: sadly, Marlen Reusser will not participate in the #ParisOlympics. She has been battling post-infectious syndrome following a challenging year. Her resilience and spirit are an inspiration! 💪 Wishing you a speedy recovery, Marlen. 💗 #CyclingNews pic.twitter.com/qJAVh9AK2P
— SD Worx (@SDWorx) July 17, 2024
Viruserkrankungen und Ausdauersport auf höchstem Niveau beschäftigen die Sportmedizin und -wissenschaft schon lange. Seit der Corona-Pandemie aber ist das Thema noch präsenter – die grössere Anzahl von Fällen hatte mehr Untersuchungen und eine Sensibilisierung zur Folge. Früher resultierten vor allem durch den Epstein-Barr-Virus (auch Pfeiffersches Drüsenfieber genannt) längere Sportpausen für Sportlerinnen und Sportler; heute ist das Coronavirus die häufigste Ursache.
Zurzeit kursiert dieses hauptsächlich in einer neuen Variante, genannt Flirt. Sie hat sich unter anderem im Feld der Tour de France so verbreitet, dass für alle Personen mit direktem Kontakt zu den Fahrern eine Maskenpflicht gilt. Ansteckungen erfolgen vor allem bei den Kontakten zwischen den Etappen; die Tröpfcheninfektion während des Fahrens im Peloton ist vernachlässigbar. Fahrer wie Thomas Pidcock oder Juan Ayuso mussten die Tour mit Symptomen verlassen, andere wie Geraint Thomas fuhren trotz positivem Test weiter.
«I’m not feeling great, the doctor is monitoring me»
Geraint Thomas spoke about Tom Pidcock abandoning the race with COVID-19 and his own health 🏴#TDF2024 pic.twitter.com/RZo2LaxI7d
— ITV Cycling (@itvcycling) July 13, 2024
Nach intensiven Belastungen wird die Immunabwehr unterdrückt
Ausdauersportler sind generell anfälliger auf Infekte. In Phasen von intensiven Belastungen wird die Immunabwehr während eines gewissen Zeitfensters teilweise unterdrückt, da der Körper mit den Folgen des Trainings beschäftigt ist. Infekte innerhalb eines Teams sind dann besonders mühsam, wie es die Schweizer Delegation an den Olympischen Spielen in Pyeongchang etwa mit dem Norovirus erlebte.
An den Sommerspielen in Paris wird der Swiss-Olympic-Chefarzt Hanspeter Betschart erstmals einen Biofire dabei haben. Das ist eine Maschine, die innert kürzester Zeit über zwanzig der häufigsten Erreger nachweisen kann. Das ist sinnvoll, weil so die entsprechenden Isolationsmassnahmen getroffen werden können.
Viruserkrankungen können lokal oder systemisch sein. Tritt ein Infekt nur lokal auf, läuft zum Beispiel die Nase oder hat der Athlet leichte Halsschmerzen. In einem solchen Fall kann der betroffene Athlet in einem Zweierzimmer bleiben und darf weiterhin moderat Sport treiben. Ist der Infekt hingegen systemisch, ist also der ganze Körper betroffen und das Halsweh wird von geschwollenen Lymphknoten oder Fieber begleitet, muss der Athlet isoliert werden und die sportliche Aktivität unterbrochen.
Sich während der Tour de France von einem grippalen Infekt zu erholen, sei für den Körper nicht möglich, sagt Patrik Noack, der Chefarzt von Swiss Cycling.
Für die Rückkehr zum Sport hat Swiss Olympic ein Merkblatt zusammengestellt, das die wichtigsten Schritte festhält. Die Stufe null, die beginnt, sobald man symptomfrei ist, sieht fünf Tage ohne Sport vor, erlaubt sind nur Gehen und Alltagsaktivitäten. Belastungsintensität und -umfang werden dann schrittweise erhöht.
Wer zu früh wieder beginnt, riskiert gesundheitliche Schäden. Ein solcher ist eine Herzmuskelentzündung, die schwer, aber selten ist. Häufiger ist die postinfektiöse Müdigkeit, wie sie Marlen Reusser zurzeit erlebt, und zu der auch Long Covid zählt. Dabei erleidet die Sportlerin immer wieder Rückschläge, wenn sie die Belastung steigert, auch wenn auf der tieferen Belastungsstufe alles reibungslos lief.
Im Extremfall erreicht eine Athletin nie mehr ihr früheres Leistungsniveau. Das prominenteste Beispiel ist die frühere 800-Meter-Europameisterin Selina Rutz-Büchel, die ihre Karriere im Herbst 2022 wegen Long Covid beenden musste.
Nach einer Erkrankung das richtige Timing für die Belastungssteigerung zu finden, ist schwierig. Den Körper sehr genau zu beobachten, hilft dabei. Etwa das Monitoring des Ruhepulses – ist dieser erhöht, deutet das darauf hin, dass der Körper nicht erholt ist. Um Abweichungen festzustellen, muss der Athlet die Werte aber schon vor der Krankheit aufgezeichnet haben. Zudem ist ein enger Austausch mit der Trainerperson wichtig: Wie habe ich mich im Training gefühlt? Dafür gibt es Skalen, anhand deren man sein Empfinden einordnen kann. An dieser Selbstüberprüfung führt kein Weg vorbei; trotz Forschung lässt sich ein Übertraining nicht mittels Blutwerten feststellen.
Durch die gehäuften Viruserkrankungen seit der Corona-Pandemie haben die Mediziner dennoch neue Erkenntnisse gewonnen. So wurde bei zahlreichen Athleten nach der Erkrankung eine dysfunktionale Atmung festgestellt: Sie waren gesund und leistungsfähig, bekamen aber bei hochintensiven Belastungen nicht genügend Luft. Bei den meisten hatte ein Asthmamittel oder eine Atemtherapie Erfolg.
Die Athleten werden heute enger begleitet
Die Konsequenz der stärkeren Beschäftigung mit den Folgen von Viruserkrankungen: «Wir begleiten die Athleten heute enger», sagt Patrik Noack. Früher habe man bei einem Nachweis des Epstein-Barr-Virus ein paar Wochen Pause verordnet und dann den nächsten Kontrolltermin abgemacht.
Heute werden in kürzeren Abständen etwa die Leberwerte oder die Grösse der Milz überprüft. Als Zweites gibt das medizinische Personal den Profisportlern klarere Leitlinien, was sie machen dürfen – und seien es nur 15 Minuten Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht. «Und wir müssen darauf achten, dass sie keine Fehler machen.»
Das betrifft zum Beispiel die Ernährung. Der Körper benötigt zum Gesundwerden Energie. Wichtig in dieser Phase wären also auch Kohlenhydrate. «Der erste Reflex eines Sportlers in einer Phase ohne Training ist aber oft eine Diät.» In einer Zwangspause auch noch zuzunehmen, kann je nach Sportart zusätzlich frustrieren und Athleten unter Druck setzen. Bei all diesen Herausforderungen kann ein Team aus Betreuern wie Mentaltrainern, Ärztinnen und Ernährungsberatern helfen.
Häufig ist das Wissen da, was zu tun wäre, aber es wird nicht danach gehandelt. Das trifft oft dann zu, wenn der Erfolgsdruck hoch ist. Etwa bei jungen Radfahrern, die nur einen Einjahresvertrag haben und sich durch gute Leistungen empfehlen wollen. Noack hat erlebt, wie solche trotz Infekt Rennen gefahren sind. Das kann gutgehen, bloss ist die Gefahr gross, dass die nachfolgende Erholungsphase viel länger dauert.
Marlen Reusser about why she can’t take part in the Olympic Games. Get well soon Marlen ❤️🩹 pic.twitter.com/W5o4ZsZQxj
— Team SD Worx – Protime (@teamsdworx) July 15, 2024
Diese Taktik war auch eine Option bei Marlen Reusser, die ungefähr bei 80 oder 90 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit steht. Sie diskutierte mit dem Team, ob sie einen Start in Paris versuchen sollte. Dies hätte aber das Aus für die Heim-WM bedeuten können. Das wollte Reusser nicht riskieren – schon gar nicht, wenn die Chance auf eine Olympiamedaille so klein ist wie in der gegenwärtigen Verfassung.