Sonntag, Dezember 1

Was heute ein Standardverfahren zur Behandlung von grauem Star ist, geht auf eine verrückte Idee zurück. Am 29. November 1949 implantierte der englische Arzt Harold Ridley einer Frau eine Linse aus Acrylglas vom Flugzeugbau.

Für Flight Lieutenant Gordon Cleaver war der Krieg am 15. August 1940 vorbei. Zwei Tage nach dem «Adlertag», mit dem die heisse Phase der Luftschlacht um England begann, wurde die Kanzel des Cockpits seines Hurricane-Jagdflugzeugs im Luftkampf von der Maschinengewehrgarbe eines feindlichen Jägers zerfetzt.

Cleaver bekam Splitter in beide Augen. Obwohl fast blind, gelang ihm der Ausstieg aus der Maschine und eine sichere Landung mit dem Fallschirm. Einige Tage später wurden seine schwerverletzten Augen von einem jungen Arzt im Dienst der Royal Air Force untersucht. Sein Name war Harold Ridley.

Immer wieder hat es in der Geschichte der Wissenschaft jenen Heureka-Moment gegeben, in dem eine unerwartete Beobachtung einen Prozess in Gang setzt, an dessen Ende eine vorher nicht für möglich gehaltene Innovation steht. Der damals 34-jährige Ridley erlebte diesen Moment, als er Cleavers Augen mit seiner Spaltlampe in starker Vergrösserung betrachtete.

Die Splitterverletzung war schwer, doch etwas fehlte: Es lag keine Immunreaktion vor – das Auge und mit ihm der Körper Cleavers wehrte sich nicht gegen die kleinen Fremdkörper. Das Kanzeldach bestand aus dem Kunststoff Acrylat. Im Laufe des Krieges behandelte Ridley weitere Flieger mit ähnlichen Fremdkörperverletzungen. Und auch hier gab es keine Abstossungsreaktion.

Ridley kam ein unerhörter Gedanke: Könnte es möglich sein, aus diesem Material – seine genaue Bezeichnung lautet Polymethylmethacrylat oder PMMA – eine künstliche Version eines kleinen Organteils herzustellen, der bei einem der häufigsten Eingriffe in der Medizin bisher ersatzlos entfernt wurde?

Der graue Star wurde schon in der Antike operiert

Die Rede ist von der Operation des grauen Stars, auch bekannt als Katarakt, also der meist altersbedingten Trübung der Linse des Auges. Als einer der ältesten bekannten chirurgischen Eingriffe ist er aus der Antike, der europäischen wie auch der indischen, dokumentiert und wurde über Jahrhunderte als «Starstich» durchgeführt.

Dabei stachen spezialisierte Heilkundige, sogenannte «Starstecher», mit einer Nadel in das Auge des typischerweise bereits erblindeten Patienten und drückten die trübe Linse aus ihrer natürlichen Halterung in den Glaskörper des Auges – eine Operation, die aus heutiger Sicht geradezu barbarisch wirkt: Die verunreinigten Starnadeln führten häufig zu schweren Infektionen, und auch die im Glaskörper verbliebene Linse konnte gefährliche Komplikationen auslösen. Im 18. Jahrhundert gingen Chirurgen dazu über, diese bei dem Eingriff aus dem Auge zu entfernen.

So oder so fehlte dem Sehorgan danach seine natürliche Funktion: das Licht so auf der Netzhaut zu bündeln, dass ein deutliches Bild wahrgenommen wird. Patienten, deren Linse in einer Kataraktoperation entfernt wurde, bekamen zum Ausgleich eine sogenannte Starbrille. Sie hatte Gläser so dick wie der Boden einer Glasflasche, drückte aufgrund ihres Gewichtes schmerzhaft auf den Nasenrücken und war von begrenzter optischer Qualität. Eine Alternative waren schon zu Ridleys Zeiten Kontaktlinsen, mit denen gerade ältere Menschen indes oft nicht zurechtkamen.

Ridley wusste: Er war etwas Grossem auf der Spur

Ridley spürte, dass er mit dem immunverträglichen Kunststoffmaterial einer grossen Sache auf der Spur war. Zusammen mit Spezialisten eines optischen Betriebes in London liess er eine künstliche Linse aus Acrylat herstellen. Die historische Operation fand am 29. November 1949 im St. Thomas’ Hospital in London statt.

Die Patientin war eine Krankenschwester des Spitals. Mit 45 Jahren war sie eigentlich zu jung für eine klassische, eben altersbedingte Katarakt. Ihre nur auf einem Auge bestehende Linsentrübung dürfte auf eine der selteneren Ursachen des grauen Stars zurückzuführen gewesen sein: als angeborene Trübung oder als Folge einer im späteren Leben erlittenen Verletzung oder einer schweren Entzündung im Augeninneren.

Die Operation verlief gut und ohne Komplikationen. Wie erhofft löste das Material keine Immunreaktion aus. «Mit der Erfindung der Intraokularlinse war der Weg beschritten, um den nach der Kataraktoperation verbleibenden Brechungsfehler des Auges zu minimieren. Die Starbrille mit all ihren Nebenwirkungen wurde dadurch obsolet», sagt der in St. Gallen und Zürich tätige Kataraktchirurg Daniel Mojon.

Bei der Pionieroperation waren indes die Möglichkeiten, die individuelle Brechkraft der entfernten Linse der Patientin zu messen und jene der künstlichen Intraokularlinse darauf abzustimmen, noch sehr begrenzt – ihr operiertes Auge war nun kurzsichtig.

Die Kollegen waren zunächst «not amused»

Schon zwei Jahre später konnte Ridley jedoch auf einem augenärztlichen Kongress zwei von ihm mit Intraokularlinsen versorgte Patienten vorstellen, die ohne eine Brille ein volles Sehvermögen erreichten. Doch aus dem Kollegenkreis schlug ihm Ablehnung entgegen, zu unerhört war für viele immer noch der Gedanke, körperfremdes Material in das Auge einzubringen.

Erst ab den 1980er Jahren wurden Intraokularlinsen in den Industrienationen zum Standard in der Kataraktchirurgie – nach zahlreichen Verbesserungen wie der Entwicklung eines Halteapparates, der einen sicheren Sitz in der bei der Operation im Auge verbliebenen Linsenkapsel ermöglicht, oder der Einführung von zusammengerollten Linsen, die über einen nur zwei Millimeter langen Schnitt ins Auge eingebracht werden können und sich dort entfalten.

Heute kann man mit der exakten Berechnung der individuell notwendigen Brechkraft bei der Kataraktoperation eine bestehende Fehlsichtigkeit höchst effektiv beheben. «Ridley ermöglichte es nicht nur Millionen von Menschen, sicherer und schöner durch die Welt zu gehen», erklärt Daniel Mojon. «Er legte auch den Grundstein der modernen Kataraktchirurgie, die es zum Beispiel mit Multifokallinsen erlaubt, von nah bis fern ohne Brille scharf zu sehen.»

Mit den jährlich rund 100 000 in der Schweiz vorgenommenen Kataraktoperationen wird somit nicht nur eine Erkrankung des höheren Alters – der graue Star –, sondern gleichzeitig oft auch eine seit der Jugendzeit bestehende Fehlsichtigkeit beseitigt. Wer sich nach einer solchen Operation ohne Brille bester Sehschärfe erfreut, wird die hohe Ehre berechtigt finden, die dem Innovator erst spät zuteilwurde: Im Februar 2000 erhob ihn Queen Elizabeth II. in den Adelsstand. Sir Harold Ridley starb im darauffolgenden Jahr, fast 95 Jahre alt – und mit von einem Kollegen implantierten Intraokularlinsen in beiden Augen.

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