Sollen Flüchtlinge, die aus Italien, Österreich oder Frankreich in die Schweiz kommen, noch Asyl erhalten? Das ist eine der brisanten Fragen, über die das Parlament in dieser Woche entscheidet.
Die Asylpolitik gehört seit Monaten zu den wichtigsten politischen Themen. Die ausserordentliche Session in dieser Woche wird zeigen, wie stark der Druck auf Justizminister Beat Jans gestiegen ist. Und dies sind die wichtigsten Informationen in einer Woche, in der die Flüchtlingspolitik wieder einmal im Zentrum steht:
1. Weshalb kommt es zur ausserordentlichen Asyl-Session?
Gleich beide Kammern haben eine ausserordentliche Asyl-Session traktandiert: der Nationalrat am Dienstag und der Ständerat am Mittwoch. Auslöser dafür sind weniger einzelne Ereignisse als die allgemeine Stimmungslage – sowie die Regeln der Bundesversammlung: Bereits ein Viertel der Mitglieder eines Rates oder der Bundesrat kann eine ausserordentliche Session verlangen. Die SVP hat im letzten Jahr mehrfach solche Sessionen zur Asylpolitik verlangt. Kommende Woche findet in den Räten sogar eine weitere ausserordentliche Session statt – zum EGMR-Urteil über die Klimaseniorinnen.
2. Wie sehen die Asylzahlen im Moment aus?
Der Bund rechnet in diesem Jahr mit gleich hohen Asylzahlen wie im letzten Jahr – nämlich rund 30 000. Die Zahlen bewegen sich damit im Vergleich zu den Vorjahren auf deutlich höherem Niveau – wenn auch nicht ganz so hoch wie Mitte des letzten Jahrzehntes. Das wichtigste Herkunftsland ist nach wie vor Afghanistan.
Zur ausserordentlichen Belastung wird der derzeitige Flüchtlingsstrom aber, weil gleichzeitig Zehntausende von Schutzsuchenden aus der Ukraine gekommen sind. Noch immer leben über 65 000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz. Der Bundesrat beantragte deshalb zusätzlich 185 Millionen Franken für die Unterstützung von Personen mit Schutzstatus S.
Seit kurzem zeichnet sich aber eine leichte Entspannung ab. Laut Staatssekretariat für Migration (SEM) wurden im August 787 (oder rund 26 Prozent) weniger Gesuche eingereicht als im August 2023. Auch gegenüber dem Vormonat ging die Zahl um 50 (–2,2 Prozent) zurück. 2023 war es umgekehrt: Von Juli auf August stieg die Zahl stark an. Eine Ursache dafür dürfte sein, dass wegen des Abkommens zwischen Italien und Tunesien weniger Menschen über das Mittelmeer kommen.
3. Welche Themen stehen im Vordergrund?
Es gibt zahlreiche Vorstösse. Interessant dürfte die Debatte darüber sein, ob Personen, die über einen sicheren Drittstaat ins Land kommen, in der Schweiz überhaupt noch Asyl erhalten sollen. Die SVP will diese Möglichkeit abschaffen. Rechtlich ist dies für die Schweiz als Dublin-Staat kaum möglich. Der Bundesrat sagt zudem, dass eine solche Forderung auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstosse.
In den letzten Wochen hat dieses Thema aber stark an Bedeutung gewonnen, weil eine ähnliche Frage auch in Deutschland intensiv diskutiert wird. Dort ist es die CDU, die die Abweisung von Personen aus sicheren Drittstaaten schon an der Grenze verlangt.
Die SVP will zudem, dass vorläufig Aufgenommene ihre Familie nicht mehr nachziehen dürfen. Diese Forderung ist pikant, weil der Bundesrat erst kürzlich einen Entscheid in die entgegengesetzte Richtung getroffen hat: Er schlägt vor, die Wartefrist für den Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen von drei auf zwei Jahre zu reduzieren. Dies aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR).
4. Wie positionieren sich die Parteien?
An den beiden Polen ist die Sache klar: Die SVP bestimmt mit einem seit Jahren andauernden Stakkato an Vorschlägen den Takt und die Tonalität in der Asylpolitik. Für die Partei gehört die Asyl-Frage zu den Top-Themen. Auf der Gegenseite versuchen SP und Grüne ebenso entschlossen, dagegenzuhalten. Doch weil das Thema in ganz Europa zu politischen Verschiebungen führt, ist die Linke in der Defensive.
Spannend ist deshalb, wie sich FDP und Mitte-Partei positionieren. Seit einiger Zeit zeichnet sich eine härtere Gangart ab. Im Interview mit der NZZ kündigte der FDP-Präsident Thierry Burkart beispielsweise einen Kurswechsel beim Familiennachzug an: Dieses Recht müsse auf ein Minimum beschränkt werden. Vorläufig Aufgenommene sollten Familienmitglieder zum Beispiel erst nachholen dürfen, wenn sie für diese aufkommen könnten.
Auch die Forderung, wonach Personen, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, kein Asyl mehr erhalten, ist nicht mehr tabu. In beiden Parteien gibt es dafür Sympathien. Eine Zustimmung wäre bemerkenswert. Gegenüber SRF erklärte Ständerat Damian Müller (FDP) letzte Woche, die Situation habe sich in den letzten zehn Jahren verändert. Es habe heute zu viele Wirtschaftsmigranten im Land: «Deshalb müssen wir die Asylpolitik anders fokussieren.»
Unklar ist, wie geschlossen die FDP einen Kurswechsel mitträgt. Das gilt erst recht für die Mitte. Auch dort beginnt der Wind zu drehen. Der St. Galler Mitte-Nationalrat Nicolò Paganini will etwa Anpassungen beim Schutzstatus S vornehmen, weil dessen Bedeutung abnehme. Nicht zuletzt vom Stimmverhalten von FDP und Mitte wird es abhängen, ob Justizminister Beat Jans zu Kursänderungen gezwungen wird.
5. Wo steht Bundesrat Beat Jans?
Bei seinem Amtsantritt signalisierte Bundesrat Jans rasch eine härtere Gangart. Anders als seine Vorgängerin Elisabeth Baume-Schneider scheute er sich nicht, Probleme beim Namen zu nennen. Und er nahm Korrekturen vor. So weitete er die 24-Stunden-Verfahren auf alle Bundesasylzentren aus. Das entlastet diese, wie das SEM am Wochenende erneut mitteilte.
Doch weil Jans zunächst eine grössere Wirkung suggerierte, als die Massnahme wirklich brachte, kehrte bei den Bürgerlichen rasch Ernüchterung ein. Sie werfen ihm vor, mit Pseudomassnahmen von den Problemen abzulenken. Diese Woche wird sich deshalb zeigen, wie Jans reagiert, wenn der Druck grösser wird. Liest man die Antworten zu den Vorstössen, so zeichnet sich wenig Bewegung ab.
Tatsächlich ist der Spielraum für Massnahmen, die an der angespannten Situation wirklich etwas ändern, gering. Das zeigt sich nicht zuletzt beim Familiennachzug: Pro Jahr wurden in den letzten drei Jahren laut Bundesrat nur gerade gut hundert Gesuche von vorläufig Aufgenommenen um Familiennachzug gutgeheissen. Die Erwartungen sind also auch hier übertrieben hoch.
6. Was ist von der ausserordentlichen Session zu erwarten?
Ausserordentliche Sessionen sollen es dem Parlament ermöglichen, in Krisenfällen rasch zu reagieren. Sie sind aber gar nicht so selten: In der vergangenen Legislatur tagten die Räte insgesamt 17 Mal in diesem Format. Alleine diese Zahl relativiert die Bedeutung. Und selbst wenn der eine oder andere Vorstoss überwiesen wird, wäre damit noch nicht automatisch eine Neuausrichtung der Asylpolitik verbunden.
Doch ausserordentliche Sessionen haben nicht zuletzt die Funktion eines Stimmungsbarometers. Sie widerspiegeln, was der Politik – und damit der Bevölkerung – zu schaffen macht. Für die Parteien sind sie deshalb eine gute Möglichkeit, um Tatkraft und Konsequenz zu signalisieren. Die grossen Weichenstellungen werden hier in aller Regel nicht vorgenommen.