Eine kleine Geschichte zur Biodiversität.
Die Images von Steinbock und Wolf könnten unterschiedlicher nicht sein. Während sich das Steinwild allgemeiner Beliebtheit erfreut, gilt der Wolf in ländlichen Regionen als Bösewicht. Bei der Bejagung liegen die beiden Arten bald gleichauf. Ausgerechnet der Steinbock dient als Vorbild für die Regulierung der Wolfsbestände. So wollte es das Parlament. So setzt es der Bundesrat in der revidierten Jagdverordnung um, die bis zum 5. Juli in der Vernehmlassung war.
Wie der Wolf ist auch der Steinbock eigentlich geschützt, darf aber seit dem Jahr 1977 präventiv abgeschossen werden. Die Regulierung des Steinwildes ist notwendig, damit die Bestände nicht zu stark wachsen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ein solches Szenario undenkbar. Beide Wildarten waren in der Schweiz ausgerottet. 1809 wurde der letzte Steinbock der Schweiz im Wallis geschossen. Beide Tiere schafften das Comeback – der Wolf aus eigener Kraft, der Steinbock mithilfe des Menschen.
Mit List in die Schweiz
Die Wiederansiedlung des Steinbocks gestaltete sich schwierig. Da der Steinbock praktisch im gesamten Alpenraum ausgestorben war, griff man für die ersten Aussetzungsversuche am Ende des 19. Jahrhunderts auf Tiere aus Wildparks zurück. Dabei handelte es sich fast immer um Kreuzungen zwischen Steinbock und Hausziege. Die ausgesetzten Tiere erwiesen sich als nicht überlebensfähig.
Die letzte Hoffnung der Schweizer Naturfreunde war eine lokale Population im Jagdrevier Gran Paradiso im Aostatal, das den italienischen Königen gehörte. Doch die Bundesräte Josef Zemp und Ludwig Forrer stiessen bei König Umberto I. und seinem Sohn, dem späteren König Vittorio Emanuele III., auf taube Ohren. Die königlichen Hoheiten antworteten nicht einmal auf die Gesuche, Steinbockkitze in die Schweiz exportieren zu dürfen. Auf legalem Weg waren die seltenen Tiere also nicht zu erwerben. Also mussten sie durch eine List beschafft werden.
Der St. Galler Hotelier und Steinbockfreund Robert Mader kontaktierte schliesslich einen legendären Wilderer im Aostatal. Dieser erklärte sich bereit, die begehrten Jungtiere zu beschaffen. Am 22. Juni 1906 konnte er eine Kitzgeiss und einen Kitzbock, am 30. Juli ein weiteres weibliches Jungtier nach Martigny im Wallis liefern. Die Tiere wurden anschliessend in den Wildpark Peter und Paul nach St. Gallen gebracht. Dort wurden sie zuerst mit Babyflaschen aufgezogen.
Von 1906 bis 1933 gelangten auf diesem nicht ganz legalen Weg insgesamt 59 geschmuggelte Kitze aus dem Aostatal nach St. Gallen. Sie wurden dort aufgezogen und bildeten den Grundstock für die Wiederbesiedlung der Schweizer Alpen, ab 1920 auch im Gebiet des Nationalparks. Damit erhielt Graubünden sein stolzes Wappentier zurück.
Die Bestände des «Königs der Alpen» haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Zählte die eidgenössische Jagdstatistik 2003 noch 13 226 Tiere, waren es 2022 bereits 19 221. Kürzlich teilte die Bündner Staatskanzlei mit, dass die Wildhut im vergangenen Jahr im Kanton 7245 Steinböcke gezählt habe. Dies sei der höchste Bestand seit der Wiederansiedlung vor über 100 Jahren.
Walliser Safari für ausländische Jäger
Die Regulierung durch die Kantone, in denen Steinwildkolonien leben, ist eine Pflicht. Sie kann aber auch ein lukratives Geschäft sein, wie der Kanton Wallis beweist. Bis ins Jahr 2021 brachte dort die Jagd auf Steinböcke jährlich rund 650 000 Franken in die Staatskasse.
Wer als ausserkantonaler Jäger die Garantie auf eine stattliche Trophäe haben wollte, zahlte vor der Pirsch einen Vorschuss von 6500 Franken und später die Differenz je nach gemessener Hornlänge in bar. Der Abschuss eines männlichen Steinbocks konnte so bis zu 12 000 Franken kosten. Immer öfter erweiterten reiche Jäger aus dem Ausland ihre Sammlung.
Nachdem die «Rundschau» im Schweizer Fernsehen über die Trophäen-Safaris berichtet und einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, sah sich die Walliser Regierung gezwungen, diese Praxis zu unterbinden. Nur Jägerinnen und Jäger, die im Kanton Wallis wohnhaft sind oder ein Walliser Jagdpatent besitzen, dürfen Steinwild erlegen. Schon bald könnte es für ausserkantonale Jäger wieder heissen: «Feuer frei!» Im Herbst 2023 hat der Walliser Grosse Rat nämlich einen Vorstoss mit grossem Mehr überwiesen, der die Wiedereinführung der Trophäenjagd auf Steinböcke durch Ausländer fordert.
Natürlich ist das eigentliche Ziel der Jagd nicht eine besonders imposante Trophäe, sondern die Regulierung der Bestände. Sind diese zu hoch, werden die Tiere anfälliger für Krankheiten. Zudem schrumpft der voralpine und alpine Lebensraum des Steinwilds. Schuld daran ist die Klimaerwärmung. Tierarten wie Gemsen, Hirsche, Rehe und Steinböcke müssen sich diesen schwindenden Lebensraum teilen.
Weil die Lebensraumkapazität der Kolonie auf dem Grat des Brienzer Rothorns ausgeschöpft ist, haben die Kantone Bern, Obwalden und Luzern den Abschuss von 24 Tieren beschlossen, wie das Onlineportal «Zentralplus» kürzlich berichtete. Die Regulierung von Steinwildkolonien muss vom Bundesamt für Umwelt bewilligt werden. Dieses hat die Abschüsse bereits Ende Juni bewilligt.
Steinböcke zur Nachtaktivität gezwungen
Das Problem zeigt sich auch in anderen Regionen. Für eine kürzlich im Journal der Royal Society of Biology veröffentlichte Studie wurden 47 Steinböcke im Gran-Paradiso-Nationalpark in Italien und im Schweizer Nationalpark beobachtet. Dabei zeigte sich, dass sich die Aktivität der Tiere an heissen Tagen in die Nachtstunden verlagert. Die Nahrungssuche fand erst nach dem Eindunkeln statt.
Doch in der Dämmerung und nachts können sich Steinböcke viel schlechter orientieren als tagsüber. Dies erhöht laut den Forschern die Gefahr von Abstürzen. Auch wird die Nahrung in der Dunkelheit schlechter gefunden. Dieses Verhalten zeigten die Tiere auch in Gebieten mit Wölfen, die ebenfalls zu später Stunde nach ihrer Beute suchen. Das Risiko für Steinböcke, von Wölfen angefallen zu werden, steigt gemäss den wissenschaftlichen Untersuchungen. Vielleicht ist es also gar nicht so schlecht für die Steinböcke, dass in Zukunft auch der Wolf stärker bejagt werden darf.