Europa ist zum wichtigsten Geldgeber des Landes geworden. Ohne die Unterstützung der EU und weiterer Staaten zerfiele die Ukraine finanziell innert Kürze. Das Geld reicht aber nicht.
Auch zwei Jahre nach dem Grossangriff Russlands auf die Ukraine zeigt diese einen fast unbedingten Siegeswillen. Aber Kriege verschlingen Unsummen von Geld, und jede Regierung steht in einer solchen Situation vor der beinahe unlösbaren Aufgabe, es aufzutreiben.
Sie muss Waffen, Munition und den Sold der Soldaten bezahlen, sollte aber weiterhin das Schul- oder das Rentenwesen finanzieren. Im vergangenen Jahr gab die Ukraine rund einen Drittel der Wirtschaftsleistung (BIP) für die Verteidigung aus.
Das ist eine riesige Last, wie ein Vergleich mit Ländern zeigt, in denen Frieden herrscht: Einige Mitgliedsstaaten der Nato mühen sich gerade ab, diesen Wert auf 2 Prozent des BIP zu stemmen.
Für die Ukraine ist die Lage umso schwieriger, als die Grossmacht USA als Finanzierer derzeit weitgehend ausfällt. Die Finanz- und Militärhilfe hängt im Kongress.
Weitgehend ungedecktes Staatsbudget
Die EU und kleine europäische Staaten mussten deshalb eine Schlüsselrolle übernehmen, obwohl sie sich mit Weltpolitik sonst schwertun. Aber nun ist der Kontinent auf sich allein gestellt. Mittlerweile unterstützen die EU und Staaten wie Norwegen und die Schweiz die Ukraine in einem grösseren Umfang als die USA mit Finanz- und Militärhilfe sowie humanitär.
Die Rolle des wichtigsten Sponsors wird die EU möglicherweise noch längere Zeit spielen müssen – alles hängt davon ab, wie sich die schwer zu berechnende Politik in Washington entwickelt. Das Finanzministerium der Ukraine rechnet für 2024 mit einer ausländischen Budgethilfe von 37,3 Milliarden Dollar. Rund 10 Milliarden Dollar werden von der EU stammen, den Rest muss das Land zum grossen Teil noch auftreiben.
Wirtschaftlich ist die Ukraine in einem labilen Zustand. Die kommenden Monate wird sie noch einigermassen überstehen, auch weil die ukrainische Notenbank (NBU) und das Finanzministerium in den vergangenen Monaten eine geschickte Politik verfolgt haben. So ist es gelungen, die Inflation innerhalb eines Jahres von 26 auf 4,7 Prozent zu drücken. Gleichzeitig hat das Land einen finanziellen Puffer aufgebaut. Es verfügt über verhältnismässig hohe Devisenreserven von 38,5 Milliarden Dollar.
Dieses Geld benötigt die Ukraine allerdings dringend, um das Handelsbilanzdefizit zu decken, das sich mit dem Krieg stark ausgeweitet hat. Die Ukraine exportierte 2023 Güter für 35 Milliarden Dollar, führte aber gleichzeitig für 63 Milliarden Dollar Waren ein. Die Devisenreserven reichen, um dieses Loch einige Monate zu stopfen. Früher oder später fallen sie aber auf ein kritisches Niveau, wenn sie nicht wieder aufgestockt werden können.
Dabei gleicht es einem Wunder, dass die Ukraine als Land im Krieg überhaupt in der Lage war, vergleichsweise hohe Ausfuhren zu tätigen. Zum grossen Teil verdankt sie das dem Agrarsektor, der halbwegs funktioniert, einen Teil von Europas Bauern aber gerade in Wut und Aufruhr versetzt. Besonders erzürnt sind Polens Landwirte, die in dieser Woche erneut Transportwege blockieren.
Sie fürchten die ukrainischen Getreideexporteure als übermächtige Konkurrenten; die Ukraine dagegen ist auf Einnahmen aus dem Export dringend angewiesen, um den Krieg mitzufinanzieren. Das gilt erst recht, seitdem die amerikanische Finanz- und Militärhilfe stockt.
«Finanziell darf man die Ukraine nicht fallen lassen», sagt Gunter Deuber, der Leiter Research von Raiffeisenbank International. Falls die Ukraine finanziell in einen Engpass geriete, beendete sie deswegen kaum den Krieg. Stattdessen ginge die ukrainische Notenbank (NBU) wohl dazu über, diesen zu finanzieren, indem sie Staatsanleihen kaufte.
Das tat sie bereits widerwillig zu Beginn des Krieges im Jahr 2022. Müsste sie erneut zu dieser Massnahme greifen, heizte das die Inflation an. Zudem geriete der Wert der heimischen Währung Hrywna unter Druck. In diesem Fall wäre die Ukraine zwar nicht militärisch besiegt, aber wirtschaftlich.
Der EU-Beitritt ist ein wolkiges Versprechen
Dann erübrigten sich auch die Diskussionen über eine Mitgliedschaft des Landes in der EU. Ein ökonomisch zerrüttetes Land wäre im Staatenbund kaum willkommen, und es würde wohl lange dauern, bis die Ukraine wirtschaftlich für eine Teilhabe bereit wäre. Zuerst wäre eine schmerzhafte finanzielle Sanierung nötig.
Die EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist ohnehin ein wolkiges Projekt. Es fällt auf, wie leicht es den EU-Staaten fällt, dem Land langfristig Versprechungen zu machen, während sie sich schwer damit tun, das Land jetzt mit Waffen und Finanzmitteln zu versorgen. Aber der Ukraine den EU-Beitritt in Aussicht zu stellen, kostet nichts. Und mit den Details eines solchen Schritts muss sich sowieso nicht diese Politikergeneration beschäftigen.
Im vergangenen Dezember hat der Staatenbund beschlossen, mit der Ukraine Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Die Unternehmer der Ukraine verbinden damit grosse Erwartungen. Daher bemühen sie sich, die Produktionsstandards der EU möglichst rasch zu erfüllen. Aber Enttäuschungen sind programmiert.
Wann die Ukraine dem Staatenbund beitreten wird, ist aus jetziger Sicht völlig ungewiss. Solange der Grenzkonflikt mit Russland nicht gelöst sei, komme ein solcher Schritt nicht infrage, sagt ein EU-Diplomat «off the record».
Diese Aussage stösst bei ukrainischen Wirtschaftsvertretern in Brüssel auf Unverständnis und Empörung. So lade man Russlands Präsident Wladimir Putin ein, den Krieg möglichst zu verlängern, sagt etwa ein Vertreter des Agrarsektors.
Ein Ende des Konflikts ist aber ohnehin nicht absehbar. Die Ukraine will zu Recht die Hoheit über ihr gesamtes Staatsgebiet zurückgewinnen, Russland wird die besetzten Gebiete aber kaum freiwillig räumen.
In der Schuldenspirale
Die Finanzlage der Ukraine wird derweil immer desolater, allen makroökonomischen Erfolgen zum Trotz. Ein Teil der Hilfe, die das Land von der EU und anderen Partnern erhält, sind Kredite. Sie müssen verzinst und eines Tages zurückbezahlt werden.
Die Verschuldung des Staates, gemessen am BIP, steigt dadurch rasant: von 50 Prozent vor dem Krieg auf derzeit 90 Prozent. Solange Krieg herrscht, befindet sich die Ukraine in der Schuldenspirale.
Gleichzeitig werden die von der russischen Armee verübten Zerstörungen immer schlimmer. Ihr Ausmass lässt sich nur schwer schätzen, die jüngsten Berechnungen sollten daher auch nur als ungefährer Wert angesehen werden. Die Weltbank und die EU bezifferten es soeben auf 152 Milliarden Dollar. Zudem benötige die Ukraine im laufenden Jahr 15 Milliarden Dollar, um die nötigsten Reparaturen an der Infrastruktur vorzunehmen, schreiben die Verfasser der Schätzung. Auch dieser Betrag ist aber erst zu einem Drittel gedeckt. Der Rest ist noch zu finanzieren – entweder von der Ukraine oder den ausländischen Geldgebern.