Übungen mit der Nato oder indirekte Waffenlieferungen: Markus Mäder, Staatssekretär für Sicherheitspolitik, beschäftigt sich mit heiklen Themen. Würde er gerne der Nato beitreten?
Herr Mäder, wenn es nach dem Bund geht, sollen künftig mehr Schweizer Soldaten mit Streitkräften der Nato trainieren. Wollen Sie unsere Neutralität abschaffen?
Solche Kooperationen sind kein Selbstzweck, es geht um die Sicherheit der Schweiz. Die Grenzen der Zusammenarbeit sind klar definiert und stellen sicher, dass unsere Neutralität eingehalten wird.
Der SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor warnt davor, dass im schlimmsten Fall eines Tages Schweizer Soldaten «zum Sterben nach Polen» entsendet werden müssten.
Das ist eine absolute Verzerrung der realen Umstände. Es geht um Übungen mit der Nato, nicht um die Teilnahme an Konflikten. Die Schweiz strebt in ihrer Sicherheitspolitik eine hohe Eigenständigkeit an. Sie kann vieles, aber nicht alles alleine machen.
SVP, Grüne und die Mehrheit der SP haben grosse Zweifel daran, dass die Neutralität in Zukunft noch eingehalten wird. Der Ständerat diskutiert diese Woche ein Verbot gewisser Übungen.
Es geht dabei um die Frage, ob die Schweiz an Bündnisfallübungen gemäss Artikel 5 des Nordatlantikvertrags teilnehmen darf. Dieses Thema wird stark emotionalisiert.
Bitte erklären Sie, worum es in diesen Übungen konkret geht.
Dabei trainieren Nato-Staaten die gegenseitige Beistandspflicht. Wird ein Land angegriffen, helfen die anderen. Doch weder der Bundesrat noch die Nato haben vor, dass Schweizer Verbände bei Verteidigungsübungen an der Aussenfront der Nato mitmachen. Das ist völlig ausgeschlossen.
Was genau soll die Schweizer Armee denn mit der Nato trainieren?
Wir brauchen Zugang zu gewissen Ausbildungsinfrastrukturen im Ausland, die wir in der Schweiz nicht haben. Beispielsweise hat unsere Luftwaffe im stark benutzten Luftraum nur noch kleine Trainingsräume. Im Ausland kann sie in der vollen Breite und Tiefe trainieren. Eine ähnliche Situation haben wir bei den Bodentruppen. In der stark urbanisierten, dichtbesiedelten Schweiz gibt es nur ganz kleine Übungsplätze, auf denen man im grösseren Kontext trainieren kann.
Also geht es vor allem um Trainingsplätze?
Nicht nur. Wir möchten auch verstehen: Wie verteidigen sich unsere Partner? Wie setzen sie militärische und andere Elemente ein? Können wir von den einsatzerfahrenen Armeen lernen? Streitkräfte, die komplexe Aufgaben lösen müssen, können sich nicht autistisch weiterentwickeln.
Wird auch das schlimmste Szenario geübt? Die Schweiz wird angegriffen, die Neutralität fällt, wir möchten uns zusammen mit Nato-Streitkräften verteidigen und müssen daher mit ihnen kämpfen können . . .
Das ist auch ein Element. Die Zusammenarbeitsfähigkeit gegenüber der Nato bauen wir seit bald drei Jahrzehnten im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden auf. Wir wollen diese vertiefen. Das geforderte Verbot von Bündnisfallübungen geht aber vermutlich von falschen Prämissen aus.
Wie meinen Sie das?
Seit dem Ukraine-Krieg macht die Nato immer mehr Übungen, die unter der Bezeichnung «Artikel 5» laufen. Weil die Allianz wieder einen Fokus auf Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit legt. Doch innerhalb dieser Übungen gibt es Elemente, bei denen auch Partnerstaaten wie die Schweiz mittrainieren können. In diesen Teilen geht es nicht um Abschreckung oder Verteidigung, sondern um Krisenmanagement und kollektive Sicherheit. Es ist deshalb weiterhin in unserem Interesse, im Falle einer Einladung zu diesen Übungen zu beurteilen: Bringt das der Schweiz etwas? Können wir damit unsere eigene Sicherheits- und Verteilungspolitik stärken? Wenn der Bundesrat sich dafür entscheidet, nehmen wir an der ausgewählten Übung oder Teilübung teil.
Wie müssen wir uns solche Übungselemente vorstellen? Bitte nennen Sie ein Beispiel.
Es gibt eine Übung, bei der es um chemische, biologische, radiologische und nukleare Abwehr geht. Als Schweiz möchten wir an gewissen Trainingselementen teilnehmen. Nur so können unsere Experten herausfinden, ob sie im Bereich der atomaren, biologischen und chemischen Abwehr so gut sind wie unsere Partner oder wo wir noch Schwächen haben. Doch bei einem Verbot müssten wir auf die ganze Übung verzichten, denn sie läuft unter dem Etikett Artikel 5, weil irgendwann im Verlaufe der Übung trainiert wird, wie die Länder sich gemeinsam verteidigen. Und spätestens in dieser Phase der Übung ist die Schweiz nicht mehr dabei.
Gemäss dem SP-Nationalrat Fabian Molina könnte die Schweiz bei einem Verbot der Bündnisfallübungen weiterhin an ausgewählten Elementen teilnehmen.
Der Bundesrat sieht das anders, viele Übungen mit unseren Partnern wären nicht mehr möglich. Aus sicherheitspolitischen Überlegungen ist es nicht ratsam, sich unnötig zusätzliche Fesseln anzulegen.
Wenn Sie Nato-Länder «unsere Partner» nennen, signalisieren Sie eine gewisse Zugehörigkeit. Wie geht das mit der Neutralität zusammen?
Die Schweiz bezieht die Position des Völkerrechts. Die aussenpolitische Strategie des Bundes legt fest, dass die Schweiz ein ganz klares Interesse an der Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung hat, bei der Konflikte friedlich ausgetragen werden. Das ist im ureigensten Interesse unserer Sicherheit und unserer wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Beziehungen mit der Welt. Gleichzeitig sind wir neutral, weil wir keine Partei in einem internationalen, bewaffneten Konflikt militärisch unterstützen.
Laut der SVP ist die Schweiz bereits heute «Kriegspartei», weil wir die EU-Sanktionen übernommen haben. Verstärken Übungen mit der Nato solche Ängste?
Im Neutralitätsrecht steht nirgends, dass man keine Sanktionen übernehmen oder nicht mit Partnern üben darf. Verboten ist, einem Militärbund beizutreten oder eben eine Konfliktpartei zu unterstützen.
Das Parlament diskutiert über die Aufhebung der Wiederausfuhrbeschränkung für Kriegsmaterial. Es geht um die Frage, ob Länder wie Deutschland oder Dänemark in der Schweiz gekaufte Rüstungsgüter nach fünf Jahren an die Ukraine weitergeben dürfen. Bis jetzt ist das aus neutralitätspolitischen Überlegungen verboten. Sind Sie für eine Lockerung?
Das entscheidet das Parlament. Aus sicherheitspolitischer Perspektive kann man sagen: Es wäre im Interesse der Schweiz, wenn wir von unseren Partnern als zuverlässige Lieferantin von Rüstungsgütern wahrgenommen würden. Wir brauchen eine starke Rüstungsindustrie, welche die Schweizer Armee beliefern kann. Es gibt jetzt schon Länder, die öffentlich sagen, dass sie unter diesen Umständen nicht mehr bereit sind, Schweizer Rüstungsprodukte oder Rüstungsfirmen zu berücksichtigen. Deutschland ist das jüngste Beispiel dafür.
Parlamentarier kritisieren, dass sich VBS-Exponenten wie Sie zu sehr in die politischen Diskussionen einmischten.
Am Schluss entscheidet die Politik, das ist klar. Vonseiten des Bundes sind wir aufgefordert, unsere Chefinnen und Chefs sicherheitspolitisch zu beraten.
Beraten Sie Frau Amherd nur, oder unterstützen Sie proaktiv ihren europafreundlichen Kurs?
Es ist nicht alleine Frau Amherds Wunsch, die Kooperation mit unseren europäischen Partnern zu intensivieren, sondern die Haltung des Gesamtbundesrats. Diese hat er bereits im Sicherheitspolitischen Bericht 2021 und im Zusatzbericht 2022 skizziert . . .
. . . welchen Sie unterstützen, ebenso wie die vom VBS eingesetzte Studienkommission. Deren neutralitätspolitische Empfehlungen lesen sich wie Frau Amherds Wunschzettel.
Die Studienkommission war breit abgestützt mit Vertretern aus Wissenschaft, Armee sowie Zivilschutz, aus der Wirtschaft, der Diplomatie und der Friedensbewegung. Und die Schaffung des Staatssekretariats für Sicherheitspolitik (Sepos), das ich leite, ist Ausdruck der Erkenntnis, dass die sicherheitspolitische Lage unberechenbarer geworden ist. Um sie zu meistern, muss man verschiedene Bereiche wie den Nachrichtendienst, die Cyberabwehr oder den Bevölkerungsschutz einbeziehen. Für diese Verbundsaufgabe leistet das Sepos die Grundlagen.
Und ist Ihnen das gelungen? Bürgerliche Sicherheitspolitiker wie Josef Dittli von der FDP kritisieren, dass dem Bundesrat bis heute eine sicherheitspolitische Gesamtstrategie fehle.
Doch, die gibt es. Wir haben mehrere nach wie vor gültige Grundlagen wie den Sicherheitspolitischen Bericht 2021, den Zusatzbericht 2022 oder diverse Antworten auf Vorstösse aus dem Parlament. Wenn man bereit ist, die diversen Papiere vernetzt zu lesen, ist ein klarer Plan da.
Das klingt etwas verzettelt.
Sie müssen verstehen: Sicherheitspolitik wird vom Bundesrat nicht einfach top down in einem einzigen Regierungsdokument verordnet. Vielmehr werden alle relevanten Akteure einbezogen: Bund, Kantone, das Parlament, Wissenschafter. Das ist ein helvetischer Prozess. Die Konsensfindung ist in der Schweizer Sicherheitspolitik schwieriger geworden. Und zwar nicht nur aufgrund der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch, weil es um Milliarden von Franken geht.
Linke Politikerinnen wie Marionna Schlatter oder Franziska Roth werfen dem Bund vor, mit seinen Bedrohungsszenarien die Bevölkerung unnötig zu verunsichern. Statt teure Panzer brauche es unter anderem mehr Cyberabwehr oder internationale Zusammenarbeit.
Wir beurteilen die Lage. Und natürlich gehört auch der Cyberbereich zur Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit dazu. Und die internationale Zusammenarbeit liegt im Kern unserer Bemühungen.
Was sagen Sie zur Kritik, dass der Bund seine Sicherheitspolitik an zu düsteren Bedrohungsszenarien ausrichte?
Stellen Sie diese Frage jetzt ernsthaft?
Natürlich.
Aber selbstverständlich haben wir eine Arbeits- und Berufsethik. Wir blasen Risiken nicht auf, sondern beurteilen die sicherheitspolitische Lage sachlich und möglichst realitätsnah.
Was ist das grösste Sicherheitsrisiko der Schweiz?
Dass sich die Welt in eine Richtung entwickelt, in der die Regeln nicht mehr eingehalten werden. Das wäre für kleine, international vernetzte Staaten besonders bedrohlich und würde zu verschiedenen Krisen führen, die wir gleichzeitig bewältigen müssten. Um gegen solche Risiken resilient zu werden, braucht die Schweiz Kooperation mit Partnern, die sich für die gleiche regelbasierte Welt einsetzen.
Das klingt nicht so, als müssten wir mit feindlichen Panzern am Rhein rechnen?
Wir stellen eine Zunahme der hybriden Konfliktführung fest, beispielsweise in Form von Desinformation und Beeinflussungsaktivitäten. Die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Angriffs ist mit der verschlechterten Lage ebenfalls gestiegen.
Hand aufs Herz, Herr Mäder, würden Sie nicht am liebsten einfach wie Schweden der Nato beitreten, um die Schweiz gegen die verschiedenen Bedrohungen abzusichern?
Der Bundesrat und das Parlament legen die übergeordneten Parameter fest. Sie streben keinen Nato-Beitritt an.
Wir fragen anders: Sie arbeiten die sicherheitspolitische Strategie 2025 aus. Wird der Nato-Beitritt dort ein Thema sein?
Nein, der Nato-Beitritt ist kein Thema.