Max Heinzer war der beste Degenfechter der Welt. Nun, mit 36 Jahren, hat er seine vierte Olympia-Teilnahme verpasst und die Karriere beendet. Vor den Sommerspielen in Paris sagt Heinzer, wie Mätzchen in seiner Sportart funktionieren.
Max Heinzer, Sie haben drei Jahrzehnte lang gefochten. Zeit, um Geheimnisse zu lüften. Wieso schreien Fechter manchmal so, wenn sie einen Punkt gewinnen?
Ich brüllte meine Freude dann hinaus, wenn ich mit Glück zu einem wichtigen Punkt kam. Da will man, dass sich der Gegner maximal nervt, weil er dadurch verwundbarer wird. Umgekehrt zwang ich mich, keine Emotionen zu zeigen, wenn ich durch technische Brillanz einen Punkt erzielte. Damit der Gegner dachte: «Wow, der macht so einen schönen Punkt und jubelt nicht einmal! Dieser Punkt muss normal für ihn sein, also wird von ihm noch viel mehr kommen.»
In vielen Sportarten legen Athleten künstliche Pausen ein, um den Gegner aus dem Konzept zu bringen. Im Fechten auch?
Das kann vorkommen. Einmal lag ich in einem wichtigen Turnier im Halbfinal 8:14 in Rückstand, meinem Gegner fehlte noch ein Punkt. Dann gelang mir eine unfassbare Aufholjagd. Ich war im Flow, hielt deshalb das Tempo hoch, und spürte, wie der Gegner immer kleiner und nervöser wurde, wie ich ihn auffressen konnte. Innert kurzer Zeit glich ich zum 14:14 aus. Der nächste Punkt musste entscheiden. Da spürte ich ein leichtes Ziehen in der Wade. Ich nahm ein medizinisches Time-out, um mich behandeln zu lassen. Auch weil ich wusste, dass es meinem Gegner nicht hilft, wenn er noch länger darüber nachdenken muss, weshalb er die letzten sechs Punkte verloren hat. Ich gewann das Gefecht.
Ein Teamkollege von Ihnen hat einmal erzählt, dass Sie während eines Duells eine Pause einlegten, um eine Kontaktlinse zu suchen. Dabei tragen Sie gar keine Linsen.
Solche Kniffe haben alle Spitzenfechter auf Lager. Manche Duelle entwickeln sich so, als steuere man gemeinsam auf einen Eisberg zu, und man ist gefordert, einen Trick auszupacken. Die Kampfführung auf mentaler Ebene ist ein bedeutender Teil unserer Sportart. Ich bin in solchen Situationen auch oft genug Opfer gewesen. Und so reibt man halt mal im Auge, um ein paar Sekunden Verschnaufpause herauszuschinden.
Sie waren auch wegen Ihrer Körpergrösse darauf angewiesen?
Ja. Als eher kleiner Fechter mit 1 Meter 78 musste ich einen wilden, aggressiven Stil anwenden, um eine Chance zu haben, wodurch ich mit der Energie eher ans Limit kam als grössere, die sich weniger bewegen mussten. Und die Erholung ist elementar: Wenn deine Muskeln übersäuern, sind deine Angriffe vorhersehbar, was sich in einem Sport, in dem es um Täuschung, List und Finten geht, nachteilig auswirkt.
Werden da nicht Grenzen der Fairness überschritten?
Da bei uns die Zeit gestoppt ist, wenn jemand pausiert, finde ich es weniger unfair als im Fussball, in dem die verlorene Zeit je nachdem nicht nachgespielt wird. Man muss im Fechten spüren, wie die Schiedsrichter ticken, wie viel sie tolerieren. An Olympischen Spielen sind sie strenger, weil sie dort stärker im Fokus stehen. Ich hatte bei ihnen mit meiner Wildheit sicher keinen Bonus, sie bevorzugen eher den klassischen, eleganten Stil. Aber ich kann guten Gewissens sagen, dass ich nie einen Straf-Treffer oder eine Disqualifikation kassiert habe und dass ich mich innerhalb der allgemein akzeptierten Norm bewegte.
Hatten Sie Gegner, die zu weit gingen?
Auch bei uns kann bei strittigen Szenen der Videobeweis herangezogen werden. Mit dem Makel, dass nur von einer Seite gefilmt wird. Und es gab da diesen Fechter, der seine nicht bewaffnete Hand zu Hilfe nahm, wenn er merkte, dass diese nicht im Aufnahmefeld der Kamera war. Oder es gab einen, der mich gleich bei der ersten Begegnung einschüchtern wollte, indem er mich und meine Familie auf der Planche beleidigte. Als Junior war ich geschockt, aber man lernt, damit umzugehen. Je mehr Entschlossenheit und Selbstvertrauen man sich aneignet, desto kompletter wirst du als Fechter.
Hatten Sie gegen Gegner, die Ihnen eher unsympathisch waren, eine gute Bilanz?
Eine sehr gute sogar. In den Team-Wettbewerben freuten sich meine Schweizer Kollegen diebisch, wenn ein Gegner mich provozierte. Weil sie wussten, dass das meine Widerstandskraft erhöht.
Wie haben Sie auf Provokationen reagiert?
Ich versuchte oft, es jemandem mit gleicher Münze heimzuzahlen. Wenn einer eine dubiose Pause nahm, bedankte ich mich bei ihm, dass ich auch froh sei um die Pause. Wenn einer im Gefecht zu stöhnen begann, stöhnte ich einfach auch. Oder ich deutete ein Gähnen an, um dem Gegenüber mitzuteilen: «Hey, ist das alles, was du zu bieten hast?» Sicher, ich war als Gegner unangenehm. Aber ich habe nicht angefangen mit den Mätzchen, sondern eher hart zurückgeschlagen. Und sobald ein Gefecht vorbei war, war ich umgänglich.
Mussten Sie aufpassen, dass Sie nicht zu lieb wurden?
Durchaus. Früher, als ich erfolgreicher war, schaute ich viel mehr für mich und gab keine Geheimnisse preis. Als Jüngerer liebte ich es, wenn mich Routiniers unterschätzten. Ich trainierte härter als die anderen und wollte, dass das niemand mitbekommt. Wenn Gegner an Silvester aufs neue Jahr anstiessen, absolvierte ich eine Einheit auf dem Spinning-Velo. Als ich dann Vater wurde, war ich weniger verbissen, was auch viel Gutes hatte. Aber nun verlor ich plötzlich ein knappes Duell, das ich früher knapp gewonnen hätte. Es gab eine Situation in einem Turnier in Frankreich, als ich mich fragte: «Wie kommt es beim französischen Publikum an, wenn ich jetzt gegen meinen französischen Gegner eine Pause einlege?» Und verzichtete auf sie. Früher hätte ich sie ohne Zögern genommen.
Ist das der Grund, dass Sie sich in den letzten Jahren der Karriere manchmal schwertaten?
Nicht der einzige. Ein anderer war, dass ich nicht mehr mit meinem italienischen Mentor Gianni Muzio zusammenarbeiten konnte. Er musste aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten. Mit ihm an meiner Seite musste ich während des Fechtens gar nicht gross überlegen. Da war ein Automatismus, der mir Vertrauen gab. Zuletzt unterwarf ich mich den Spielregeln der Schweizer Nationaltrainer, die aus Frankreich stammen. Und sie pflegen den französischen Stil, der sich wesentlich vom italienischen unterscheidet. Diese Umstellung gelang mir nur halbwegs.
Mit Muzio erlebten Sie grosse Erfolge, aber auch eine schmerzhafte Niederlage, an den Olympischen Spielen 2012.
Richtig. Ich führte souverän 3:0 gegen den Venezolaner Ruben Limardo. Dann gab es ein kleines Missverständnis zwischen mir und Gianni. Es war laut in der Halle, wir sprachen nicht die gleiche Sprache. Und ich meinte, er wolle mir anzeigen, ich solle in die Defensive, dabei wollte er mir bedeuten, ich solle offensiv bleiben, aber meine Angriffe besser vorbereiten. Prompt kassierte ich einige Treffer in Folge und geriet aus der Balance, eine zu schwere Hypothek. Limardo wurde Olympiasieger. Später sagte er mir, bei 0:3 habe er eigentlich nur noch daran gedacht, wie er eine Blamage abwenden könne, der Sieg sei für ihn weit weg gewesen. Das tat schon weh, ich war 2012 in Topform. Kurz nach jenen Sommerspielen wurde ich mit drei gewonnenen Weltcups zur Weltnummer 1.
Hatten Sie eine Marotte, um sich zu pushen?
Ich hatte eine Vorliebe für T-Shirts. Als ich den neunten Weltcup-Sieg errang, liess ich mir eines anfertigen für den Fall, dass ich den zehnten Sieg erreichen würde. Eine Marke, die noch kein Degenfechter geknackt hatte. Elf Monate lang war das Trikot in der Tasche. Dann qualifizierte ich mich wieder einmal für einen Final. Ich schloss mich auf der Toilette ein, um das Shirt heimlich anzuziehen. Um mich zusätzlich zu motivieren. Ich gewann das Turnier. Oder ich hatte ein Trikot, das eine Ente zwischen den Zähnen eines Krokodils zeigte. Wenn es mir schlecht lief, sagte ich mir: «Du bist die Ente und lässt dich jetzt nicht auffressen von diesem Gegner.»
Gab es auch Rituale?
Ich stellte meinen Wecker nicht auf 7 Uhr, sondern auf 7 Uhr 1. Weil die Zahl 1 im Sport für den Besten steht. Und am Vorabend eines Turniers mixte ich jeweils so viele Getränke für den Wettkampf, als würde ich den Final erreichen. Ich musste im Lauf der Karriere leider auch einiges wegschütten.
Blendeten Sie während der Gefechte aus, was um Sie herum geschah?
Im Gegenteil. Ich war extrem aufnahmefähig. Weil ich fand: Ich kann nur Chancen auf Punkte erkennen, wenn ich jedes Detail registriere. Das kann auch hinderlich sein: Einmal kämpfte ich im Viertelfinal des Weltcups in Heidenheim. Dieses Turnier hat bei uns einen Stellenwert, wie ihn Wimbledon fürs Tennis hat. Und dann machte der Speaker eine Durchsage, dass der Halter des Fahrzeugs mit der Nummer Soundso umparkieren solle. Ich schämte mich für meinen Sport. Stellen Sie sich vor, das passierte in Wimbledon während eines Ballwechsels von Rafael Nadal – undenkbar! Ich verlor das Gefecht. Und suchte die Schuld bei dieser Durchsage anstatt bei mir.
Hat Sie das motiviert, die Bedingungen in Ihrer Sportart zu verbessern?
Ja. Bleiben wir bei Heidenheim: Da bekam ich 2015 als Turniersieger ein Badetuch und ein Shampoo. Und keinen Rappen Preisgeld. Gleichzeitig hatten wir pro Athlet ein Startgeld von gegen 100 Euro zu entrichten. Ich musste einiges unternehmen, um Fechten als Profi betreiben zu können. Ich erhielt sogar ein Sponsoring bei Red Bull. Aber diese Marke legt Wert darauf, dass sie ihre Merkmale am Kopf des Athleten platzieren kann, und an der Fechtmaske war Werbung damals verboten. Ich erwirkte schliesslich, dass sie zugelassen wird. Könnte ich heute eine Änderung anregen, würde ich mich für eine längere Wettkampfdauer einsetzen. Ein Gefecht ist wie ein Tie-Break im Tennis. Eine kleine Schwächephase – und du bist weg.
Für die bald beginnenden Sommerspiele haben Sie sich nicht qualifiziert, das Schweizer Fechten wird in Paris vertreten durch Pauline Brunner und Alexis Bayard. Reisen Sie trotzdem an die Spiele, nachdem Sie kürzlich zum Präsidenten des Schweizer Fechtverbands gewählt wurden?
Nein, da steht noch der alte Vorstand in der Verantwortung. Aber es ist gar nicht so schlecht, dass ich ein wenig Abstand habe, denn die Enttäuschung der verpassten Qualifikation ist noch frisch. Als feststand, dass ich in Paris nicht fechten werde, buchte ich gleich Fischerferien in Schottland für den Juli. Mit dem Bobfahrer Michael Vogt, der nach einem schweren Sturz seines Teams auch auf andere Gedanken kommen wollte.
Wie wichtig sind solche Ablenkungen für einen Spitzensportler?
Sehr. Im Fechten muss man innert kurzer Zeit so viele Entscheide treffen, da bist du leer nach einem Turnier. In der Regeneration habe ich Pilze gesammelt, Tomaten gezüchtet oder eben gefischt. Fischen war sogar ein bisschen Training: Da musste ich auch blitzschnell zupacken, wenn ein Schwarm Egli in der Nähe war.
Weltmeister, Fahnenträger, Verbandspräsident
ac. · Kein anderer Schweizer Fechter hat so viele Podestplätze an internationalen Turnieren errungen wie Max Heinzer. Der 36-jährige Schwyzer gewann sechs EM-Medaillen im Einzel sowie einen WM- und drei EM-Titel mit der Mannschaft. Als Erster in seiner Disziplin erreichte er zehn Weltcup-Siege im Einzel. An Olympischen Spielen blieb er ohne Medaille. 2021 in Tokio war er Fahnenträger der Schweizer Delegation. Die Qualifikation für die Sommerspiele in Paris hat er knapp verpasst, auch weil ihn ein Riss in den Adduktoren zurückwarf. An den Heim-EM im Juni in Basel beendete er seine Karriere. Der Familienvater wurde kürzlich in einer Kampfwahl zum neuen Präsidenten des Schweizer Fechtverbands bestimmt. Heinzer arbeitet für die Fritz-Gerber-Stiftung und betreibt die Webseite www.fechter.ch.