Auf kantonaler und städtischer Ebene gibt es zahlreiche Bestrebungen, Mindestlöhne einzuführen. Doch aus sozialpolitischer Sicht lässt sich den Mindestlöhnen nicht viel abgewinnen.
Es erinnert an den Komödienklassiker «Und täglich grüsst das Murmeltier»: In rascher Abfolge werden Mindestlohn-Initiativen auf kantonaler und städtischer Ebene lanciert, worauf stets dieselben Debatten entbrennen. Erst am vergangenen Sonntag lehnte die Stimmbevölkerung der Kantone Baselland und Solothurn einen Mindestlohn von 22 beziehungsweise 23 Franken ab. Bereits eingeführt wurden Mindestlöhne in den Kantonen Genf, Neuenburg, Jura, Basel-Stadt und Tessin.
In Zürich und Winterthur sind die beschlossenen städtischen Mindestlöhne derzeit aufgrund von Rechtsunsicherheiten sistiert und beim Bundesgericht hängig. Auch in den Kantonen Waadt und Freiburg sowie in den Städten Biel, Bern und Schaffhausen ist das Thema aktuell. Angesichts dieser wiederkehrenden Muster stellt sich die Grundsatzfrage: Welche Auswirkungen haben denn eigentlich Mindestlöhne?
Jugendarbeitslosigkeit steigt
Um diese Frage zu beantworten, blickt man hauptsächlich auf die Beschäftigungssituation. Ein Mindestlohn, der über dem Marktlohn liegt, kann dazu führen, dass Unternehmen weniger Arbeitskräfte nachfragen und es zu Entlassungen oder einem Rückgang von Neuanstellungen kommt. Die tatsächlichen Effekte wurden in den vergangenen Jahrzehnten in der Ökonomie intensiv erforscht. Die Resultate fallen je nach Studie und Höhe des Mindestlohns unterschiedlich aus.
Insgesamt zeigt sich, dass ein moderater Mindestlohn lediglich geringfügige Auswirkungen auf die Gesamtbeschäftigung hat. Negative Effekte treten jedoch besonders bei vulnerablen Gruppen wie jungen Erwachsenen oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit geringem Bildungsabschluss auf. So ergab eine Evaluation des Mindestlohns auch im Kanton Genf keinen signifikanten Effekt auf die allgemeine Arbeitslosenquote, wohl aber auf die der unter 25-Jährigen.
Internationale Studien belegen ausserdem, dass bei einigen Arbeitnehmern die Arbeitsstunden reduziert werden, so dass ihre Monatslöhne letztlich unverändert bleiben. Weitere Reaktionen, wie Verlagerungen des Arbeitsplatzes in benachbarte Kantone oder Preiserhöhungen in der Gastronomie, wurden etwa in Basel beziehungsweise Neuenburg beobachtet.
In der Schweiz muss zudem berücksichtigt werden, dass ein Teil der geringen Effekte auch auf bereits bestehende Lohnvorschriften zurückzuführen ist. Denn gerade in Tieflohnbranchen existieren zahlreiche Lohnvorschriften im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen. Daher sind die zusätzlichen Effekte eines moderaten Mindestlohns – sowohl der positive Effekt auf die Löhne als auch der negative Effekt auf die Beschäftigung – zwangsläufig begrenzt.
Mindestlöhne helfen den wenigsten armen Haushalten
Während die Beschäftigungseffekte in der Forschungsliteratur viel Aufmerksamkeit erhalten, wird die zugrunde liegende sozialpolitische Frage häufig vernachlässigt – und das zu Unrecht. Angesichts der negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung von besonders vulnerablen Gruppen müsste dem wenigstens ein positiver Effekt auf die Armutsbekämpfung gegenüberstehen.
Doch genau dieser Effekt bleibt grösstenteils aus – insbesondere aus drei Gründen. Erstens sind viele armutsbetroffene Personen nicht erwerbstätig und profitieren somit nicht von den Lohnerhöhungen. Zweitens liegt das Haushaltseinkommen vieler Personen, die unter dem Mindestlohn verdienen, deutlich über der Armutsgrenze. Dazu gehören beispielsweise junge Erwachsene, die noch im Elternhaushalt leben, aber einen (Neben-)Job ausüben, der unter dem Mindestlohn liegt. Doch ebendiese jungen Erwachsenen könnten möglicherweise durch Entlassungen oder eine reduzierte Zahl von Neuanstellungen sogar in eine noch schlechtere finanzielle Lage geraten.
Drittens sind viele sogenannte Working Poor, also Personen, die trotz Arbeit ein Einkommen unter dem Existenzminimum erzielen, Selbständige. Diese profitieren jedoch ebenfalls nicht von den Mindestlöhnen. Das heisst: Mindestlöhne helfen jenen, denen sie helfen sollten, in der Mehrzahl der Fälle gerade nicht.
Im Rahmen des Wirtschaftsmonitorings 2021 wurde für den Kanton Zürich eine grobe Hochrechnung zu diesen Faktoren vorgenommen. Dabei zeigte sich, dass nur 6,3 Prozent der von Armut betroffenen Personen von einem Mindestlohn profitieren würden. Anders ausgedrückt: Der Mindestlohn reduziert die Armut nur marginal und betrifft überwiegend Personen, die nicht von Armut betroffen sind.
Angesichts dieser Zahlen stellt sich ernsthaft die Frage, ob das Risiko negativer Beschäftigungseffekte durch einen Mindestlohn gerechtfertigt ist. Denn es ist vor allem der flexible Arbeitsmarkt, der uns zu der im internationalen Vergleich niedrigen Gesamt- und Jugendarbeitslosigkeit verhilft. Arbeit bleibt nun einmal eine der wirksamsten Armutsbekämpfungsmassnahmen.
Melanie Häner-Müller leitet den Bereich Sozialpolitik am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.
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