Für konservative Anleger gibt es gute Gründe, hoch bewertete Aktien grundsätzlich zu meiden. Auf Rendite müssen sie deshalb keineswegs verzichten, im Gegenteil.
IBM und Xerox waren in den Siebzigerjahren als Unternehmen sehr erfolgreich. Xerox konnte ihren Jahresgewinn von 160 auf fast 600 Mio. $ steigern und IBM ihren Profit von 800 Mio. auf über 3,3 Mrd. $ vervielfachen.
Die Kursentwicklung der Aktien spiegelte den fundamentalen Trend überhaupt nicht. Während die US-Konsumentenpreise um 150% nach oben schossen, standen IBM-Aktionäre am Ende der zwölfjährigen Inflationsperiode selbst inklusive aller Dividenden kaum besser da als zu Beginn, real waren sie rund 60% ärmer. Xerox-Aktionäre mussten nominal harte Verluste von über 40% (inkl. Dividenden) verkraften, real sogar von fast 80%.
Wie passten kräftig wachsende Unternehmensgewinne und miserable Kursentwicklung über einen so langen Zeitraum zusammen?
KGV-Schmelze trifft Anlegerlieblinge
Abb. 2 liefert die Antwort: Das Abschmelzen der Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) überkompensierte die vielfach sehr positive Entwicklung der Unternehmensgewinne. Besonders betroffen waren die Unternehmen, für die Anleger zu Beginn der Inflationsperiode sehr optimistisch gestimmt und entsprechend bereit waren, sehr hohe KGVs zu zahlen wie beispielsweise für IBM oder Xerox.
Selbst Aktionäre der Unternehmen, die zu Beginn der Inflationsära vergleichsweise günstig bewertet waren, wie Deere oder Exxon, mussten ein Abschmelzen der KGVs hinnehmen, so dass die Wertentwicklung ihrer Aktien nicht das volle Ausmass ihrer Gewinnsteigerungen spiegelte. Allerdings waren die Auswirkungen der Schmelze bei ihnen eher moderat.
Ein weiterer Vorteil der niedrigen KGVs bestand darin, dass sowohl mit Deere als auch mit Exxon vom Start weg markant höhere Dividendenrenditen erzielt werden konnten. Diese allein glichen bereits die Inflationsrisiken aus. Bezogen auf ihre Ausgangskurse zu Beginn der Siebzigerjahre erzielten Aktionäre von Deere und Exxon allein 1982 eine Dividendenrendite von rund 20%; die Anteilseigner von Xerox und IBM mussten sich hingegen mit 3 bzw. 5% begnügen.
Die bessere Entwicklung günstiger Aktien beschränkt sich jedoch keineswegs nur auf inflationäre Zeiten. Auch in der jüngeren Vergangenheit entwickelten sich günstige US-Aktien deutlich besser als teure:
Teure Aktien dominieren die Indizes, günstige Aktien liefern die Überrendite
Abb. 3 zeigt sehr schön den weitgehenden Gleichlauf des S&P-500-Index (schwarze Linie) mit dem Portfolio der hundert nach KGV teuersten S&P-500-Aktien (rote Linie). Der Gleichlauf ist leicht erklärbar, werden doch teure Aktien in marktkapitalisierten Indizes naturgemäss viel höher gewichtet als günstige Titel.
Das mittlere KGV im teuersten S&P-500-Quintil beträgt aktuell 71, während es im günstigsten knapp unter 10 liegt. Die hundert Konzerne mit den günstigsten Aktien erwirtschaften 28% der Unternehmensgewinne im S&P 500, kommen jedoch nur auf 11% der Marktkapitalisierung. Die hundert Konzerne mit den teuersten Aktien erwirtschaften hingegen nur 8% der Unternehmensgewinne, kommen allerdings auf 24% Indexgewichtung.
Diese Konzentration ist ohne Frage ein Warnsignal, auch wenn es natürlich immer auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass hohe Bewertungen über einen langen Zeitraum hoch bleiben und mitunter sogar weiter steigen. Alfons Cortés schrieb Anfang Februar in einem Beitrag auf themarket.ch, dass bei Halbleiterwerten eine Blasenbildung begonnen habe. Wenn ich mich richtig erinnere, meinte der legendäre Hedge-Fonds-Manager George Soros einmal, dass er stets investiere, wann immer er eine Blase erkenne, da diese für gewöhnlich viel länger weiterläuft, als es sich unsere begrenzte Vorstellungskraft erträumen kann.
Gleichwohl zeigt Abb. 3 sehr schön, dass es auf lange Sicht erhebliche Vorteile bringt, sich stärker für die Aktien zu interessieren, die «Under-loved, Under-owned und Under-valued» sind. Die nach KGV mittleren und günstigeren S&P-500-Quintile lieferten seit 2000 Jahresrenditen von über 10%, der S&P 500 selbst wie auch das nach KGV teuerste Quintil kam im gleichen Zeitraum nur auf knapp 7% p.a.
Gleichzeitig weisen die Quintile mit mittleren und günstigen Bewertungen auch die besseren Risikokennziffern auf. So ist bspw. der Bärenmarkt 2000 bis 2003 fast spurlos an ihnen vorübergezogen. Auch das Inflations- und Zinsschockjahr 2022 haben sie wesentlich besser verkraftet als viele teure Anlegerlieblinge (vgl. Abb. 3).
Weitgehend unbemerkt von den auf wenige grosse US-Technologieaktien fokussierten Finanzmedien lieferten die hundert S&P-500-Aktien mit niedrigen KGVs verglichen mit dem S&P 500 mehr Rendite bei zeitgleich geringeren Rücksetzern:
Konservative Regeln für konservative Anleger
Meine Vermutung für die kommenden Jahre lautet, dass sich die Inflation als hartnäckiger erweisen dürfte, als derzeit von vielen Marktteilnehmern erwartet wird. Wenn ich damit richtig liege, dann dürfte die moderate KGV-Schmelze aus dem Jahr 2022 nicht das Ende, sondern nur der Auftakt eines noch lange dauernden Trends hin zu niedrigeren Markt-KGVs gewesen sein.
Die Inflationsgeschichte der Siebzigerjahre mag sich vielleicht nicht wiederholen, aber – um es mit Mark Twain zu sagen – ein paar Reime wird es vermutlich geben. Die gegenläufige Entwicklung des letzten Jahres könnte sich daher als eine nur temporäre Gegenbewegung entpuppen. Doch selbst wenn ich mit meiner Vermutung danebenliegen sollte, verfügen fundamental günstig bewertete Aktien im Vergleich zu ihren «Over-loved, Over-owned und Over-valued»-Pendants langfristig über das attraktivere Chance-Risiko-Verhältnis.
Gerade eher konservative Anleger, die auch im Aktienportfolio der Begrenzung von Risiken Vorrang einräumen, sollten bei der Aktienauswahl ein Regelwerk bevorzugen, das ihre Wünsche auf jeder Entscheidungsebene berücksichtigt. Bei fundamentalen Bewertungen bedeutet dies meines Erachtens: günstig ist besser als teuer. Beim Kriterium historische Volatilität ist schwankungsarm nahezu immer besser als stark schwankend, und in Bezug auf das Momentum ist der Ausschluss von Verlierern in den meisten Fällen ebenfalls vorteilhaft.
Wenn ich diese zugegebenermassen recht grobkörnigen Kriterien auf die Aktien im Index Stoxx Global 1800 anwende, dann befinden sich derzeit über 200 Titel in allen drei Kriterien in der attraktiveren Hälfte der Indexmitgliederliste. Es gibt also reichlich Auswahl. Auch aus Österreich, der Schweiz und Deutschland sind ein paar bekannte Namen darunter:
Fazit
Je höher Aktien fundamental bewertet sind, umso grösser ist die Gefahr von Enttäuschungen, falls dereinst der Wind an den Märkten und/oder bei den betreffenden Unternehmen dreht. Der Einbruch der KGVs in den inflationären Siebzigerjahren sollte als Warnung verstanden werden, dass hoch bewertete Aktien selbst bei guter Unternehmensentwicklung massive Verluste erleiden können.
Aktien mit mittleren oder günstigen Bewertungskennziffern bieten hingegen langfristig vielfach höhere Renditechancen bei geringerem Risiko. Gerade für konservative Langfristanleger liegt damit eine Entscheidung für günstige bzw. gegen teure Titel auf der Hand. Ein Blick auf die Bewertungsdifferenzen der Aktien im Stoxx Global 1800 zeigt, dass es international reichlich günstige Auswahlmöglichkeiten für einen solch eher konservativen Ansatz gibt.
Daniel Haase
Sein Wunsch, nie wieder vom Glück abhängig zu sein, trieb ihn vor 23 Jahren zur systematischen Marktanalyse. Das von ihm von 2002 bis 2006 entwickelte Trendanalyse-Modell wie auch seine Untersuchungen zur regelbasierten Aktienauswahl wurden von der Vereinigung Technischer Analysten Deutschlands 2009 und 2019 mit VTAD Awards ausgezeichnet.
Seit September 2023 ist Haase als Fondsmanager beim Düsseldorfer Vermögensverwalter WBS Hünicke für mehrere quantitative Anlagestrategien privater und institutioneller Investoren verantwortlich. Zuvor war er acht Jahre Asset Manager bei einem Hamburger Vermögensverwalter, davon fünf Jahre als Vorstand. Seine monatlichen Marktanalysen werden im Empiria-Brief veröffentlicht.