Das Geschirr ist ein wesentlicher Teil der Ess- und Trinkkultur. Der Wandel der Tischsitten zeigt sich im wechselnden Sortiment von Töpfen, Tellern und Tassen.
Der Mug. In der WG kam der Mug auf den Frühstückstisch. Oder gleich neben die Bettkante auf den nackten Boden. Das geräumige Gefäss eignete sich für Milchkaffee ebenso wie für Kräutertee. Denn diese grosse Tasse ist ein Becher mit einem Henkel dran. Deshalb seine englische Bezeichnung: Mug.
Jeder hatte seinen persönlichen Mug. Erkennbar am bunten Aufdruck. Eigentlich eine Scheusslichkeit. Nicht wenigen aber ist der Mug ans Herz gewachsen. «I-‹Heart›-NY» stand da auf einem Exemplar, das Herzsymbol zwischen den Lettern knallrot. Ein anderer zeigte die graue Landkarte von London, geteilt durch die blau mäandernde Themse. Darüber der weisse Schriftzug «East Enders».
Das war ein Erinnerungsstück aus der Londoner Studienzeit. Und mit Bezug zur TV-Serie mit den herzerwärmenden Nachbarschaftsdramen in Londons proletarischem Osten. Diese gab es in allabendlichen Dosen. Dazu den Mug mit viel zu feinem Darjeeling, ruiniert durch einen Gutsch Milch, die beige Brühe bis zum Rand.
Anders als bei den Eltern
Der Mug war auch ein Stück Rebellentum. Er richtete sich gegen die gutbürgerliche Tafelkultur. Ein Statement für den schlechten Geschmack der Briten. Sentimental, kindisch auch in seinen Versionen mit Dinosaurieraufdruck. Plump in der Form. Aber Hauptsache anders als das Geschirr im elterlichen Haushalt.
Als Britishness das Nonplusultra war, gab es zu Hause für jeden ein eigenes Frühstücksgeschirr. Wedgwood in Kobaltblau, in Altrosa, in Pistaziengrün und mit englischen Parklandschaften oder chinesischen, mit Pavillons gespickten Gärten darauf – sogenannten Chinoiserien. Auch das war eine Rebellion. Diejenige der Eltern gegen das Rosenthal der Grosseltern. Brave Blümchen, das passte nicht mehr in die neue Wohnkultur der siebziger Jahre.
Geschirr ist Geschmacksache. Denn beim Geschirr geht es nicht nur um den Geschmack dessen, was drauf oder hinein kommt, sondern auch um den Geschmack bezüglich dessen, was bereits drauf ist. Wie sagt man so schön? Das Auge isst mit. Und nicht einmal die Fast-Food-Kultur und McDonaldisierung der Tischsitten konnte ganz auf den Speiseuntersatz verzichten. Zur blossen Pappe verkam hier im Zug der Wegwerfgesellschaft allerdings, was einst zum familieneigenen Tafelsilber gehörte.
Tafeln, das war einst Hochkultur. Heute ringen die grossen Porzellanmanufakturen um ihre Existenz. Fast dreihundert Jahre lang war das weisse Gold in Europa fester Bestandteil des guten Lebens. Als 1710 in Meissen die Herstellung von Porzellan gelang, wollte an den europäischen Fürstenhöfen niemand mehr aus etwas anderem essen. Das Bürgertum tat bald wie die Fürsten. Die Begeisterung für das, was Marco Polo unter dem Begriff China-Ware mit nach Europa gebracht hatte, fand eine neue Spielwiese. Es war die Blütezeit europäischer Porzellankunst.
Tabula rasa in Weiss
Nichts aber hat Bestand. Auch nicht auf unseren Tischen. Vieles, was überdauern will, muss ins Museum abwandern. Die Verbannung des porzellanenen Goldrands vom Tischtuch in die Vitrine erfolgte spätestens mit der Erfindung von Kleinfamilie und Geschirrspülmaschine. Praktisch und nicht prunkvoll musste Geschirr fortan sein, und makellos sauber. Die Tabula rasa traditioneller Tafelkultur fand ihren Vollzug in klinischem Weiss.
Den weissen Trend machen die Manufakturen zwangsläufig mit. Sie bringen auch schlichte und alltagstaugliche Linien auf den Markt, frei von jeglichem Dekor. Aber das reicht nicht. Allein die Meissener Manufaktur muss staatlich gestützt werden. In DDR-Zeiten war sie noch ein formidabler Devisenbringer.
Die Firma sitzt auf unverkäuflicher Ware in Millionenhöhe. Selbst die wichtigen Absatzmärkte in Ostasien können das nicht ändern. Da hilft auch nicht, dass sich die Chinesen auf ihrer Grand Tour durch Europa das Meissener Porzellan im Dresdner Zwinger anschauen. Dort ist die historische Sammlung von August dem Starken zu bewundern. Die schönsten und bedeutendsten der rund 20 000 erhaltenen Stücke hat Peter Marino gründlich entstaubt. Der New Yorker Stararchitekt der grossen Modeboutiquen setzt die Stücke effektvoll und zeitgemäss in Szene.
Diese Porzellane sind heute Kunst. Und was davon noch auf dem Markt ist, kommt nicht auf den Tisch, sondern ist das Objet de désir von Sammlern, gedacht für ein Dasein hinter Vitrinenglas. Die antiken Sammlerstücke aus dem 18. Jahrhundert werden beim Zürcher Auktionshaus Schuler im Bereich der Antiquitäten angeboten.
Seit einigen Jahren führt das Auktionshaus aber auch eine Abteilung mit dem Etikett Tischkultur. Das lässt aufhorchen. Kehrt Grossmutters Service zurück? Ist er doch noch nicht ganz am Zeitgeist zerbrochen, der Zauber traditionellen Manufakturporzellans? Royal Copenhagen, Nymphenburg und vorab Meissen gelten als die Luxus-Brands des Geschirrs. Und Vintage ist en vogue.
Das Auktionshaus wird geradezu überschwemmt mit Einlieferungen handbemalter, aufwendig gefertigter Tafelservices alter Tradition, aber jüngeren Datums. Und findet die entsprechende Nachfrage. Die einen erben das Service und haben keine Verwendung dafür. Die anderen können sich den Erwerb an einer Auktion leisten, wo man mehrere Teile für denselben Preis bekommt, den man für einen einzelnen Teller bei der Manufaktur selber bezahlen müsste.
Die Nachfrage komme vor allem aus Frankreich und England, sagt Sandra Sichler, Expertin für Kunsthandwerk bei Schuler. In diesen Ländern pflege der Mittelstand noch das gediegene Dinieren. Und auch eine porzellanaffine Kundschaft aus China und Singapur finde immer öfter Gefallen am hochwertigen Kunsthandwerk aus den berühmten europäischen Manufakturen. Auf kulturelles Interesse würden hier vor allem Dekors mit Chinoiserien stossen.
So findet also europäisches Manufakturporzellan den Weg nach China, woher einst die chinesischen Vorbilder für die Porzellanherstellung in Europa kamen. Der Transfer erfolgt heute aber in beide Richtungen. Porzellan gelangt seit längerem wieder en masse aus dem Reich der Mitte in den Westen: nun die Billigvariante. China, diese Hochkultur, die es auf dem Gebiet des weissen Scherbens schon früh zu grösster Meisterschaft gebracht hat, produziert heute für den Weltmarkt, die maschinelle Massenherstellung macht es möglich.
So lässt Ikea sein alltagstaugliches Geschirr schon lange in China herstellen. Geht’s kaputt, macht’s nix. Der Preis für einen Teller solch neuer China-Ware liegt oft unter jenem für die Rohmaterialien, aus welchen das Gericht gekocht ist, das darauf serviert wird.
Die Portugiesen kommen
Mit an unsere Tische setzen sich zurzeit aber nicht mehr nur die Chinesen mit ihrer Billigware, sondern zusehends auch die Portugiesen. Keramikläden mit schönen handgefertigten Produkten aus Portugal schiessen gerade wie Pilze aus dem Boden. Am Zürcher Hechtplatz wird bunt glasiertes Geschirr aus gebranntem Ton auf zwei Stockwerken angeboten. Und soeben hat Soñho Store in der Innenstadt und am Flughafen eröffnet. Das Schweizer Startup arbeitet mit einer alten portugiesischen Familientöpferei zusammen.
Die Entwürfe für die Steingutkeramiken kommen aus der Schweiz, die Palette von Glasurfarben und Geschirrformen ist so breit gefächert, dass kaum je der altbackene Eindruck entsteht, es handle sich um ein einheitliches Tafelservice. Und doch passt alles bestens zusammen.
Überhaupt läuft das weichere und wärmere Steingut dem harten, transparenten und kratzfesten Porzellan auch im Dekorbereich gerade den Rang ab. Bereits vor Jahren ist die einfache, tönerne Gebrauchskeramik Süditaliens aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum hippen Sammelobjekt geworden. Die erdige Irdenware mit ihrem simplen Dekor will dort niemand mehr haben. Hier verspricht sie Ursprünglichkeit.
Das Statement «Retour à la nature» scheint dieser im besten Sinn primitiven Handwerkskunst sozusagen in den Ton eingebrannt zu sein. Wer in Stahl, Glas und Beton lebt, braucht etwas Wärme. Die Töpfe, Schalen und Teller aus Apulien, Kalabrien, Kampanien und der Basilikata mit ihrer oft spärlich glasierten, schrundigen Oberfläche geben das Gefühl, Haut zu berühren, in der Leben pulsiert.
Nur selber töpfern ist schöner
Die Tafelkultur wird also wieder bunter. Und dem Zeitgeist entsprechend sogar auch etwas divers. Transkulturell war sie immer schon, wie die historischen Verbindungen nach Ostasien zeigen. Diversity aber, das Schlagwort der Stunde, soll heute auch auf unseren Tischen stattfinden. Die kulturelle Vielfalt des Restaurantangebots spiegelt sich eben auch in den Kochgewohnheiten.
Wir essen Sushi auf viereckigen Plättchen mit Japandekor, Pizza aus Tellern mit Medusen-Motiv von Versace, ein Couscous aus marokkanischem Tongeschirr aus dem Ökoladen. Den Schwiegereltern aber reicht man den Nachmittagstee mit einem Service von Herend.
Dafür trifft man Freunde neuerdings im Kreativ-Café oder in der Töpfer-Bar. Dort kann man bei einem Latte macchiato oder einem Negroni seine Wunschkeramik gleich selber bemalen und nach dem Brand mit nach Hause nehmen. Lokale wie das erst kürzlich eröffnete Nebu in Zürich haben Kultpotenzial. Man liest dort einen der Rohlinge aus, schnappt sich Pinsel und Farbe und wird für eine entspannte Stunde zum Kunsthandwerker. Meditativer ist nur noch das Töpfern selber. Immer mehr Menschen tun es. Und am besten geht’s mit einem Mug voll warmen Tees neben der Drehscheibe.