Unternehmer drohen bereits damit, auszuwandern. Aber die politische Schweiz ist nicht plötzlich unberechenbar geworden.
Die Juso haben eine Initiative für eine Erbschaftssteuer eingereicht, die noch vor kurzer Zeit routiniert weggelächelt worden wäre. Nur wenige Jahre ist es her, dass die Stimmbevölkerung eine Erbschaftssteuer mit 71 Prozent verwarf. Kein einziger Kanton war dafür.
Doch in diesen Sommertagen repolitisiert die neuste Juso-Initiative selbst Milliardäre, die sich aus der Politik zurückgezogen haben. Peter Spuhler, Unternehmer und früherer SVP-Nationalrat, erwägt die Auswanderung nach Österreich. «Die Juso zwingt mich dazu», sagte er in der «Sonntags-Zeitung». Thomas Straumann, Unternehmer aus Basel, äussert sich sonst eigentlich «nur zu Orthopädie und Springpferden», aber jetzt bat er die NZZ zum Interview. Er sagte: «Wenn ich gehe, komme ich nicht mehr zurück.» Und Giorgio Behr, Unternehmer aus Schaffhausen, sagte dem «Tages-Anzeiger»: «Wir machen in der Schweiz langsam, aber sicher unsere gute Umgebung kaputt.»
In der Schweizer Wirtschaft gebe es eine Dekadenzstimmung, stellte der «Nebelspalter»-Verleger Markus Somm schon im Jahr 2021 fest, nachdem er in diesen Kreisen nach Investoren gesucht hatte. Der allgemeine Eindruck: «Wir sind das Römische Reich. Wir gehen alle unter.» Nach der Annahme der gewerkschaftlichen Initiative für eine 13. AHV-Rente im vergangenen Februar scheint sich dieses Gefühl verfestigt zu haben. Es herrscht allgemeine Verunsicherung.
In den Zeitungen heisst es, die Stimmbevölkerung sei unberechenbarer geworden. «Droht bei der Erbschaftssteuer-Initiative der Juso dasselbe Szenario wie bei der Initiative für eine 13. AHV-Rente?», fragt die «NZZ am Sonntag». Im Parlament kursiert bereits ein Gegenvorschlag, der Mitte-Nationalrat Thomas Rechsteiner sagt: «Mir steckt noch der Schreck in den Knochen.»
Es ist das Trauma, das die Bürgerlichen aus der Abstimmung über die 13. AHV-Rente davongetragen haben: Hat die alte Schweiz, die sich selbst noch vor wenigen Jahren eine sechste Ferienwoche verwehrte, die immer auch ordnungspolitisch abgestimmt hat, hat dieses bürgerliche KMU-Land sich selbst vergessen?
Eine vergangene Normalität?
Im Juni 2015 stimmte die Schweiz letztmals über eine Erbschaftssteuer ab – am Abstimmungssonntag wurde sie von dem Politologen Claude Longchamp am Schweizer Fernsehen zackig beerdigt: Die Initiative habe polarisiert zwischen dem linken und dem bürgerlichen Lager, erklärte er, «und zwar recht scharf». Mit anderen Worten: Die linke Initiative kam nicht über die linke Minderheit in der Schweiz hinaus, obwohl der Zweck auch bei der bürgerlichen Mehrheit beliebt war. Das Geld aus der Erbschaftssteuer war für die AHV gedacht.
Im Fernsehstudio lächelte das bürgerliche Selbstvertrauen. Nationalrätin Sylvia Flückiger-Bäni von der SVP war «sehr erfreut für den Werkplatz Schweiz». Nationalrat Beat Jans von der SP versprach, man werde es vielleicht irgendwann wieder versuchen.
Sind das Szenen einer Normalität, die es nicht mehr gibt – ist die Schweiz in sozialpolitischen Fragen eine andere geworden?
Das kathartische Moment
«Nein», sagt der Meinungsforscher Michael Hermann, der das Ja zur 13. AHV-Rente früh vorausgesagt hat. «Es hat sich zwar etwas verschoben in der Schweiz, aber es hat sich nicht plötzlich alles gedreht.»
Die ungewohnt nervöse Erbschaftssteuer-Debatte, lange vor der Abstimmung, erklärt er sich mit zwei Faktoren: Einerseits hätten die Unternehmer-Interviews etwas Kathartisches. «Es sind Versuche von Befreiungsschlägen, nachdem die Bevölkerung in letzter Zeit wirtschaftskritischer geworden ist.» Andererseits lade sich die Debatte nach ungewöhnlichen Abstimmungsergebnissen oft emotional auf – so wie schon die 1:12-Initiative der Juso vor allem deshalb gefürchtet worden sei, weil es kurz zuvor eine Mehrheit für die sogenannte Abzocker-Initiative von Thomas Minder gegeben habe.
Die Juso-Initiative für eine Erbschaftssteuer werde chancenlos sein, sagt Michael Hermann. Nur schon deshalb, weil es «die vielleicht emotionalste Steuer von allen» ist. «Das Erben berührt eine tiefere, irrationale Ebene. Plötzlich werden Leute gierig, riskieren den Familienfrieden. Sie finden: ‹Das steht mir zu.› So haben es rationale Argumente für eine solche Steuer sehr schwer.»
Zudem ist die Initiative gar nicht konstruiert, um eine möglichst heterogene Mehrheit anzusprechen, sondern um eine möglichst homogene Minderheit zu mobilisieren: die Juso selbst. Denn das polarisierende Mittel (Erbschaftssteuer) wird dieses Mal verknüpft mit einem ebenso polarisierenden Zweck: Massnahmen für den Klimaschutz. So isoliert sich die Initiative auf dem parteipolitischen Spektrum – «beides sind sehr eindeutig linke Ideen: woher das Geld kommt und wohin es gehen soll», sagt Hermann.
Was zusammenkommen muss
Damit ein Ausbau des Sozialstaats mehrheitsfähig wird, muss wie bei der 13. AHV-Rente sehr viel zusammenkommen. Die Vorlage war hervorragend konstruiert. Einerseits war unklar, wer bezahlen, andererseits aber sehr klar, wer wie viel bekommen würde: jede Rentnerin, jeder Rentner eine zusätzliche Rente. Das war weit in die traditionell ältere, konservative SVP-Basis hinein populär. Eine linke Umverteilungsidee adressierte das Gefühl vieler rechts wählender Leute: Jetzt sind wir dran!
An der Albisgütli-Tagung der SVP applaudierte im Januar das Publikum symbolhaft dem Gewerkschaftsführer und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard: Es trägt den wirtschaftsliberalen Kurs von Christoph Blocher nicht mehr unhinterfragt mit. Anders ist eine solche sozialpolitische Mehrheit kaum denkbar. In der Abstimmung vom 3. März demonstrierte diese Allianz ihr Potenzial – als Vetomacht hatte sie sich aber schon zuvor etabliert.
Die Macht von Maillard
Lange gelangen sozialpolitische Reformen in der Schweiz, weil der Bundesrat über die Parteien regierte. Noch in den 1980er Jahren waren sich die Regierungsparteien in zwei Dritteln aller Abstimmungsparolen einig, doch dann schrumpfte der Wert auf unter 10 Prozent. Inzwischen stellt die Politologin Silja Häusermann eine «sinkende Reformfähigkeit wegen zunehmender Polarisierung» fest.
Was ist geschehen? Zuerst verabschiedete sich in den 1990er Jahren die SVP aus der Kompromissschweiz. Reformen brauchten nun, um mehrheitsfähig zu sein, die Unterstützung der sozialliberalen Kräfte innerhalb der SP. So wie es im Jahr 1995 bei der zehnten AHV-Revision gelang, als die SP bereit war, eine Rentenaltererhöhung der Frauen zu akzeptieren, weil sie dafür gesellschaftspolitische Fortschritte durchsetzen konnte: Einkommenssplitting, Erziehungsgutschriften.
Eine Abstimmung im Jahr 2002 markierte aber den «Abschied der Reform-Sozialdemokratie», wie es Michael Hermann nennt. Die Schweiz stimmte über das Elektrizitätsmarktgesetz ab, einen weiteren Kompromiss: eine Öffnung des Strommarkts, verbunden mit besseren Bedingungen für erneuerbare Energien. Die Delegierten der SP lehnten den Kompromiss ab, und nicht nur sie. «Mit der Niederlage gegen die liberalisierungsmüde Stimmbevölkerung verlor die sozialliberal angehauchte, Deutschschweizer Fraktionsmehrheit die Deutungshoheit über die Partei», schreibt Hermann. Bundesrat Moritz Leuenberger nannte den neuen Kurs seiner Partei «konservativ, ja reaktionär» («Sonntags-Blick»), der Parteipräsident Peter Bodenmann schimpfte über die internen «Strukturerhalter».
Durchgesetzt hatte sich ein junger, gewerkschaftlicher Nationalrat aus der Waadt, der nun verkündete: «Das Gravitationszentrum der Politik hat sich verschoben.» Sein Name: Pierre-Yves Maillard. Seine sozialkonservative Erzählung hatte sich zuerst in der SP durchgesetzt – und dann als Referendumsmacht entwickelt, bis sie in der Abstimmung über die 13.-AHV-Initiative endgültig mehrheitsfähig wurde, weil sie bis in nationalkonservative Kreise anschlussfähig war.
In diesem September stimmt die Schweiz über eine Reform der Pensionskassen ab. Pierre-Yves Maillard und die Gewerkschaften haben das Referendum ergriffen. Und es könnte wieder knapp werden: Erste Umfragen zeigen, dass die Reform auch an der Basis der SVP sehr kritisch betrachtet wird. Die Befürworter der Reform können nicht überrascht sein. Zumindest diese Art von Widerstand müssten sie bereits kennen.