Montag, November 17

Trotz wiederholten Korruptionsfällen an der Spitze schreitet die Expansion des chinesischen Militärs voran.

Innerhalb nur gerade eines Jahres hat China die Anzahl seiner einsatzfähigen Atomsprengköpfe von 500 auf 600 erhöht. Zu diesem Schluss kommt das amerikanische Verteidigungsministerium in seinem neusten, jährlich erscheinenden Bericht zu militärischen und sicherheitspolitischen Entwicklungen in China.

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Damit schreitet der seit längerem beobachtete Ausbau des Arsenals rasant voran. Bis 2030, so vermuten die amerikanischen Experten, soll China 1000 Sprengköpfe besitzen. Zum Vergleich: Russland und die USA haben zurzeit je etwa 1500 einsatzfähige Atomwaffen.

Ändert China seine Einsatzdoktrin für Atomwaffen?

Vor gut zwanzig Jahren, als das Pentagon den China-Bericht zu veröffentlichen begann, habe China nur über eine bescheidene regionale nukleare Abschreckungsfähigkeit verfügt, sagte Michael Chase, der für China zuständige Deputy Assistant Secretary im Pentagon, an einer Podiumsdiskussion zum neusten Bericht.

Heute verfügt Peking über eine nukleare Triade, das heisst, es kann Atomsprengköpfe mit bodengestützten Raketen aus Silos und von mobilen Plattformen abfeuern, auf See von U-Booten aus und aus der Luft mit Langstreckenbombern. Auch entwickelt die Volksbefreiungsarmee Sprengköpfe mit unterschiedlicher Stärke. «Damit verfügt die Volksrepublik China über ein breiteres Spektrum an Optionen für die nukleare Abschreckung als bisher», sagt Chase.

Den Amerikanern macht besonders zu schaffen, dass sich Peking darüber ausschweigt, was es mit dem Ausbau seines Atomarsenals bezweckt. «Wofür sind all diese Atomwaffen genau?», fragte bei der gleichen Präsentation Ely Ratner, der für den Indopazifik zuständige Vizeverteidigungsminister.

Für Ratner stellt sich die Frage, ob China von seiner bisherigen Doktrin einer «glaubwürdigen minimalen Abschreckung» abkommt. Und: Gilt die offizielle Erklärung Pekings noch, dass man nie als erste Partei in einem Konflikt Atomwaffen einsetzen werde? Der Pentagon-Bericht schreibt von wiederholten Versuchen der amerikanischen Seite, den Dialog zwischen den Streitkräften und Verteidigungsministerien beider Länder zu vertiefen – China zeigt wenig Interesse daran.

Wie stark bremst die Korruption die Volksbefreiungsarmee?

Einen besonderen Fokus legt das Pentagon in der jüngsten Berichtsperiode auf die Korruptionsfälle in den höchsten Chargen der Volksbefreiungsarmee. So wurden in der zweiten Jahreshälfte 2023 fünfzehn hochrangige Offiziere und Verantwortliche der staatlichen Rüstungsindustrie ihrer Posten enthoben. Diese Säuberungswellen gehen weiter – erst vor einem Monat verlor der oberste Militär des Landes, Admiral Miao Hua, seine Position.

Besonders stark betroffen waren die Raketenstreitkräfte, die für den Grossteil des chinesischen Atomwaffenprogramms zuständig sind. Hier wurde die ganze Führungsspitze ausgewechselt. Das Pentagon vermutet, dass das mit Korruption beim Bau von Raketensilos zusammenhänge. In den letzten Jahren hat China drei grosse Felder mit Raketensilos für insgesamt 300 Langstreckenraketen erstellt.

Unter Beobachtern gibt es eine intensive Diskussion, wie stark die Korruptionsfälle die Modernisierung der Volksbefreiungsarmee bremsen und ob das deren Einsatzfähigkeit schmälert. Ratner spricht davon, dass die fünfzehn Korruptionsfälle nur die Spitze des Eisbergs seien: «Solche Kampagnen führen oft zu einer Lähmung der Institutionen auf unteren Ebenen.» Grund dafür sei eine hohe Risikoaversion, weil man bei Fehlern befürchten müsse, selber in Korruptionsuntersuchungen verwickelt zu werden.

Wie stark das die Entwicklung der Volksbefreiungsarmee wirklich bremst, ist schwierig zu sagen. So stellt das Pentagon bei allen chinesischen Teilstreitkräften stetige Fortschritte fest: Die Landstreitkräfte setzten ihre jahrzehntelange Modernisierung fort, und die Luftwaffe habe bei Flugzeugen und Drohnen amerikanische Standards erreicht, schreibt es.

Chinas Streitkräfte werden globale Akteure

Die Marine habe mehr Kampfschiffe als irgendein anderes Land und entwickle sich zu einer globalen Streitkraft, die ihren operativen Aktionsradius schrittweise über Ostasien hinaus ausdehne und in der Lage sei, über immer grössere Entfernungen zu operieren. Selbst den von Korruption geschüttelten Raketenstreitkräften gestehen die Amerikaner zu, dass sie mit ihren langfristigen Modernisierungsplänen voranschreiten und die strategische Abschreckung stärken.

Die Volksbefreiungsarmee konzentriere sich auf die Entwicklung von Fähigkeiten, um die Interventionen Dritter in der indopazifischen Region zu verhindern oder diese von einem Einschreiten abzuschrecken, so die Zusammenfassung des Berichts. Das bedeutet für die amerikanischen Militärs, dass ihre Präsenz im Krisenfall im Südchinesischen Meer oder um Taiwan zunehmend prekär ist. Das gilt auch für die Militärbasen in Japan und anderswo in der Region.

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