Sonntag, Oktober 13

Diese Bücher bezaubern mit Geschichten, Wissen und Humor – und durch die innovative Weise, wie sie erzählt und illustriert sind.

Seine Bücher sind dicker als die meisten Bilderbücher, gründlich recherchiert, episch erzählt und – nein, kein Nischenprodukt, sondern ein Welterfolg. Vor zehn Jahren startete Torben Kuhlmanns «Lindbergh» durch. Seither erleben seine Mäuseabenteuer einen Höhenflug, bieten Technikgeschichte und das Schauvergnügen historisierender Bildwelten. Diesmal setzt sich eine kühne Wühlmaus gegen alle im Gemüsegarten durch, hält am Traum vom Fliegen fest und gelangt so zur Frauenrechtlerin und Pilotin Amelia Earhart.

Tipp von Hans Ten Doornkaat: «Earhart» von Torben Kuhlmann

Man lacht, ist gebannt, dann wieder gruselt’s einen. Sams Mutter ist fürsorglich, aber sonderbar. Sie kauft Sam und ihren Brüdern unmögliche Kleider, kocht Schnecken und Krähen und zieht für den Weihnachtsbaum einen Stern vom Himmel. Als sie anfängt, die Kinder möglichst kalorienreich zu bekochen, wird Sam misstrauisch. Sie denkt an «Hänsel und Gretel» und spioniert der Mutter nach. Kinderalltag, Mystery und Thriller wechseln sich ab in diesem preisgekrönten Roman voller Überraschungen – die verrückteste kommt zum Schluss.

Tipp von Andrea Lüthi: «Sturm überm Winkelhaus» von Julia Kahrs

Deutsch von Meike Blatzheim. Illustriert von Kristina Kister. Oetinger 2024. 256 Seiten, um 20 Franken, E-Book 12 Franken (ab 10 Jahren).

Elena flüchtet wegen eines Shitstorms aufs Land zu ihrer Tante, die sie kaum kennt. Zwischen deren Stiefsohn Atlas und Elena entsteht sofort eine Spannung zwischen Feindseligkeit und Anziehung. Beide haben ein Geheimnis, beide kennen Schmerz, Verzweiflung und Ablehnung. So gegensätzlich die gefeierte Influencerin und der Survival-Experte auch sind, man kann sich als Leserin doch in beide einfühlen. Anna Woltz wertet nicht, und in präziser, knapper Sprache und mit vielen Zwischentönen lässt sie die beiden abwechselnd erzählen.

Tipp von Andrea Lüthi: «Atlas, Elena und das Ende der Welt» von Anna Woltz

Carlsen 2024. 192 Seiten, um 16 Franken, E-Book 8 Franken (ab 11 Jahren).

Sex sei der beste Lockstoff, auch für Anatomielektionen. Doch es gibt weitere Tricks: eklige Körperflüssigkeiten, denn Igitt-Themen ziehen immer. Was hat es mit Speichel, Nasenschleim, Blut und Schweiss auf sich? Und warum löst Magensäure nicht den Magen auf? Gut getextet und rotzfrech illustriert, ist das Erklären der «flüssigen Superkräfte» ein lohnender Weg zu Körperwissen.

Tipp von Hans Ten Doornkaat: «Von Rotze bis Kotze» von Johanna Klement (Text) und Karsten Teich (Bild)

Die Hand wiederum lässt sich mit Kulturgeschichte zu Gestik und Sprachbildern oder mit Sensomotorik anreichern. Unser alltäglichstes Werkzeug ist ein Wunderwerk, mechanisch wie symbolisch. Das Buch von Magda Gargulakova und Vitezslav Mecner zieht auch gestalterisch viele Register, um die komplexen Themen zu erklären. Das Sammelsurium ist stilsicher durchgestaltet und von faszinierender Vielschichtigkeit.

Tipp von Hans Ten Doornkaat: «Alles über die Hand» von Magda Garguláková (Text) und Vítězslav Mecner (Bild)

Übersetzt von Lena Dorn. Aladin 2024. 88 Seiten, um 29 Franken (ab 8 Jahren).

Als Orpheus in der Clique auftaucht, sind alle verzaubert. Auch Ella verliebt sich in ihn: «Es war etwas, das ich noch nie gehört hatte und doch mein ganzes Leben lang schon kenne.» Ellas beste Freundin erzählt rückblickend von dieser Liebe. Doch ist der junge Musiker real, oder steht er bloss für die innersten Sehnsüchte der Jugendlichen? Almond bettet den griechischen Mythos in die Neuzeit ein und lässt die traumartige Geschichte wie einen Strom dahinfliessen. Alexandra Ernst ist es gelungen, seinen poetisch- hymnischen Erzählstil ins Deutsche zu übertragen.

Tipp von Andrea Lüthi: «Ein Lied für Ella Grey» von David Almond

Übersetzt von A. Ernst. Freies Geistesleben 2024. 218 Seiten, um 24 Franken (ab 14 Jahren).

1949 veröffentlicht Erich Kästner «Die Konferenz der Tiere», ein Kinderbuch gegen den Krieg. Nun lädt die Illustratorin Judith Drews zu einer neuen Konferenz ein. Wieder lautet das Motto: «Es geht um die Kinder», aber neu schliesst das Plädoyer den Umweltschutz mit ein. Dass hier die Figuren vieler Kinderbücher – die Tiere! – als politische Wesen auftreten und den Zweibeinern ins Gewissen reden, ist und bleibt die attraktive Sensation. Drews greift sie auf, irgendwie naiv (wie die Vorlage) und gerade dadurch kompromisslos dringlich.

Tipp von Hans Ten Doornkaat: «Es geht um die Kinder» von Judith Drews

Frankie hat stets einen Plan, das wissen alle. Darum erstaunt es niemanden, wenn der Zehnjährige immer wieder verschwindet, um ein Problem zu lösen, etwa um seine getrennten Eltern zu einem Gespräch zu bewegen oder häusliche Gewalt zu verhindern. Die erfrischend selbstbewusste Figur handelt beherzt, und durch die leichtfüssige, witzige Erzählweise fängt Drvenkar schwere Themen auf. Wie in einem Film kommentiert eine Erzählstimme aus dem Off das Handeln der Figuren, nimmt vorweg oder spult zurück in der Geschichte.

Tipp von Andrea Lüthi: «Frankie und wie er die Welt sieht» von Zoran Drvenkar

Illustriert von Sabine Wilharm. Hanser 2024. 152 Seiten, um 22 Franken, E-Book 12 Franken (ab 10 Jahren).

Antje Damm erzählt ihre phantastische, doch alltagsnahe Geschichte in Scherenschnittschwarz und wenigen Farbtupfern. Nori, ein winziges Wesen, haust in seiner Erdhöhle, mag Beeren und wird plötzlich durch eine bunte (!) Glasmurmel bedroht. Das Kind, dem diese gehört, ist für Nori eine Riesin. Sie hat eine Puppenstube, aber Nori wehrt sich mit lautem Protest dagegen, dort wohnen zu müssen. Raffiniert wird das ewige Nein-Sagen der Kleinen auf den Kopf gestellt. Ein feines Winzlingspektakel und als Buch ein Riesenglück.

Tipp von Hans Ten Doornkaat: «Das Nori sagt Nein!» von Antje Damm

Seit Tagen regnet es, der Flusspegel steigt. Stellen Sie sich ein Wimmelbuch vor, mit Szenen wie von Ali Mitgutsch, bloss laienhafter gezeichnet, dafür mit Engagement. Die Buntheit entschärft die Katastrophenstimmung, nicht aber die Frage, wie es dazu kommt. Versiegelte Böden gehören mit zum Problem.

Tipp von Hans Ten Doornkaat: «Hätte, hätte, Eimerkette» von Bille Weidenbach

Dennoch sei hier auch ein Buch über Strassenbau angepriesen, nicht nur, weil Rettungsfahrzeuge Zufahrtswege brauchen. Es bietet rund um das schwarz-klebrige Belagmaterial eine irrwitzig detailreiche Einführung in Asphaltgewinnung, Aufbereitung und Baustellen. Aspekte der Logistik und der Technik lassen auch Erwachsene staunen. Die Zeichnungen karikieren und zeigen doch fast jede Schraube, dabei geht es zentral um das Zusammenspiel von Maschinen und Menschen.

Tipp von Hans Ten Doornkaat: «Asphalt!» von Salla Savolainen

Übersetzt von Elina Kritzokat. Hanser 2024. 40 Seiten, 25 Franken (ab 6 Jahren).

Otto trägt Knickerbocker und Monokel und lebt allein in einem Schloss mit Bediensteten. Er weiss nicht, warum seine Eltern weg sind, oder hat es vergessen, und es kümmert ihn auch nicht. Besonders vergnüglich ist der Roman, weil Merkwürdiges darin selbstverständlich ist, und wegen der schrullig-liebenswerten Figuren. Auch Ernstes klingt an, denn Otto ist einsam. Als sich Freundschaften entwickeln, merkt er, was lustiger ist, als zu befehlen: gemeinsam im Baumhaus zu übernachten, Geheimgänge zu entdecken oder alles wild durcheinander zu essen.

Tipp von Andrea Lüthi: «Otto von Irgendwas» von Peter Stamm

Illustration: Ole Könnecke. Atlantis 2024. 144 Seiten, 25 Franken, E-Book 14 Franken (ab 9 Jahren).

Wie weit darf man gehen, um das Klima zu schützen? Emma gehört einer Klimaschutzbewegung an, die Autos zerstört und Flughäfen lahmlegt. Reinhardt beschreibt eindringlich Emmas Beweggründe, analysiert Motive und die Ambivalenz in der Bewegung und bringt verschiedene Perspektiven ein: Braucht es etwa Widerstand oder Dialog? Der vielschichtige Roman ist spannend wie ein Thriller, wühlt auf und hallt lange nach. Denn er wirft unbequeme Fragen auf und zwingt einen, nachzudenken über Richtig und Falsch sowie Tatenlosigkeit angesichts der Erderhitzung.

Tipp von Andrea Lüthi: «No Alternative» von Dirk Reinhardt

Gerstenberg 2024. 320 Seiten, um 28 Franken, E-Book 13 Franken (ab 14 Jahren).

Dieser Artikel stammt aus «Bücher am Sonntag», der vierteljährlich erscheinenden Beilage der «NZZ am Sonntag».

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