Donnerstag, November 28

Die finanzielle Situation des Tessins ist angespannt, der Schuldenberg wächst. Jetzt werden im Kanton Forderungen nach einer Umgestaltung des Finanzausgleichs laut.

Bei der vor kurzem zu Ende gegangenen Olma-Messe für Landwirtschaft und Ernährung in St. Gallen hätte eigentlich das Tessin Gastkanton sein sollen. Doch schon frühzeitig wurde dieser Auftritt abgesagt beziehungsweise auf unbestimmte Zeit verschoben. Grund: Der Aufwand von einer Million Franken schien nicht gerechtfertigt. «Wir fanden es nicht richtig, diesen Betrag auszugeben, während wir in anderen Bereichen sparen müssen», so der kantonale Finanz- und Wirtschaftsdirektor Christian Vitta (FDP).

Tatsächlich ist der Spardruck im Südkanton gewaltig, damit die Kantonsfinanzen nicht aus dem Ruder laufen. Das nach vielen Diskussionen und öffentlichen Protesten mit einigen Monaten Verspätung verabschiedete Kantonsbudget 2024 weist in der laufenden Rechnung ein Defizit von 130 Millionen Franken auf. Das Budget 2025 mit einem Fehlbetrag von 69 Millionen Franken sah zunächst besser aus.

Doch der Grosse Rat hat bereits zwei Massnahmen gebodigt, welche rund 23 Millionen Franken an Mehreinnahmen generiert hätten. Die Legislative versenkte einen reduzierten Ausgleich der kalten Progression (8 Millionen) sowie die – ursprünglich vom Volk verabschiedete – Parkplatzsteuer (15 Millionen). Damit nähert sich das budgetierte Defizit von 2025 wieder der 100-Millionen-Franken-Grenze. Und die Verschuldung steigt entsprechend.

Höchste Zuwachsraten bei den Krankenkassenprämien

Doch warum steht der Kanton Tessin finanztechnisch so schlecht da? «Dafür gibt es mehrere Gründe», so der Finanzdirektor Vitta. Er erinnert daran, dass während der Corona-Zeit die wirtschaftlichen Aktivitäten teilweise brachlagen. Die Langzeitfolgen seien noch spürbar bei den Steuereinnahmen von Unternehmen. Er verweist aber auch auf die hohen Ausgaben im Sozial- und Gesundheitsbereich, welche von Jahr zu Jahr ansteigen. Das Paradebeispiel sind die Prämienverbilligungen bei den Krankenkassen, die von 300 Millionen Franken (2019) auf gut 400 Millionen Franken (Budget 2025) gestiegen sind.

Der Kanton verzeichnet landesweit die höchsten Zuwachsraten bei den Krankenkassenprämien und befindet sich auch bei der absoluten Prämienhöhe – hinter Genf und Basel-Stadt – unter den Spitzenreitern. 10 Prozent des gesamten Budgets des Kantons von gut 4 Milliarden Franken werden mittlerweile für Prämienverbilligungen verwendet. Darum hat der Staatsrat auch hier ein wenig an der Schraube gedreht, um im kommenden Jahr die zu erwartenden Ausgaben um 10 Millionen Franken zu drosseln. Die Kritik von links folgte auf dem Fuss, weil rund 2700 Personen von geringeren Prämienverbilligungen betroffen sind.

Während die Prämien bei den Krankenkassen hoch sind, sind die Löhne im Tessin tief – der Medianlohn ist rund 1000 Franken tiefer als im landesweiten Mittel. Auf das Lohnniveau drückt unter anderem die massive Präsenz von Grenzgängerinnen und Grenzgängern – rund 80 000 sind es mittlerweile. «Und im Gegensatz zu Grenzkantonen wie Basel und Genf stehen die meisten Grenzgänger im Tessin in direkter Konkurrenz zu den einheimischen Arbeitskräften», sagt Sergio Rossi, Professor für Makroökonomie an der Universität Freiburg.

Benachteiligt beim Finanzausgleich

Diese Situation wirkt sich gemäss dem Finanzdirektor Vitta negativ auf den interkantonalen Finanzausgleich aus, bei dem im Verteilschlüssel das Gewicht der Grenzgängerinnen und Grenzgänger nicht adäquat berücksichtigt werde. Tatsächlich erhält der Kanton Tessin im Jahr 2025 nur 301 Franken pro Einwohnerin und Einwohner aus dem Finanzausgleich, während der Kanton Aargau beispielsweise 788 Franken, der Kanton Graubünden sogar 1095 Franken und das Wallis 2469 Franken pro Kopf erhält. «Das muss sich ändern, der Finanzausgleich muss unsere spezielle Situation berücksichtigen», so Vitta. Zu dieser Situation gehöre auch das anspruchsvolle und bergige Territorium, das beispielsweise hohe Kosten im Strassenbau verursache.

Rückendeckung erhält er bei dieser Forderung von alt CVP-Nationalrat Remigio Ratti, emeritiertem Professor für Regionalpolitik. Ratti fordert, dass die Lohndiskrepanz zwischen dem Tessin und anderen Kantonen in der Schweiz solidarisch ausgeglichen werden müsse. Weder die Neue Regionalpolitik (NRP) noch der Finanzausgleich berücksichtigten die Nachteile, die dem Tessin als Grenzregion erwüchsen, ausreichend. Deshalb fordert Ratti einen solidarischeren Föderalismus: «Das Tessin kann diese Forderung aber nicht allein stellen: Wir müssen uns mit den anderen sechzehn Grenzkantonen zusammentun und gemeinsam für einen gerechteren Finanzausgleich eintreten.»

Die Situation ist angespannt, die Perspektive nicht besser. Grosse Sorgen machen dem Kanton Tessin etwa die angekündigten Sparmassnahmen des Bundes, wodurch Kosten auf die Kantone abgewälzt werden. Aber auch die anstehende Reform zur Finanzierung der Gesundheitsleistungen (Efas), über welche am 24. November abgestimmt wird, bereitet dem Finanzdirektor Vitta einiges Bauchweh. In Abweichung zur Ja-Parole der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) empfiehlt der Regierungsrat des Kantons Tessin ein Nein, obwohl nur selten Abstimmungsparolen bei eidgenössischen Vorlagen ausgegeben werden. «Eine Annahme dieses Finanzierungsmodells würde unserem Kanton Mehrkosten von zirka 60 Millionen Franken bringen», so begründet Vitta die Nein-Parole.

Für den Wirtschaftswissenschafter Sergio Rossi muss die finanzielle Situation des Kantons Tessin auch im Licht einer langjährigen Entwicklung gesehen werden. Er verweist auf die Rezession in den 1990er Jahren, aber insbesondere auf die wiederholten Steuersenkungen zwischen 2000 und 2019, welche nicht den erwünschten Effekt an Mehreinnahmen gezeitigt hätten und zu einem Defizit bei den öffentlichen Finanzen geführt hätten. Rossi verweist zudem auf eine nachteilige demografische Struktur des Kantons. Im Tessin lebten weit mehr Rentnerinnen und Rentner als im Schweizer Mittel, während der Anteil an jungen Leuten geringer sei: «Das erklärt das vergleichsweise geringe Wirtschaftswachstum im Tessin bei höheren sozialen Ausgaben der öffentlichen Hand.»

Umstrittenes Dekret Morisoli

In der Budget- und Finanzdebatte des Tessins geht es auch immer wieder um das sogenannte Morisoli-Dekret (Decreto Morisoli), das den finanzpolitischen Spielraum des Kantons einschränkt, da eine ausgeglichene Gewinn-und-Verlust-Rechnung des Kantons bis Ende 2025 erfolgen muss. Es wurde vom Grossen Rat im Oktober 2021 verabschiedet und im Rahmen einer Referendumsabstimmung (die Gewerkschaften hatten mehr als 10 000 Unterschriften gesammelt) von den Tessiner Stimmberechtigten am 15. Mai 2022 mit 57 Prozent Ja-Stimmen angenommen.

Gemäss diesem Dekret – benannt nach dem SVP-Fraktionschef Sergio Morisoli – darf das Ziel einer ausgeglichenen Bilanz nicht über Steuererhöhungen erreicht werden und genauso wenig durch ein Abwälzen von Kosten auf die Gemeinden. Das Ziel soll «prioritär mit Massnahmen erreicht werden, welche die Ausgaben drosseln».

Die Gewerkschaft VPOD hat im ersten Halbjahr 2024 die nötigen Unterschriften für eine Volksinitiative gesammelt, mit der das Dekret Morisoli aufgehoben werden soll, «um die antisozialen Sparmassnahmen zu beenden». Die Abstimmung wird aber erst erfolgen, wenn das Dekret Morisoli ausgelaufen ist, dessen Ziel indessen nicht erreicht wird. Die kantonale SVP hat derweil ein neues «Dekret Morisoli bis» lanciert, mit dem eine Ausgabenbremse nach festgelegten Kriterien bis 2027 umgesetzt werden soll.

Initiative für weniger Kantonsbeamte

Vertreter der politischen Rechten und von Wirtschaftsverbänden erhöhen im Kanton den Druck auf die Kantonsregierung, bei den Ausgaben auf die Bremse zu treten. Anfang Oktober hat ein parteiübergreifendes Komitee eine Volksinitiative lanciert, mit der die steigende Zahl von Kantonsbeamten gebremst und ihre Zahl gedeckelt werden soll. Der Kanton Tessin gebe zu viel Geld für seine Verwaltung aus, so wird der Vorstoss begründet. Dies zeigten Vergleichszahlen mit anderen Kantonen.

Gemäss Initiativtext soll die Zahl der Kantonsbeamten – ausgenommen Lehrer und Gesundheits- und Pflegepersonal – nicht 1,3 Prozent der Wohnbevölkerung übersteigen. Innert fünf Jahren müsste der Personalbestand des Kantons um 10 Prozent verringert werden. Das entspreche einer Stellenreduktion von 580 Vollzeitstellen. Interessanterweise sitzen im Initiativkomitee Vertreter von Lega, FDP und Mitte ein, also von Parteien, die im Staatsrat eine relative Mehrheit besitzen. Die Unterschriftensammlung läuft bis Mitte Dezember.

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