Mittwoch, Januar 15

Die Zürcher Regierung will durchgreifen – aber warum so spät?

A. ist 14, als sie ins Gefängnis kommen soll. Verbrochen hat sie nichts.

Das Mädchen hat aber durchlebt, was kein Kind je sollte durchleben müssen: von der Mutter bei der Geburt weggegeben, von einer Pflegefamilie eingesperrt, ein Leben zwischen Heimen und Notschlafstellen.

Als sie schliesslich im Sommer 2022 von der Polizei aufgegriffen wird, gilt sie als schwierig, verhaltensauffällig, in einem regulären Jugendheim nicht tragbar. Und so schickt die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) der Stadt Zürich sie in ein geschlossenes Heim: die Viktoria-Stiftung Richigen im Kanton Bern.

Im Entscheid der Kesb stehen ein paar verhängnisvolle Sätze, die dort so nie hätten stehen dürfen: eine Gefängnisklausel.

Sie erlaubt es dem Heim augenscheinlich, die strafrechtlich unbescholtene Jugendliche im Fall einer Eskalation für maximal sieben Tage in ein Jugendgefängnis zu stecken. A. und ihre Anwältin gehen gegen diese Klausel vor – und erhalten recht.

Der Beschluss der Kesb verletze «in gravierender Art und Weise die verfassungsmässigen Rechte» von A., urteilt das Bezirksgericht Zürich im August 2022. Die 14-Jährige wird auf Anordnung des Gerichts aus dem Heim entlassen, bevor die Gefängnisklausel zur Anwendung kommen kann.

So viel Glück haben nicht alle. Insgesamt sechs Zürcher Jugendliche wurden seit 2019 unschuldig im Gefängnis platziert, im Schnitt drei Wochen lang. Das geht aus einer am Donnerstag publizierten Antwort des Regierungsrats auf eine Anfrage von drei Kantonsrätinnen aus Mitte und SP hervor. Bei den Fällen handelt es sich um fünf Mädchen und einen Knaben, alle zwischen 14 und 16 Jahre alt. «Seltene Einzelfälle» seien das, beteuert die Regierung.

Und doch stellt sich die Frage: Wie konnte so eine Praxis während Jahren geduldet werden?

Zwei Monate in der U-Haft

Diese Frage wird seit vergangenem Herbst schweizweit diskutiert. Damals machte SRF öffentlich, dass 2021 und 2022 insgesamt 27 strafrechtlich unbescholtene Jugendliche in einem einzigen Gefängnis einsassen: der Jugendabteilung des Regionalgefängnisses Thun – jenem Gefängnis, in das auch A. hätte kommen können.

Daraufhin machte die NZZ das Urteil im Fall A. publik, die Tamedia-Zeitungen veröffentlichten weitere Details dazu, und die CH-Media-Zeitungen berichteten über eine ähnliche Praxis im Kanton Basel-Stadt: Acht Jugendliche wurden dort seit 2021 unverschuldet im Untersuchungsgefängnis Waaghof eingesperrt, in einem Fall während zweier Monate.

In Bern wie in Basel waren die Einweisungen dabei laut den Verantwortlichen Notlösungen – für Fälle, bei denen Jugendliche eine ernste Bedrohung für sich und andere darstellten und selbst auf solche Fälle spezialisierte Heime keinen Umgang mit ihnen fanden.

Im Kanton Zürich nehmen die Gefängnisse keine unbescholtenen Jugendlichen auf. Dass auch Zürcher Kinder unter den Betroffenen sind, hat damit zu tun, dass diese zum Teil auch in ausserkantonalen Heimen platziert werden. Fünf der sechs Zürcher Fälle spielten sich im Regionalgefängnis Thun ab.

Betroffene, die sich wehren

Alle Jugendlichen hätten dort regelmässig Kontakt mit ihren Beiständen und ihren ehemaligen Heimbetreuern gehabt, schreibt der Regierungsrat. Sie hätten Schule und Therapie verweigert, seien jedoch in ein Tagesprogramm eingebunden worden.

Dennoch gibt die Zürcher Regierung zu: «Jugendgefängnisse sind fraglos keine geeigneten Orte, um eskalierendes Verhalten aufzuarbeiten.» Wegen des Kontaktes mit straffälligen Jugendlichen bestehe zudem «die Gefahr einer Negativspirale».

Durch die Berichte zum Thema aufgeschreckt, will der Regierungsrat nun durchgreifen. Die Justizdirektion als Aufsichtsbehörde werde sich dafür einsetzen, dass die Kesb-Stellen von Unterbringungen in Gefängnisse «künftig möglichst absehen».

Was nach energischem Eingreifen tönt, ist in Wahrheit vor allem Symbolik. Denn die Zürcher Kesb wendet schon seit rund einem Jahr keine Gefängnisklausel mehr an. Und auch die Viktoria-Stiftung in Bern verlangt diese bei Einweisung nicht mehr, wie deren Direktor André Wyssenbach im November der NZZ sagte. Entscheidend war dabei für die Zürcher Behörden das Urteil im Fall A. und für die Berner dasjenige in einem ähnlich gelagerten Fall, den das dortige Obergericht im Februar 2023 entschied.

Den wichtigsten Beitrag zur Eindämmung der rechtsstaatlich fragwürdigen Gefängnispraxis haben also nicht die Behörden geleistet – sondern die Betroffenen, die sich wehrten.

Es fehlen die Heimplätze

Auch beim zugrunde liegenden Problem, das zu diesen aufsehenerregenden Fällen führte, gibt sich der Kanton Zürich unterdessen zwar aktivistisch, hinkt bei dessen Lösung aber deutlich hinterher.

Das Problem ist rasch umschrieben: In den Zürcher Kinder- und Jugendheimen fehlt es an Plätzen und geschultem Personal. Die Einweisungen ins Gefängnis sind Ausdruck eines überlasteten Systems, in dem die Wartezeiten lang und die passenden Plätze oft nicht verfügbar sind. Dazu kommt, dass Heime – anders als etwa psychiatrische Kliniken – nicht zur Aufnahme von Kindern verpflichtet sind.

Von «Fachkräftemangel» und einem akuten «Versorgungsmangel» ist in der regierungsrätlichen Antwort die Rede. Mehrere Heimangebote befänden sich an der Kapazitätsgrenze.

Besonders gross sei das Problem bei kurzfristig verfügbaren Plätzen für hochbelastete Jugendliche. Also solche, bei denen Verhalten wie schädlicher Drogenkonsum, Drogenhandel oder Prostitution im Raum stünden.

Für solche Fälle gibt es in Zürich nur ein geschlossenes Heim für Knaben – und gar keines für Mädchen. Letztere landen oft in Heimen wie der Viktoria-Stiftung im Kanton Bern, bei denen allerdings immer häufiger die Plätze fehlen. Laut dem Direktor Wyssenbach landen Minderjährige vor allem deshalb hinter Gittern, weil in Heimen wie dem seinen nicht schnell genug Plätze verfügbar sind.

Frühe Alarmzeichen

Genau diesen doppelten Mangel an Heimplätzen – den allgemeinen und den verschärften bei den Angeboten für schwierige Fälle – kritisieren Zürcher Heimverantwortliche seit langem. Bereits im Oktober 2022 schlug der mit Abstand grösste Anbieter, die Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ), in der NZZ Alarm.

«So etwas habe ich in zwanzig Jahren als Sozialarbeiter nicht erlebt. Die Lage ist dramatisch», sagte ein Heimleiter damals. Fast täglich müsse er Kinder abweisen, die eigentlich dringend einen Platz brauchten. Die Wartezeiten, so mahnten auch mehrere Kesb-Stellen, würden oftmals mehrere Monate betragen.

Auf die Hilferufe angesprochen, winkte das zuständige Amt für Jugend und Berufsberatung jedoch ab. Der Amtschef André Woodtli anerkannte zwar den Fachkräftemangel. Es gebe jedoch keine Anzeichen dafür, dass die Heime generell an ihre Kapazitätsgrenzen stiessen. Woodtli sprach von «Einzelerfahrungen», die «ein unvollständiges Bild wiedergeben».

Nun – nach dem Aufschrei über die unschuldigen Kinder im Gefängnis –sieht der Kanton das offensichtlich anders.

Man habe einen Platzausbau bei den Notfall- und Krisenangeboten initiiert und arbeite derzeit an einer neuen Gesamtplanung. Erste Resultate sollen Anfang 2025 vorliegen. Derweil weiss niemand so genau, auf welchem Niveau die Wartezeiten für Heimplätze unterdessen angelangt sind. Auch der Kanton nicht. Diese Daten, heisst es in der regierungsrätlichen Antwort, würden nicht erhoben.

Und A.? Die Jugendliche, die sich mit Erfolg wehrte, ist unterdessen fast 16. Nach der Entlassung aus dem geschlossenen Berner Heim wechselte sie in eine offene Einrichtung. Den Tamedia-Zeitungen schrieb sie im November: «Mein Ziel ist es, die Schule abzuschliessen, eine Ausbildung zu machen und irgendwann ein eigenständiges Leben zu führen.»

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