Aufzüge von Schindler transportieren über 2 Milliarden Menschen pro Tag. Zum Jubiläum spricht der Chef Silvio Napoli über die Macht des Patrons Alfred N. Schindler und erklärt, warum nicht gross gefeiert wird.

Schindler ist ein Riese, der gerne übersehen wird, weil er sich in Ebikon versteckt. Doch dort, am Rande der Agglomeration Luzern, hat der Konzern einen grossen Hauptsitz aufgebaut – weitläufiger als die benachbarte Mall of Switzerland. Nicht ohne Grund: Schindler zählt zu den weltweit vier wichtigsten Herstellern von Aufzügen und Rolltreppen.

Das 1874 in der Stadt Luzern gegründete Unternehmen feiert in diesem Jahr sein 150-Jahr-Jubiläum. Höchste Zeit für den CEO und Verwaltungsratspräsidenten Silvio Napoli, grundlegende Fragen zu beantworten.

Herr Napoli, Sie vertreten 150 Jahre Fachwissen über Aufzüge. Was ist Ihr Rezept gegen die peinliche Stille, wenn man mit fremden Leuten im Lift steht?

Geniessen Sie die Fahrt. Die räumliche Nähe in einem Lift ist zumindest in Europa für viele unangenehm. Ich habe lange in Asien gelebt, dort ist das anders. Der persönliche Raum ist dort kleiner. Das Leben geht im Aufzug weiter, die Leute schwatzen. Ich grüsse auch immer, wenn ich einen Fahrstuhl betrete. Manchmal werde ich dann komisch angeschaut. Aber die Freundlichkeit ist Teil meiner Swissness, und der Lift verstärkt sie.

Sind Sie je in einem Aufzug stecken geblieben?

Ja, in einem Schindler-Lift. Im Jahr 1998 habe ich unser Geschäft in Indien aufgebaut, und wir hatten gerade unseren allerersten Aufzug dort installiert. Meine Familie wollte ihn anschauen. Dann blieben wir auf unserer Fahrt zwischen zwei Stockwerken hängen. Es war ein heisser Tag in Delhi, vielleicht 45 Grad. Die Elektronik hatte versagt. Zum Glück war das Schindler-Team in der Nähe und schnell zur Stelle.

Haben Sie sich da vor einem Absturz gefürchtet?

Dass ein Aufzug abstürzt, ist sehr unwahrscheinlich, es sei denn, es handelt sich um Sabotage. Wenn die Kabine abzustürzen droht, greift automatisch eine Notfallbremse. Rein technisch ist es wahrscheinlicher, dass Sie mit der Kabine gegen die Decke des Aufzugsschachts geschleudert werden. Das kann sehr gefährlich sein.

Wie bitte?

Die Kabine hängt an einem Gegengewicht (greift zu Papier und Stift und macht eine Skizze). Wenn die Kabine gross ist und plötzlich viel leichter wird, zum Beispiel weil viele Leute aussteigen, könnte sie bei einem technischen Schaden unkontrolliert nach oben rauschen. Aber auch das ist sehr selten. Grundsätzlich sind Lifte das sicherste Transportmittel auf der Welt.

In der Schweiz ist das Risiko auch deshalb kleiner, weil es hier wenig Hochhäuser und wenig grosse Fahrstühle gibt. Wie konnte dieses Land einen der weltweit wichtigsten Aufzugshersteller hervorbringen?

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind hierzulande viele Industrieunternehmungen entstanden. Aber das reicht natürlich nicht. Die Schweiz ist grundsätzlich ein kleiner Markt. Da überlebt nur, wer ins Ausland geht. Heute transportieren unsere Aufzüge mehr als 2 Milliarden Menschen pro Tag.

Wie bringt man Schweizer Lifte ins Ausland?

Robert Schindler aus der Gründerfamilie hatte die Anfänge des Tourismus in der Schweiz früh erkannt und bot seine Aufzüge den Grand-Hotels an, zum Beispiel in Zermatt und St. Moritz. Hinterher bat er die Hotelbesitzer um Referenzschreiben und zeigte sie in St. Petersburg oder Schanghai vor. Dort hatte man vielleicht noch nie von Schindler gehört, aber von Zermatt und St. Moritz.

Schindler hatte in den ersten hundert Jahren viel mehr im Angebot als Aufzüge und Rolltreppen: Landwirtschaftsmaschinen, Werkzeuge, Eisenbahnwaggons . . .

. . . Baukräne, Sicherheitsanlagen . . .

Warum tat sich das Unternehmen so schwer, zu entscheiden, was es sein wollte?

Schindler machte dieselbe Entwicklung durch wie viele Industriekonzerne dieser Zeit. Nehmen Sie General Electric, Sulzer und ABB. Am Anfang reichte ein industrielles Grundwissen, um wettbewerbsfähig zu sein. Als sich die Märkte differenzierten, mussten sich auch die Firmen spezialisieren. Bei Schindler fiel die Wahl auf Aufzüge und Fahrtreppen. Mein erster Job bei Schindler war im Jahr 1994 in der Strategieentwicklung. Da haben wir den Verkauf des Waggongeschäfts ausgearbeitet.

Was war der entscheidende Punkt im Aufstieg von Schindler?

Die Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuerst in Europa, dann in der Welt. 1980 war Schindler das erste ausländische Unternehmen, das ein Industrie-Joint-Venture in China einging. Das Wachstum war massgeblich getrieben von Akquisitionen wie zum Beispiel 1990 dem Kauf des Aufzugsherstellers Westinghouse in den USA. Westinghouse war zu dem Zeitpunkt grösser als Schindler.

Auch eine der grössten Krisen war im Ausland: In Japan starb im Jahr 2006 ein 16-jähriger Junge in einem Schindler-Aufzug, als der Lift bei geöffneten Türen plötzlich losfuhr. Der Junge wurde eingeklemmt und erstickte.

Die Ursache lag in mangelhafter Wartung. Nicht Schindler hatte den Aufzug gewartet, sondern ein anderes Unternehmen. Aber die öffentliche Meinung war gegen uns. Der Rechtsstreit ging bis vor den Obersten Gerichtshof, der uns freigesprochen hat. Trotzdem entschieden wir, uns komplett aus Japan zurückzuziehen. Unser Marktanteil lag ohnehin schon bei weniger als 1 Prozent.

Schindler hat sich damals nicht entschuldigt. Würde man das heute anders machen?

Hinterher ist man immer klüger. Wir haben daraus gelernt und unser Krisenmanagement drastisch verbessert.

Lohnt es sich erst recht in stürmischen Zeiten, von der Gründerfamilie kontrolliert zu werden?

Das ist grundsätzlich gut. 150 Jahre sind eine lange Zeit. Die durchschnittliche Lebenszeit eines Unternehmens im amerikanischen Aktienleitindex S&P 500 beträgt weniger als 20 Jahre. Anfang der 1970er Jahre waren es noch 60 Jahre. Dass sich bis heute fünf Generationen der Familie Schindler dem Wohlergehen des Unternehmens verpflichtet fühlten, war ein grosser Vorteil.

Die Familie kontrolliert 69 Prozent von Schindler. Wie lange wird das so bleiben?

Es sind 69 Prozent der Stimmrechte. Der Aktienanteil liegt bei etwa 43 Prozent. Die Familienmitglieder fühlen sich dem Konzern weiterhin sehr verbunden, und das ist entscheidend für seine Zukunft. Sie denken langfristig. Wenn sie ihre Anteile verkauft hätten, hätten sie viel mehr Geld machen können.

Ist die Familie nicht ein potenzielles Risiko? Sie könnte sich zerstreiten und Unternehmensentscheide blockieren. Gerade wird der Wechsel zur sechsten Generation vollzogen.

Ich bin nicht Teil der Familie, ich bin nicht einmal Schweizer. Trotzdem bin ich CEO und Präsident des Verwaltungsrats. Das zeigt, dass es im Unternehmen zuvorderst um Leistung geht.

Alfred Niklaus Schindler, von 1985 bis 2011 der letzte CEO und von 1995 bis 2017 der letzte Verwaltungsratspräsident aus der Gründerfamilie, war die prägende Figur des Unternehmens. Wie gross ist sein Einfluss noch? Zieht er weiterhin die Fäden?

Das würde bedeuten, dass er eine Art Schattenvorsitzender wäre. So ist es nicht. Er ist Mitglied des Verwaltungsrats und bringt 50 Jahre Branchenerfahrung mit. Ich bin für seinen Rat dankbar und habe direkten Zugang zu ihm.

Aber Herr Schindler ist inzwischen recht alt.

Nicht übermässig. 75 Jahre.

Weit über dem Pensionierungsalter.

Der Präsident eines der mächtigsten Länder der Erde ist noch viel älter. Der Papst auch.

Das sind die Referenzpunkte?

Alfred N. Schindler ist voller Energie und sehr präsent, wenn wir Geschäftsangelegenheiten besprechen.

Tobias Staehelin aus dem Bonnard-Zweig der Familie war bereits in der Konzernleitung zuständig für Global Human Resources und sitzt auch im Verwaltungsrat. Er wird als möglicher CEO gehandelt. Ist er der nächste Alfred Schindler?

Zu solchen Spekulationen nehme ich keine Stellung.

In der Zwischenzeit wird die Konzernleitung immer italienischer. Künftig werden 4 der 11 Mitglieder Italiener sein, ein weiterer Vertreter stammt aus dem Tessin.

Wir treffen Personalentscheide basierend auf dem jeweiligen Leistungsausweis und der Eignung für die Position. Das gilt auch für jedes Mitglied des Managements. Die Nationalität spielt dabei keine Rolle.

Derzeit sind Sie Verwaltungsratspräsident und gleichzeitig CEO. Wie lange werden Sie diese Doppelrolle behalten?

Wir haben uns 2022 entschieden, dass ich auch die operative Geschäftsführung übernehme. Es galt, schnell einige Probleme zu lösen. Aus heutiger Sicht war der Entscheid gerechtfertigt.

Schindler verzeichnete vor zwei Jahren zwar einen Gewinneinbruch, war aber nicht in einer Existenzkrise. Trotzdem sahen Sie grosse Gefahr?

Schindler machte Anfang 2022 keine Bruchlandung, aber eine Notlandung. Die Situation war prekär. Wir mussten beispielsweise im dritten Quartal 2022 einen Rückgang von fast 70 Prozent beim Cashflow verzeichnen, und unsere Lieferzeiten waren schlichtweg ein Desaster. Jetzt sind wir wieder im Steigflug. Doch wir sind immer noch viel weniger wettbewerbsfähig als unser grösster Konkurrent.

Das ist Otis aus den USA. Warum ist Schindler nicht auf Augenhöhe?

Wir haben gute Produkte, aber die Vielfalt ist zu gross. Wir arbeiten daran, weniger individuelle Aufzugsvarianten anzubieten und stattdessen ein Baukastensystem, aus dem der Kunde Module auswählt. Unsere Prozesse sind zu komplex, von der Finanzierung bis zum Ingenieurwesen. Das bringt höhere Kosten und erfordert zudem mehr Mitarbeiter als bei unseren Wettbewerbern. Otis dient uns auch als Inspiration, um noch besser zu werden.

Sie hatten bereits 2022 entschieden, das 150-Jahr-Jubiläum nicht gross zu feiern. Doch 2023 verzeichnete Schindler wieder einen Gewinn von 935 Millionen Franken. Da wäre eine Party doch drin?

Dieser Gewinn war immer noch einen Viertel niedriger als bei unserem grössten Konkurrenten. Unsere Marge beim Betriebsgewinn auf Stufe Ebit liegt derzeit bei 10,3 Prozent. Aber Otis hat 15,4 Prozent und kann so mehr in Forschung, Expansion und Mitarbeiter investieren. Wir wollen aufschliessen und streben in diesem Jahr eine Marge von 11 Prozent und mittelfristig 13 Prozent an. Die grösste Gefahr ist, wieder selbstgefällig zu werden. Es gibt keine Lorbeeren, solange man nicht der profitabelste Player in der Branche ist.

Vergeben Sie nicht die Chance, mit einer Feier auf Schindler aufmerksam zu machen?

Es gibt lokale Events mit Kunden und Mitarbeitern. Aber unsere Mittel sind besser investiert damit, die Firma für die schwierige Zukunft zu wappnen. In den nächsten 150 Jahren haben wir als Schindler viel vor uns. Die vergangenen 150 Jahre zählen da nicht.

Derzeit schrumpft der Markt für neue Aufzüge und Fahrtreppen. Warum?

Die Bauwirtschaft verläuft in Zyklen. Gerade sind wir in einem besonders langen Abwärtszyklus, und der wird von China dominiert. Der chinesische Markt ist in den vergangenen drei Jahren um 35 Prozent geschrumpft, aber er macht noch immer zwei Drittel des Neuanlagengeschäfts auf der Welt aus und ist damit eine entscheidende Grösse.

Wird dieser Abschwung lange anhalten?

Die gute Nachricht ist, dass in anderen Teilen der Welt weiterhin Nachfrage existiert. In Deutschland ist sie für Wohnbauten weit grösser als das Angebot. Auch in der Schweiz gibt es zu wenig Wohnungen. In Indien herrscht ein wahrer Bauboom, es wird auch sehr viel in den öffentlichen Nahverkehr investiert. Ein wesentlicher Teil unseres Geschäfts ist und bleibt die Wartung von Anlagen. Das Servicegeschäft ist vergleichsweise weniger konjunkturabhängig. Und in vielen Ländern sind Aufzüge in die Jahre gekommen, und es stehen Modernisierungen an.

Hierzulande spricht man von der 10-Millionen-Schweiz. Wird es in Schweizer Städten bald mehr Hochhäuser geben – und der Heimmarkt damit wichtiger werden?

Verglichen mit den je mehr als 1,4 Milliarden Menschen in Indien und China bleibt die Schweiz klein. Aber unsere Wurzeln sind hier, deshalb wird sie immer ein führender Markt für uns sein. Ich glaube allerdings weniger, dass es viel mehr Hochhäuser geben wird, sondern primär mehr Mehrfamilienhäuser.

Die Alterung in der Schweiz müsste Schindler in die Karten spielen. Viele Gebäude, in denen ältere Menschen leben, haben noch keinen Lift.

Es geht um die Erhaltung von Unabhängigkeit und Mobilität. Ich habe vor einiger Zeit einen Aufzug im Haus meiner Eltern installieren lassen. Meine Mutter konnte keine Treppen mehr steigen und sich nur auf einer Etage bewegen. Mit dem Lift hat sich ihre Lebensqualität stark verbessert. Oft halten wir Aufzüge für selbstverständlich. Sie sind es noch nicht.

Silvio Napoli: 30 Jahre für Schindler

bet. · Schindler beschäftigt mehr als 70 000 Mitarbeiter und erwirtschaftete vergangenes Jahr 11,5 Milliarden Franken Umsatz. Die grossen Konkurrenten Otis (USA), Kone (Finnland) und ThyssenKrupp Elevator (Deutschland) bewegen sich in einer ähnlichen Grössenordnung. Schindler wird durch die Familie des Firmengründers Robert Schindler kontrolliert und vom 58-jährigen Italiener Silvio Napoli im Doppelmandat geführt. Napoli stiess 1994 zum Konzern, war von 2013 bis 2016 CEO und wechselte dann auf den Verwaltungsratsvorsitz – bis er Anfang 2022 zusätzlich wieder das Ruder der Geschäftsleitung übernahm.

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