Montag, September 30

Explodierte Kosten, aufgeschreckte Parlamentarier und eine Software namens Gina: die Geschichte einer IT-Odyssee.

Die öffentliche Verwaltung hat eine schwierige Beziehung zu IT-Projekten. Im Fall der Zürcher Justizdirektion und ihrer neuen Software für den Justizvollzug ist sie besonders leidvoll. 16 Jahre dauert sie inzwischen an. Es ist eine Geschichte mit einer Honeymoon-Phase und übertriebenen Erwartungen, tiefen Abstürzen und hilflosen Rettungsversuchen.

Nun ist sie an ihrem ernüchternden Ende angelangt. Nachdem die Justizdirektion zunächst jahrelang und für Millionen eine eigene Software hatte entwickeln wollen und später auf ein Pilotprojekt gesetzt hatte, hat sie nun einem einst verschmähten Unternehmen den Zuschlag erteilt. Und das, ohne Mitbewerber zu prüfen.

Das Resultat: eine beträchtliche Kostensteigerung, aufgeschreckte Parlamentarier – und eine Software namens Gina.

Parlament warnte schon vor Jahren

Begonnen hat die verworrene Geschichte im Jahr 2008. Schon damals war die Software RIS 1 technisch völlig veraltet. Zunächst sollte sie nur weiterentwickelt werden, doch dann kam unter dem damaligen Justizdirektor Markus Notter (SP) verwaltungsintern die Idee einer kompletten Neuentwicklung auf. Sein Nachfolger Martin Graf (Grüne) sprach vollmundig über die künftige Super-Software RIS 2, die alles Bisherige in den Schatten stellen sollte. Andere Kantone würden bereits reges Interesse an der Eigenentwicklung zeigen.

Doch die Wunder-Software funktionierte nicht wie gewünscht. Und die Kosten liefen aus dem Ruder: Statt 8 Millionen Franken betrug der Kreditrahmen am Ende 24 Millionen. Im Sommer 2016 stoppte Grafs Nachfolgerin Jacqueline Fehr (SP) schliesslich das Projekt. Statt auf ein aufwendiges Pilotprojekt wollte sie nun auf eine Standardlösung setzen.

Zwei Jahre später liess sie den Auftrag öffentlich ausschreiben. Schliesslich erhielt Abraxas den Zuschlag – eine Firma, an der auch der Kanton beteiligt ist.

Die Sache hätte damit erledigt sein sollen. Doch nur zwei Jahre später fand sich Regierungsrätin Fehr im gleichen Schlamassel wieder.

Nach personellen Abgängen hatte Abraxas im Frühling 2020 beschlossen, ihre bisherigen Software-Produkte nicht mehr weiterzuentwickeln. Stattdessen wollte die Firma ein komplett neues Produkt erarbeiten: Juris X.

Die Justizdirektion liess eine externe Analyse erstellen, die zum Schluss kam, dass die Sache «erhebliche Risiken» aufweise, weil es sich um ein Pilotprojekt handle und nicht um ein etabliertes Produkt.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst von den Problemen, nachdem die Geschäftsprüfungskommission des Kantonsparlaments Nachforschungen angestellt hatte. Die Parlamentarier waren irritiert – auch weil sie nicht informiert worden waren – und reagierten mit scharfen Attacken auf Fehr. Der Tenor: Die Investition sei unverantwortlich, es brauche einen Marschhalt, und das Projekt müsse neu ausgeschrieben werden. Das war im Dezember 2020.

Der Regierungsrat entschied sich wenig später trotzdem für das neue Abraxas-Projekt. Kostenpunkt: 15,6 Millionen Franken – doppelt so viel wie für das ursprüngliche Angebot von Abraxas.

Die Warner sollten am Ende recht behalten: Die Neuentwicklung scheiterte. Das wurde im letzten Dezember bekannt. Abraxas schrieb damals in einer Medienmitteilung, dass sie die Arbeiten an Juris X eingestellt hätten. Wichtige Meilensteine hätten nicht erreicht und vereinbarte Liefertermine nicht eingehalten werden können. Die Software erfüllte die Anforderungen nicht.

Die parlamentarische Geschäftsprüfungskommission sprach von einem «Scheitern mit Ansage». Es sei unverständlich, dass der Regierungsrat so lange an diesem kriselnden IT-Projekt festgehalten habe. Der Kommissionspräsident Jean-Philippe Pinto (Mitte) fasste die Probleme in der NZZ so zusammen: «Zu komplex, zu gross, zu hohe Zielsetzungen.» Die Ursache für das Scheitern sei wahrscheinlich sowohl bei Abraxas als auch in der mangelhaften Projektführung der Justizdirektion zu suchen.

Parlamentskommission wird Justizdirektorin befragen

Letztere aktivierte nun ihren Plan B, denn die dreissig Jahre alte Software des Justizvollzugs musste nun endlich ersetzt werden. Die Justizdirektion hat sich für eine Standard-Software der Glaux Group entschieden. Das berichtete die Schweizer Informatik-Website inside-it.ch. Ihr Produkt «Gina» kostet den Kanton 32,7 Millionen Franken. Das ist doppelt so viel, wie Abraxas einst für ihre Eigenentwicklung veranschlagt hat.

Pikant ist auch, dass nun eine Konkurrentin von Abraxas den Zuschlag erhalten hat. 2018 war die Firma Ultrasoft – die seit 2023 zur Glaux Group gehört – mit ihrem Angebot gegen Abraxas unterlegen. Für ihre Standardsoftware wollte sie damals 8,7 Millionen Franken. Etwa ein Viertel dessen, was der Kanton heute für die Software bezahlen muss.

Den Auftrag hat die Justizdirektion trotz der hohen Summe freihändig vergeben – also ohne eine offene Ausschreibung. Dass man dies «ausnahmsweise» so gemacht habe, begründet die Justizdirektion mit dem Zeitdruck. Wie sie auf der Ausschreibungsplattform Simap schreibt, sei die Beschaffung «aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse» und «ohne Verschulden der Justizdirektion» so dringlich geworden.

Das Parlament ist bereits aufmerksam geworden auf das neuste IT-Geschäft. Jean-Philippe Pinto sagt auf Anfrage: «Das Thema ist so wichtig, dass sich die Geschäftsprüfungskommission mit diesem Kauf befassen wird.» Vorläufig will sich Pinto aber nicht näher dazu äussern. Zunächst soll die Justizdirektorin Jacqueline Fehr angehört werden. Danach werde die Kommission weitere Schritte beschliessen.

Justizdirektion: Probleme waren nicht absehbar

Die Justizdirektion begründet die freihändige Vergabe damit, dass auf dem Schweizer Markt kein anderes Produkt angeboten werde, das die Anforderungen erfülle. Zudem müssen bis spätestens Ende 2028 die heutigen Papierakten in der Schweizer Justiz durch elektronische Dossiers ersetzt werden. Der elektronische Rechtsverkehr zwischen den Behörden ist sogar ab Anfang 2026 verbindlich. Diese Fristen seien erst im Sommer 2024 beschlossen worden. Für eine Beschaffung im offenen Verfahren hätte die Zeit kaum mehr gereicht.

Das trifft zwar zu, das Parlament hatte aber bereits im Dezember 2020 einen Marschhalt und eine Neuausschreibung gefordert. Hat die Justizdirektion also zu lange gezögert? Nein, heisst es auf Nachfrage der NZZ bei der Justizdirektion. Sie habe die Situation 2020 zusammen mit externen Experten analysiert. Dabei seien sie zum Schluss gekommen, «dass ein Abbruch die schlechtere Variante für die Justizdirektion ist».

Zu den höheren Kosten schreiben die Behörden, dass die Betriebsdauer von fünf auf acht Jahre erhöht worden sei. Zudem seien in der Zwischenzeit weitere Anwendungen an die bestehende Applikation RIS 1 angebunden worden. Deshalb müssten nun zusätzliche Schnittstellen entwickelt werden.

Dass die Glaux-Vorgängerfirma Ultrasoft das Standardprodukt noch 2018 für 8,7 Millionen Franken angeboten habe, sei zudem nicht die ganze Wahrheit. In diesem Betrag seien nicht die vollen Kosten enthalten gewesen. Die eigentliche Offerte habe im «zweistelligen Millionenbereich» gelegen. Das Angebot von Abraxas sei damals klar als Sieger hervorgegangen. Der Zuschlag sei korrekt erfolgt, das habe auch das Verwaltungsgericht bestätigt. «Dass bei diesem Projekt später so vieles schlecht laufen würde, war damals nicht absehbar.»

Exit mobile version