Der Endzeit-Thriller «A House of Dynamite» ist eines der intensivsten Kinoerlebnisse des Jahres. Gut möglich, dass er der Regisseurin ihren zweiten Oscar einbringt.
Manchmal gelingt einem Film das Kunststück, einen Schlag in die Magengrube so überragend zu platzieren, dass man ihn glatt noch einmal erleiden möchte. Kathryn Bigelows «A House of Dynamite» ist so ein Fall. Der grossartige Feel-Bad-Thriller feierte in Venedig eine vielumjubelte Premiere, er wird ab dem 9. Oktober im Kino und zwei Wochen später auf Netflix laufen, mit ordentlichen Oscar-Chancen.
Ein normaler, sonniger Morgen in Washington (DC): Schulkinder besichtigen die Hauptstadt, Mitarbeiter des Weissen Hauses lassen im Sakko Security-Checks über sich ergehen, Smartphones werden weggesperrt, Briefings vorbereitet. Plötzlich erscheint piepend und blinkend ein unbekannter Flugkörper über dem Pazifik auf den Monitoren.
Ungewöhnlich, keineswegs besorgniserregend, es passiert nicht zum ersten Mal. Die perfekt eingespielte Maschinerie aus militärischer Abwehr und nationaler Sicherheit läuft an: Routiniert werden Telefonate geführt, Videokonferenzen geschaltet, von Washington aus ebenso wie von einer Armeebasis in Alaska. Die Techniker und Experten bellen Kommandos in Form unverständlicher Abkürzungen: OSD! SSNB! PEOC! Die Stabsmitglieder sind trainiert für Vorfälle dieser Art.
Dachten sie – doch den Ernstfall hat noch niemand mitgemacht.
Und so eskaliert die Lage Schritt für Schritt: Das Objekt ist eine atomare Rakete. Mit Kurs auf die USA, Einschlag in 19 Minuten. Defcon 2, die zweithöchste militärische Warnstufe, wird aufgerufen. Doch die Abwehrsysteme versagen: nicht getroffen. Dann Defcon 1 auf den Anzeigen, in gnadenlosem Rot. Und die Rakete rast weiter unaufhaltsam auf die Millionenstadt Chicago zu. «Wir haben doch alles getan», sagen die Soldaten verzweifelnd.
Zoom ins wahre Herz der Macht
In den neunziger Jahren, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, wäre ein solches Szenario im Kino mit amerikanisch hemdsärmeliger Grossspurigkeit gelöst worden. Da hätte Tom Clancys CIA-Agent Jack Ryan seinen Hut in den Ring geworfen, eine Verschwörung aufgedeckt, Codes geknackt und in letzterer Sekunde russische Terroristen zur Strecke gebracht. Damals schien ein Krieg zwischen den Nuklearmächten in der Realität endgültig überwunden, konnte dafür umso glühender patriotische Phantasien in der Fiktion befeuern.
Heute sieht die multilaterale Weltlage anders aus: Russland kokettiert immer wieder mit Erstschlägen, Nordkoreas Testraketen schlagen regelmässig im Japanischen Meer auf, Deutschland diskutiert darüber, ob es eigene Atomwaffen braucht. Gegenwärtiger könnte Bigelows atemloser Thriller also kaum sein, der, unterdröhnt vom basslastigen Streichersound des deutschen Komponisten Volker Bertelmann, mehr psychopolitisches Kammerspiel als Action-Spektakel ist. Und eines der intensivsten Kinoerlebnisse des Jahres, ein Triumph inszenatorischer Präzision, acht Jahre nach Bigelows letztem Film «Detroit».
Mitten hinein zoomt der Film, ins wahre Herz der Macht, in Kommandozentralen und Sicherheitsräume, zu Beraterinnen und Entscheidern. Die Medien? Sind bei diesem Countdown völlig abgehängt. Die Bevölkerung? Reine Statistik, es sei denn, es geht um die eigenen Angehörigen. So ruft der Verteidigungsminister (Jared Harris) die ihm fremd gewordene Tochter an. Er weiss, dass sie mit ihrem neuen Freund unwissentlich Hand in Hand in die Vernichtung spaziert.
Völlig machtlos
Unklar, wer die Attacke verursacht hat, die Russen beteuern ihre Unschuld, bei China sind die Leitungen erst einmal besetzt. Steckt Nordkorea zu 30- oder zu 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit dahinter? Die Zahlenjongleure sind ratlos. Ohnehin schleichen sich trotz maximalen Effizienzbemühungen kommunikative Schnitzer ein: Die Expertin vom Geheimdienst ist gerade beim Reenactment der Schlacht von Gettysburg, kann nur bedingt weiterhelfen.
Egal, wie gut geölt die staatliche Maschinerie scheint, letztlich bestehen ihre Rädchen auch nur aus Menschen. Der eine fällt wegen einer Magenspiegelung aus, der Nächste hat schlechten Handyempfang. Es ist eine höchst realistische Gratwanderung zwischen professioneller Entschlossenheit und inkompetenter Stümperei. Und über allem schwebt die extrem kurze Einschlagszeit von 19 Minuten, die völlig machtlos zurücklässt.
Drei Mal wiederholt Bigelow diese Frist von der Entdeckung bis zum Einschlag der Rakete, aus unterschiedlichen Perspektiven. So setzt sich das ganze Puzzle dieser Reaktionen auf das Unfassbare zusammen: Zuerst steht die Leiterin des Situation-Rooms, gespielt von Rebecca Ferguson, im Fokus, dann der Verteidigungsminister.
Erst beim dritten Loop sehen wir zum ersten Mal den Präsidenten (Idris Elba), von dem bislang nur die Stimme zu hören war. Er erfährt vom Unglück als Letzter, weil er mit Kindern in einer Basketballarena Körbe wirft. Man fühlt sich an den Grundschulbesuch von George Bush bei 9/11 erinnert. Als der Ernst der Lage klarwird, wird er umgehend in die Limousine geschoben und eiligst gebrieft.
«Das ist Wahnsinn»
Längst ist klar, dass es nicht mehr um die Rettung von Chicago geht. Die Stadt ist verloren wie beim Risiko-Spiel, die amerikanischen Strategen sind drei Schritte weiter. Auch wenn keiner weiss, von welcher der Nuklearmächte der Angriff ausging, liegt die detaillierte Anleitung mit drei Varianten zum Gegenschlag bereit, wie ein Restaurantmenu: roh, medium, well done. Eskalation oder Passivität, Selbstaufgabe oder Suizid?
Damit offenbart «A House of Dynamite» die Achillesferse der Politik der nuklearen Abschreckung: Sie funktioniert nur, solange es tatsächlich bei der Furcht bleibt. Die Rakete im Film könnte ebenso aus Versehen gestartet worden sein. «Das ist Wahnsinn», sagt der Präsident. «Das ist die Realität», antwortet der Berater. Der Film in seiner Atemlosigkeit löst dieses Dilemma nicht auf. Hier nutzt auch Carl Schmitts Postulat «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet» nichts: In diesem Fall geht jegliche Souveränität verloren.