Donnerstag, Juni 19

Mit der Einstellung der Printausgabe von «20 Minuten» endet ein Vierteljahrhundert Schweizer Zeitungsgeschichte. Der persönliche Rückblick eines Beteiligten.

Gratisanzeiger existierten schon lange, bevor die erste Ausgabe von «20 Minuten»› erschien. Doch meistens handelte es sich dabei um Publikationsorgane von Gemeinden mit geringem redaktionellem Inhalt. Entsprechend bescheiden war ihre publizistische Wirkung. Hinzu kamen vorab in den grösseren Metropolen wöchentlich kostenlos in die Briefkästen verteilte Zeitungen wie die «Züri-Woche» oder der «Berner Bär».

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Aber eine frühmorgens erscheinende Gratiszeitung, die grossenteils aus redaktionellem Inhalt bestand und in Bahnhöfen, an Bus- und Tramstationen verteilt wird – dies war eine Neuheit, als «20 Minuten» am 13. Dezember 1999 im Ballungsraum Zürich lanciert wurde.

Nun lasen die Jungen Zeitung

Neu war nicht nur das griffig gemachte Produkt, das im Gegensatz zu den traditionellen Zeitungen im Tabloidformat erschien, aus Rücksicht auf den beschränkten Platz in Bahnen und Bussen. Neu war vor allem auch die Zielgruppe: Schüler, Lehrlinge, Studenten. Also jene, die grossenteils noch keine Zeitungsleser, geschweige denn Abonnenten waren.

Wenige Jahre nach dem Start in Zürich wurde «20 Minuten» in Basel und Bern, später auch in St. Gallen und Luzern verteilt. Die Leserforschung zeigte: Dort, wo «20 Minuten» greifbar war, sank das Alter, in dem Junge erstmals selbst eine Zeitung lasen. Von durchschnittlich 11 auf 7 Jahre. Und die Zahl der 14- bis 17-Jährigen, die regelmässig, also drei- bis fünfmal pro Woche, eine Zeitung lasen, stieg auf 70 Prozent.

Dies war eigentlich ein Steilpass für die traditionellen Verleger, die stets unter Rekrutierungssorgen bei ihren Abonnenten litten, mit «20 Minuten» zu kooperieren. Das Gegenteil war der Fall: Sie versuchten, es zu bekämpften.

Nur die NZZ erkannte das Potenzial

Für die Lancierung von «20 Minuten» in der Schweiz war es dem führenden skandinavischen Medienunternehmen Schibsted ASA ein Anliegen, mit einem etablierten einheimischen Verlagshaus einen Partner und Mitaktionär zu finden. Doch die hiesigen Verleger zeigten dem viel grösseren und im Online-Bereich weitaus erfahreneren norwegischen Medienunternehmen die kalte Schulter.

Einzig der damalige Verlagschef der NZZ, Marco De Stoppani, erkannte die Chance, die «20 Minuten» bieten würde, neue, junge Leser anzusprechen und als NZZ-Abonnenten zu rekrutieren. Auch konzeptionell wäre die Zusammenarbeit ideal gewesen: «20 Minuten» war als «geschriebene Tagesschau» konzipiert, die NZZ hingegen basierte und basiert auch heute noch auf hochqualitativen Analysen und Kommentaren, liefert also die Ergänzung zu den eigentlichen News, die überall verfügbar sind.

Doch vertragliche Vereinbarungen mit der Tamedia-Gruppe, zu welcher der «Tages-Anzeiger» gehörte, und wohl auch interne Widerstände hinderten De Stoppani schliesslich daran, sich mit der NZZ an «20 Minuten» zu beteiligen.

Revolution von aussen

Das Abseitsstehen der Schweizer Verleger war indessen für «20 Minuten» kein Fluch, sondern ein Segen. Statt sich mit Interessenkonflikten herumschlagen zu müssen, wie sie mit einem anderen Verlag als Partner unumgänglich gewesen wären, öffnete der Verzicht der Schweizer Medienhäuser die Tür zu einem viel passenderen Teilhaber: dem Thurgauer Unternehmer und Investor Ernst Müller-Möhl.

Dieser erkannte sofort das Potenzial von «20 Minuten» – und zeichnete 45 Prozent der Aktien der neu zu gründenden 20 Minuten (Schweiz) AG. Ohne Ernst Müller-Möhl hätte es «20 Minuten» in der Schweiz nie gegeben. Die Lancierung von «20 Minuten» veranschaulicht damit in doppelter Hinsicht die Wahrheit, dass Disruption in einem Markt in der Regel von aussen kommt. In diesem Fall in Form eines ausländischen Verlagshauses, Schibsted, und in der Person eines branchenfremden Investors, Ernst Müller-Möhl.

Leider verunglückte Ernst Müller-Möhl wenige Monate nach dem Start tödlich. Sonst wäre «20 Minuten» 2005 nie an Tamedia verkauft worden und hätte vielleicht eine noch grössere Erfolgsgeschichte geschrieben.

Hilflose Boykottversuche der Verleger

Das Beispiel «20 Minuten» ist aber noch in anderer Hinsicht ein Lehrstück: Es veranschaulicht, dass Neuerungen, die einem Bedürfnis entsprechen – in diesem Fall: dem Bedürfnis von Jüngeren, sich rasch und bequem zu informieren –, nicht zu verhindern sind.

Die hiesigen Verleger schauten der Lancierung von «20 Minuten» nämlich nicht nur passiv zu. Sie versuchten auch, sie aktiv zu verhindern. Obschon sie damit auf einen äusserst rentablen Auftrag verzichteten, weigerten sich alle Verleger, «20 Minuten» zu drucken. Sie glaubten, den Markteintritt des neuen Konkurrenten verhindern zu können, wie sie 1959 glaubten, das Boulevardmedium «Blick» mit Boykottaufrufen an die SBB und anderen Mitteln verhindern zu können.

Doch wie in anderen Industrien funktioniert auch in der Medienbranche ein Boykott nicht. Er behinderte im Fall «20 Minuten» nicht einmal die zeitliche Planung des Projekts. Denn bei der Evaluation des besten Druckers waren wir längst in Vorarlberg fündig geworden, bei der heutigen Russmedia.

Der Tamedia-Verlag, mit dem «Tages-Anzeiger» sonst gerne ein Sprachrohr für Fairness und Gleichberechtigung, ging sogar noch einen Schritt weiter. Die Geschäftsleitung schrieb allen städtischen und kantonalen Zürcher Politikern einen Brief. Darin warnte sie vor der «Umweltverschmutzung», die eine Gratiszeitung wie «20 Minuten» durch die weggeworfenen Exemplare verursachen würde – und rief dazu auf, dem Markteintritt von «20 Minuten» einen Riegel zu schieben.

Dass Tamedia mit dem «Tagblatt der Stadt Zürich» selbst eine Gratiszeitung herausgab, störte die Verlagsoberen bei ihrer scheinheiligen Eingabe nicht. Und als das Unternehmen zuerst eine eigene Redaktion für eine Pendlerzeitung aufbaute, bevor es «20 Minuten» zwischen 2003 und 2005 schrittweise für etwas mehr als 100 Millionen Franken kaufte und die eigene Redaktion wieder einstampfte, war von Umweltverschmutzung keine Rede mehr.

Dass die Verleger mit Boykotten ihre eigene Lage nicht verbessern konnten, zeigt auch ein Blick nach Deutschland: Dort verhinderten Verleger den Aufbau einer Gratiszeitung. Trotzdem kämpfen die Verlage heute mit denselben Problemen wie in der Schweiz.

Zwischen Angst und Überheblichkeit

Insgesamt begegneten die Schweizer Verleger «20 Minuten» mit einer Mischung aus Angst und Überheblichkeit. Viele von ihnen besassen in ihren Gebieten ein faktisches Monopol. Sie hatten Angst, waren sich jedoch auch sicher, dass dieses Projekt eines Gratisanzeigers scheitern würde. Diese Meinung teilten ursprünglich auch die meisten Werbeauftraggeber und -agenturen.

Selbst mehr als ein Jahr nach dem Start, als längst klar war, dass «20 Minuten» einem weit verbreiteten Bedürfnis der Konsumenten entsprach, nahmen es die Verleger noch nicht richtig ernst. Das zeigte sich 2001 an der Dreikönigstagung, dem traditionellen Jahrestreffen der Verleger. Als der damalige COO von Schibsted, Birger Magnus, ankündigte, «20 Minuten» werde dereinst über eine Million Leser haben, lachten ihn die Schweizer lauthals aus.

Fünf Jahre später wies die Pendlerzeitung allein in der deutschen Schweiz 1,16 Millionen mehrheitlich junge Leser aus. Umsatz und Gewinn machten «20 Minuten» mit Abstand zur erfolgreichsten Zeitung der Schweiz. Mit Zahlen, die weltweit ihresgleichen suchten.

Auf eine Disruption folgt die nächste

Weshalb also wird dieses Erfolgsprodukt jetzt eingestellt? Kurz gesagt: Weil auf eine Disruption irgendwann die nächste folgt. In diesem Fall die Digitalisierung der Medien. «20 Minuten» war anfänglich ein Muster an Effizienz und Kostenbewusstsein. Der damalige Verlagsleiter Rolf Bollmann war nicht bloss ein begnadeter Anzeigenverkäufer, sondern auch ein extremer Kostenmanager. Eine Eigenschaft, die seinen Nachfolgern bei Tamedia abging.

Auch bei «20 Minuten» waren die Aufwendungen für Druck und Vertrieb der grösste Kostenblock. Genau diese Kosten fallen bei der Herstellung von digitalen Medienplattformen weg. Kommt hinzu, dass die technologischen Möglichkeiten, verbunden mit der stetigen Verfügbarkeit, die digitalen Medienplattformen immer attraktiver machen.

Dies umso mehr, als viele neue Angebote auf den Markt gekommen sind und sicher weiterhin kommen werden. Das sind Angebote wie Tiktok, Instagram, Youtube, Telegram, Whatsapp und Facebook, die nicht von traditionellen Verlagen stammen, aber diese massiv konkurrenzieren.

«20 Minuten» erkannte diesen Trend schon früh und investierte deshalb viel in den Ausbau seines digitalen Kanals. Mit Erfolg: «20 Minuten» ist heute die grösste digitale Medienplattform der Schweiz. Gleichzeitig ist sie auch der grösste Konkurrent der eigenen Printausgabe. Und damit, wie sich jetzt zeigt, ihr Totengräber.

Sacha Wigdorovits war Projektleiter für die Lancierung von «20 Minuten» und Verwaltungsrat bei der Gründung der 20 Minuten (Schweiz) AG. Zuvor war er unter anderem USA-Korrespondent der «Sonntags-Zeitung» und Chefredaktor des «Blick». Er ist Inhaber einer Kommunikationsagentur.

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