Der Schweizer hat in seiner Profikarriere schon mehrere Rennen gewonnen. Aber selten erhielt Silvan Dillier so viele Komplimente wie nach seinem Auftritt bei Mailand–Sanremo – obwohl er nicht einmal das Ziel erreichte.

Am Monument Mailand–Sanremo standen vor wenigen Tagen drei der grössten Stars des Radsports auf dem Podium, doch der wahre Held des Rennens war ein Schweizer.

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Was Silvan Dillier an der legendären Classique widerfuhr und wie er damit umging, ist über den Tag hinaus interessant, weil es einiges aussagt über den Radsport: über die fast irrationale Aufopferungsbereitschaft von Helfern wie ihm, über Machtkämpfe und Kungeleien im Peloton – aber auch über gegenseitige Wertschätzung.

Alles begann relativ normal. Am Morgen erhielt Dillier von seinem Team Alpecin den Auftrag, in der Anfangsphase des Rennens das Tempo im Hauptfeld zu forcieren, damit der Vorsprung der ersten Ausreisser in Grenzen bleibe. Es war absehbar, dass die anderen Mannschaften versuchen würden, die unbeliebte Aufgabe an Alpecin abzudrücken. Immerhin stellte die belgische Equipe die Sieger von 2023 und 2024, Mathieu van der Poel und Jasper Philipsen.

Dillier überkam ein mulmiges Gefühl, als es losging. In der neutralisierten Startphase fragte der 34-Jährige Kollegen aus dem Team Lidl-Trek, die mit Mads Pedersen einen früheren Weltmeister in ihren Reihen hatten, ob sie ihn unterstützen würden. Lidl-Trek stellte zu seiner Erleichterung in Aussicht, sich an der Schufterei zu beteiligen.

Wenige Kilometer später machte sich eine Spitzengruppe auf und davon, Dillier positionierte sich an der Spitze des Hauptfeldes – doch ab diesem Moment lief alles anders als erhofft. Niemand löste Dillier ab: kein Fahrer von Lidl-Trek, kein Helfer der anderen Stars. Die versammelte Weltelite des Sports blieb stur an seinem Hinterrad. Weit mehr als 100 Fahrer liessen sich von Dillier Richtung Adria ziehen.

Verlierer des teamübergreifenden Pokers

Lidl-Trek hatte sich zu einem Pokerspiel entschlossen: Das Team wollte den Vorsprung der Ausreisser so gross werden lassen, dass auch die Equipe UAE des dreifachen Tour-de-France-Siegers Tadej Pogacar die Initiative ergreift. Doch die Helfer von UAE dachten gar nicht daran, sich diese Blösse zu geben, solange ein Helfer ihres grössten Konkurrenten, van der Poel, vorne war. Der Verlierer des Pokers hiess Silvan Dillier.

Je nach Windverhältnissen und Aerodynamik muss ein Fahrer im Wind etwa dreissig Prozent mehr leisten als jener, der direkt hinter ihm fährt. Dillier ermüdete also schneller als alle anderen. Weil ihn das immer unruhiger werden liess, drehte er sich um und symbolisierte mit dem Finger einen Kreisel: Er wollte seine Rivalen animieren, ihn wenigstens für kurze Zeit abzulösen. Aber Dillier stiess auf kollektive Ablehnung: Das Pokern hielt an. Und weil seine Chefs von ihm verlangten, sich davon nicht beeindrucken zu lassen, fuhr er unverdrossen weiter.

Dillier nahm sich vor, die nächsten 15 Minuten zu überstehen, dann nochmals 15 Minuten, und so weiter. Es vergingen mehrere Stunden, in denen er in stoischer Manier um die 330 Watt trat, was immer härter wurde, während manche Fahrer hinter ihm sogar noch plaudern konnten.

Mailand–Sanremo ist nicht nur eines der wichtigsten Rennen des Jahres, sondern auch das längste: Es umfasste dieses Jahr stolze 289 Kilometer. Dillier versuchte, nicht daran zu denken. Am Passo del Turchino, 150 Kilometer vor dem Ziel, musste er bereits ans Limit gehen. Sender wie SRF hatten da noch nicht einmal mit der Übertragung begonnen. Danach gab er weiter alles, wie in einem Einzelzeitfahren. Allerdings mit dem Unterschied, dass die Quälerei beim Kampf gegen die Uhr nach weniger als einer Stunde vorbei ist.

Während 200 Kilometern führte Dillier das Feld an. Selbst Radsport-Aficionados, die aus Leidenschaft Statistiken wälzen, können sich an keinen vergleichbaren Vorfall erinnern.

Sogar Tadej Pogacar zollt im Vorbeifahren Respekt

Als die Betreuer von Alpecin ihn via Funk wissen liessen, sein Job sei erledigt, fiel die Spannung von Dillier ab. Von einem Moment auf den anderen trat er mehr als 100 Watt weniger. Rechts und links flogen die anderen Fahrer an ihm vorbei, und viele zollten ihm Respekt. Niemand von ihnen hatte es böse gemeint, ihn kein einziges Mal abgelöst zu haben, jeder hatte im Poker seine Rolle zu spielen. Jetzt beglückwünschten sie ihn. Dillier sagt, so viel Zuspruch habe er letztmals erfahren, als er 2018 am Monument Paris–Roubaix sensationell Zweiter wurde.

«Hey, grosser Respekt», rief sogar der Superstar Pogacar. Dillier war mit seinen Kräften am Ende, aber das Kompliment des Slowenen in voller Fahrt liess ihn emotional werden. Kurz darauf hatte ihn das Feld distanziert.

Es folgten jene spannungsgeladenen 30 Kilometer, welche die Radsportfans Jahr für Jahr elektrisieren wie kein anderer Rennabschnitt: die immer schnellere Hatz über Cipressa und Poggio zur Via Roma. Dillier bekam von der magischen Atmosphäre an den beiden finalen Anstiegen nichts mit. Er schenkte sie sich und rollte stattdessen direkt an der Küste nach Sanremo. Hinter seinem Namen steht in der Ergebnisliste «DNF», did not finish.

Als er den Zielbereich über die Abkürzung erreicht hatte, kurbelte ein Betreuer des Teams Lotto seine Fensterscheibe herunter und gratulierte. Dillier hatte keine Ahnung, weshalb. Erst dann erfuhr er, was jeder Fernsehzuschauer längst wusste: Sein Teamkollege van der Poel hatte erneut gewonnen, Filippo Ganna und Pogacar waren geschlagen.

Für Dillier war das einerseits eine gute Nachricht, auch in finanzieller Hinsicht: Radsportteams teilen die Siegprämien oft unter allen Fahrern auf, auch Alpecin hält es so. Andererseits droht dem Schweizer nun der Fluch des Erfolgs: noch mehr Arbeit. In den nächsten Tagen stehen belgische Classiques an und schliesslich der Höhepunkt des Frühlings, Paris–Roubaix. Auch dort will van der Poel triumphieren. Und Dillier, um dessen Stärke jetzt jeder weiss, dürfte weitere Stunden im Wind verbringen.

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