Donnerstag, Dezember 5

ChatGPT, Gemini und andere KI-Modelle sind seit zwei Jahren das Top-Thema im Tech-Sektor. Doch ist der Hype gerechtfertigt? Wieviel Potenzial in der neuen Technologie steckt, wird sich im kommenden Jahr zeigen. Plus: Gedanken zum abrupten Rücktritt des Intel-CEO.

Die Aktienmärkte in den USA tasten sich vorsichtig weiter in Kursneuland vor. Der Leitindex S&P 500 ist am Dienstagabend marginal fester aus dem Handel gegangen. Der Nasdaq 100 mit den grössten Technologiewerten hat 0,3% zugelegt.

Aus Asien treffen dramatische Nachrichten ein. Südkorea, das globale Zentrum der Speicherchip-Produktion, ist von Präsident Yoon Suk Yeol temporär in politisches Chaos gestürzt worden. Sein schlecht kaschierter Putschversuch ist glücklicherweise nach wenigen Stunden gescheitert. Doch die Ereignisse dürften noch einiges zu reden geben.

Sorgen um die politische Stabilität der weltweit dreizehntgrössten Volkswirtschaft bewegen die Finanzmärkte. Im Devisenhandel steht der südkoreanische Won unter Druck. An den Börsen in New York sackte der Kurs des iShares MSCI South Korea ETF mit den grössten Unternehmen des Landes am Dienstag zeitweise bis zu 7% ab und schloss nach einer volatilen Sitzung knapp 2% schwächer. Auch die Börse in Seoul tendierte am Mittwochmorgen leichter.

Südkorea kommt für rund zwei Drittel der weltweiten Produktion von Speicherchips auf. Zu verdanken ist das den Branchenriesen Samsung Electronics und SK Hynix. Samsung rangiert zudem an zweiter Stelle nach dem taiwanischen Auftragsproduzenten TSMC, wenn es um die Spitzentechnologie zur Produktion der leistungsfähigsten Rechenprozessoren geht. Die jüngsten Entwicklungen machen damit die Abhängigkeit des Westens von Asiens Halbeiterindustrie deutlich.

Das gilt umso mehr angesichts der existenziellen Krise, in der Intel steckt. Der US-Konzern ist der letzte westliche Hersteller, der in der Spitzentechnologie noch einigermassen mit TSMC und Samsung mithalten kann. Doch seine Zukunft ist nach dem überraschenden Rücktritt von CEO Patrick Gelsinger ungewisser denn je. Speziell das Schicksal der Foundry-Sparte, die zu einem Pendant von TSMC ausgebaut werden sollte, hängt nun in der Schwebe.

Gibt Intel die Foundry-Strategie auf?

Bis eine Nachfolge bestimmt ist, sind Finanzchef David Zinsner und Michelle Johnston Holthaus, die Chefin von Intels Produktsparte, ad-interim für die Leitung verantwortlich. Über die weitere Strategie lässt sich nur spekulieren. Hinweise darauf könnte die Medienmitteilung zu Gelsingers Rücktritt geben. «Wir wissen, dass wir in erster Linie unsere Produktgruppe in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen müssen», lässt sich der Verwaltungsrat darin zitieren.

In der Branche wird dies als potenzielles Indiz dafür interpretiert, dass Intel der Fabrikation von Halbleitern fortan weniger Priorität einräumen wird und das Foundry-Geschäft möglicherweise abspaltet. Dieser Schritt würde Gelsingers bisheriger Strategie diametral entgegenstehen, weshalb er seinen Posten vermutlich aufgegeben hat. Nach einer Reihe desaströser Quartalszahlen setzte der Verwaltungsrat wohl ohnehin nur noch wenig Vertrauen in ihn und hat offenbar die Geduld verloren.

«Die Suche nach einem neuen CEO scheint sich darauf zu konzentrieren, was mit Intels Fabriken geschehen soll», denkt Stacy Rasgon, Analyst bei Bernstein Research. Obwohl es für das Unternehmen ein Ballast wäre, die unrentable Foundry-Sparte zu behalten, sei eine Abspaltung ebenfalls alles andere also einfach; unter anderem wegen der Pläne für die nächsten Chip-Generationen und wegen staatlicher Subventionen. «Es scheint hier keine einfachen Lösungen zu geben», hält Rasgon fest. «Wer auch immer den CEO-Posten übernimmt, muss sich auf eine schwierige Aufgabe einstellen.»

Wir haben das Risiko eines abrupten Führungswechsels bei Intel in dieser Aktienanalyse thematisiert. Unmittelbar sind für die weitere Kursentwicklung primär zwei Punkte relevant: erstens, ob es beim Übergang zur nächsten Produktionstechnologie vielleicht erneut Probleme gibt. Zweitens, wie es dem Unternehmen operativ läuft. Anders als in solchen Fällen üblich, ist die Geschäftsprognose in der Medienmitteilung nicht bestätigt worden, was Zweifel nährt.

Deshalb empfehlen wir weiterhin, die Geschehnisse um Intel von der Seitenlinie aus zu verfolgen. Gelsinger, der die Konzernleitung Mitte Februar 2021 übernommen hat, hinterlässt einen durchwachsenen Leistungsausweis. Doch Intels Probleme gehen weit in die Vergangenheit zurück, und in Fachkreisen wurde so gut wie niemand anderem zugetraut, den Konzern erfolgreich zum Turnaround zu führen. Kurzum: Sein Rücktritt ist kein gutes Signal.

Das dämmert offenbar auch der Börse. Nachdem die Aktien am Montagmorgen nach der Ankündigung anfänglich reflexartig angezogen hatten, gingen sie am Abend mit leichten Verlusten aus dem Handel. Am Dienstag büssten sie dann mehr als 6% ein.

Die Misere, in der sich Intel heute befindet, hat vor allem eine Ursache: Arroganz. Der vormalige Branchenleader fokussierte sich hauptsächlich darauf, seine Aktionäre mit satten Margen und grosszügigen Ausschüttungen zufriedenzustellen und vernachlässigte Investitionen. Als Resultat davon hinkt er heute nicht nur TSMC und Samsung in der Produktion der schnellsten Chips hinterher, sondern ist auch im Bereich künstliche Intelligenz (KI) nicht wirklich wettbewerbsfähig.

Das bringt uns zum Hauptthema der heutigen Ausgabe von «The Pulse». Wir befassen uns mit der Frage, wie es mit dem KI-Boom im nächsten Jahr weitergehen könnte.

Fortschritte werden schwieriger

Es ist die mit Abstand wichtigste Frage, wenn es um das Potenzial künstlicher Intelligenz und das damit verbundene Wettrüsten zum Ausbau der IT-Infrastruktur geht: Können KI-Modelle in absehbarer Zeit echte Denkfähigkeiten wie Menschen oder Tiere entwickeln, wenn man immer mehr Parameter hinzufügt, immer mehr Rechenkapazität einsetzt und immer umfangreichere Daten verwendet?

In diesem Zusammenhang wird in der Branche auch von «AI scaling laws» oder KI-Skalierungsgesetzen gesprochen. Sie sind sozusagen das Fundament, auf dem der gewaltige Investitionsboom basiert, von dem Nvidia, Broadcom, Arista Networks, Vertiv und andere Ausrüster für Datacenter profitieren. Doch zwei Jahre nachdem das Startup OpenAI mit der Lancierung von ChatGPT den Hype um künstliche Intelligenz lanciert hat, nehmen Anzeichen zu, dass es zunehmend schwieriger wird, das Tempo der bisherigen Fortschritte beizubehalten.

Anders gesagt: Befürchtungen nehmen zu, dass auch grosse Sprachmodelle dem Problem unterliegen, das in der Ökonomie als abnehmender Grenzertrag bezeichnet wird. Anlass dazu geben diverse Berichte, wonach die neusten Modelle führender KI-Unternehmen wie OpenAI, Google und Anthropic weniger leistungsfähig sein werden, als erhofft. Das Thema Skalierbarkeit kam denn auch als erste Analystenfrage auf, als Nvidia vor zwei Wochen die Zahlen zum dritten Quartal präsentierte.

Nvidia-Chef Jensen Huang wich einer konkreten Antwort aus. Seiner Aussage nach ist nicht nur das Training von KI-Modellen für weitere Fortschritte entscheidend. Ebenso wichtig sei der Prozess zur Beantwortung konkreter Abfragen selber, wo fortan mehr Rechenkapazitäten zur Steigerung der Performance beitragen sollen. Auf ähnliche Argumente haben sich andere prominente Exponenten der IT-Industrie wie Microsoft-Chef Satya Nadella oder der Venture-Capital-Investor Marc Andreessen in den letzten Wochen abgestützt.

Inwiefern sich diese Aussagen als richtig erweisen, wird sich im kommenden Jahr zeigen. Auffällig ist, dass die Skepsis generell zunimmt. Die versprochenen Verbesserungen von Produktivität und Effizienz bleiben schwierig zu erfassen. Lediglich dank leicht besserer Ergebnisse bei Suchabfragen im Internet und optimierter Chatdienste wird der Hype kaum anhalten. Auch Microsofts Versuch, Google im Suchgeschäft mit Hilfe von KI nennenswert Marktanteile abzuringen, hat sich als vermessen erwiesen.

Derweil ist die Hoffnung auf eine nennenswerte Belebung des PC-Marktes dank KI-optimierten Notebook- und Desktop-Geräten definitiv verblasst. Wie Dell Technologies und HP letzte Woche berichtet haben, sind Grossrechner für KI-Datacenter zwar weiterhin heiss gefragt. Aufgrund der schwachen Entwicklung im PC-Geschäft haben beide Hardware-Hersteller jedoch mit dem Ausblick die Erwartungen verfehlt, worauf Investoren verstimmt reagierten.

Die wohl grösste Enttäuschung sind die neuen KI-Dienste von Apple. Anfang Woche beispielsweise hat das Research-Team von UBS eine Umfrage unter 7500 Smartphone-Nutzern in den USA, Grossbritannien, China, Deutschland und Japan veröffentlicht, deren Ergebnisse «auf eine schwache iPhone-Nachfrage hindeuten, weil das Interesse an KI gedämpft bleibt». Von einem grossen Erneuerungszyklus spricht niemand mehr.

Die Börse scheint das bisher jedoch kaum zu kümmern. Apples Aktienkurs ist am Dienstag auf ein neues Rekordhoch geklettert.

Kostspieliges Wettrüsten

Demzufolge stellt sich die Frage, ob die Investitionen in KI-Infrastruktur in der bisherigen Kadenz anhalten werden. Branchenschwergewichte wie Microsoft, der Google-Mutterkonzern Alphabet, Amazon und Meta Platforms haben beim letzten Quartalsabschluss unisono bekräftigt, dass sie unbeirrt in grossem Stil weiter in Rechenkapazitäten für KI-Modelle investieren wollen. Doch Zweifel, ob sich diese Ausgaben lohnen, dürften noch mehr zunehmen.

Die Zahlen dazu sind überwältigend. Wie eine Auswertung mit Hilfe des Datendienstes Koyfin ergibt, rechnen Analysten bei Microsoft für das Kalenderjahr 2025 mit einer weiteren Erhöhung der Kapitalinvestitionen um 17% auf annähernd 65 Mrd. $. Dies, nach einer für 2024 geschätzten Zunahme um 57%. Im Fall von Alphabet und Amazon geht der Konsens von jeweils rund 14% aus. Bei Meta wird eine Ausweitung der Ausgaben um 30% erwartet.

Im Kern geht es bei diesem Wettrüsten darum, wer zuerst den grossen Durchbruch schafft und eine Form von «echter» künstlicher Intelligenz kreieren kann. Seit Microsoft den Investitionsboom Anfang 2023 gestartet hat, haben Investoren diesen Trend lange wohlwollend hingenommen. Es fragt sich jedoch, wie lange ihre Geduld noch anhält, wenn handfeste Resultate punkto Umsatz- und Gewinnwachstum auch nächstes Jahr ausbleiben sollten.

Mögliche Anzeichen von Unbehagen betreffend der Rendite auf den massiven Investments sind bereits ersichtlich. Die Quartalsergebnisse der Tech-Riesen stossen in vielen Fällen nur noch auf mässige Resonanz. Die Aktien von Microsoft notieren mehr als 7% unter der Bestmarke von Anfang Juli. Mit einer Performance von 15% hinken sie dem Gesamtmarkt dieses Jahr sogar hinterher. Auch Alphabet konnte das Allzeithoch vom Sommer bisher nicht egalisieren.

Selbst die Aktien von Nvidia – quasi dem Epizentrum des KI-Booms an der Börse – zeigen Hinweise von Ermüdung. Der Kurs bewegt sich derzeit weniger als 4% über dem Hoch von Mitte Juni, während der S&P 500 im Vergleichszeitraum mehr als 10% fester notiert. Selbst die ausgezeichneten Zahlen zum vergangenen Quartal vermochten die Begeisterung von Investoren nicht neu zu entfachen.

Nvidia rechnet für die laufende Berichtsperiode zwar mit einem weiteren Wachstumsschub von mehr als 70% auf 38 Mrd. $ Umsatz. An der Börse gelten solche Ansagen inzwischen aber schon fast als selbstverständlich. Die Prognose lag denn auch bloss etwas mehr als 1% über den Analystenschätzungen am Tag der Ergebnispublikation; die geringste «Überraschung» seit der KI-Hype begonnen hat.

Besonders wichtig wird mit Blick auf 2025 daher, wie sich der Übergang zu Blackwell gestaltet, Nvidias nächster Generation von KI-Chips. Sie soll ab März in grossen Volumen auf den Markt kommen. Die Nachfrage ist unbestritten enorm gross, doch Produktionsprobleme haben die Lancierung verzögert. Die Bestellungen von Hopper-Systemen, Nvidias aktueller Generation von KI-Chips, schwächen sich derweil ab. Eine Schlüsselfrage ist damit, wie hoch das Wachstumstempo nächstes Jahr noch sein wird.

Tech-Aktien im perfekten Sturm

Was bedeutet das alles für die Aussichten von Tech-Aktien? Wer in den letzten zwei Jahren in den Sektor investiert hat, bereut es nicht. Der Nasdaq 100 liegt seit Anfang Jahr gut 28% im Plus, nachdem er bereits letztes Jahr fast 54% avanciert ist. Seit Anfang 2023 ist der Large-Cap-Tech-Index damit insgesamt 94% vorgeprescht. Der breite Gesamtmarkt, gemessen am S&P 500, hat im gleichen Zeitraum 58% gut gemacht.

In einer Art perfektem Sturm ist für Investments gleich eine Reihe positiver Faktoren zusammengekommen. Die Inflation bildete sich zurück, und das Wachstum der Branche zog nach der Flaute im Nachgang der Pandemie wieder an. Zusätzlich wirkten sich auf operativer Stufe Kostenkürzungen vorteilhaft auf die Gewinnentwicklung aus.

Die Fantasie, die mit den neuen KI-Modellen aufgekommen ist, hat die Tech-Hausse dabei entscheidend befeuert. Künstliche Intelligenz war an der Börse auch im vergangenen Jahr über weite Strecken das Top-Thema. Optimisten sprechen von einem Paradigmenwechsel, vergleichbar mit dem Aufkommen des Internets in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre, als der Nasdaq 100 im Schnitt fast 50% pro Jahr gewann.

Diese These dürfte 2025 ernsthaft auf die Probe gestellt werden. Die Inflation hat zuletzt wieder leicht angezogen, was der US-Notenbank Zinssenkungen erschweren könnte. Beim Umsatzwachstum wird die Vergleichsbasis zusehends anspruchsvoller, das generelle Konjunkturumfeld schwieriger. Auch wird sich der Effekt der Kostenkürzungen nicht wiederholen. Der Machtwechsel in Washington macht das politische Umfeld tendenziell weniger gut berechenbar.

Damit ist Zeitpunkt gekommen, in dem Tech-Konzerne beweisen müssen, welches Potenzial tatsächlich in den neuen KI-Modellen für ihre Geschäftsentwicklung steckt.


Deep Diving

An dieser Stelle präsentieren wir wie immer einige Links, die einen vertieften Einblick in ein aktuelles Thema geben:

  • Der Kurs von Bitcoin flirtet mit der Marke von 100’000 $. Die Aussicht auf eine lockerere Regulierung von Kryptowährungen in den USA heizt das Spekulationsfieber an. Besonders heiss laufen die Aktien von MicroStrategy. Das von Michael Saylor gegründete Unternehmen ist de facto ein kotierter Bitcoin-Fonds, doch inzwischen übersteigt sein Börsenwert von nahezu 90 Mrd. $ den Inneren Wert um ein Vielfaches. Das Online-Magazin «Sherwood News» geht der Frage nach, was es mit dieser extremen Bewertungsprämie auf sich hat.
  • Die Steigerung der Produktivität ist das grosse Versprechen von generativer künstlicher Intelligenz. Paradebeispiel dafür ist die Anwendung der Technologie für Call-Center-Dienste. Die Tech-Publikation «Rest of World» berichtet in dieser Reportage über den beruflichen Alltag von Angestellten in Outsourcing-Unternehmen auf den Philippinen und wie ihre Arbeit nun durch neue KI-Programme überwacht, unterstützt und beurteilt wird.
  • Ein problematischer, aber wenig thematisierter Trend im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz ist die Anwendung für militärische Zwecke. Die digitale Zeitschrift «Middle East Eye» befasst sich in diesem Hintergrundbericht mit dem Arbel-Waffensystem, das von Israel zusammen mit dem indischen Unternehmen Adani Defence & Aerospace entwickelt wurde und von der israelischen Armee beim Krieg im Gazastreifen eingesetzt wird.

Und zum Schluss noch dies: Fool’s Gold

Boom- und Bust-Zyklen gehören zum manisch-depressiven Naturell der Märkte. Beispiele dafür gibt es unzählige: von der holländischen Tulpenmanie im 17. Jahrhundert über die Übertreibungen beim Aufkommen der Eisenbahnen am Beginn des Industriezeitalters bis hin zur Internetblase und dem gegenwärtigen Hype um künstlicher Intelligenz.

Wie schnell der Trend drehen kann, zeigt sich besonders eindrücklich am Schicksal von Rhyolite. Die heutige Geisterstadt am nördlichen Rand des Death Valley im Grenzgebiet zwischen Kalifornien und Nevada stieg durch einen Goldrausch in kurzer Zeit zu einem florierenden Wirtschaftszentrum auf und verschwand dann ebenso schnell wieder in Bedeutungslosigkeit.

Ihre Geschichte beginnt am 4. August 1904, als die Goldgräber Frank «Shorty» Harris und Ernest «Ed» Cross in den umliegenden Hügeln einen aufregenden Fund machen. Wenige Monate später wird Rhyolite als Zeltstadt gegründet, benannt nach dem Vulkangestein in der Gegend, das reich an Quarz und Feldspat ist. Bald werden auf mehr als 2000 Landparzellen Anrechte für die Suche nach Gold geltend gemacht.

Im Juni 1905 ist die Bevölkerung in Rhyolite bereits auf über 2500 Einwohner gewachsen. «Zu diesem Zeitpunkt gab es schon mehr als fünfzig Saloons, die einen Schluck Whiskey für 15 Cent und eine Flasche Bier für 75 Cent anboten», berichtet der Historiker Richard Lingenfelter. Im Staub der Golden Street, der Hauptstrasse der jungen Stadt, tummeln sich Fussgänger, Postkutschen, Autos, Güterwagen, Lastesel und Hunde.

Für landesweite Aufmerksamkeit sorgt die Montgomery-Shoshone-Mine im Besitz von Bob Montgomery, einem der ersten Investoren vor Ort. Nachrichten zu ihrem riesigen Potenzial locken sogar Charles Schwab an. Der Industriemagnat aus der Stahlmetropole Pittsburgh unterbreitet Montgomery ein Kaufangebot, das sich je nach Quelle auf 2 bis 6 Mio. $ beläuft. Wie es heisst, soll der beachtliche Preis auf Druck von Montgomerys Frau zustande gekommen sein.

Mit dem Deal bricht das Goldfieber erst richtig aus. Schwab investiert massiv in die Infrastruktur der Stadt. Es werden Wasser-, Strom- und Telefonleitungen gezogen, am neuen Bahnhof halten gleich drei verschiedene Eisenbahnlinien. Rhyolite hat eigene Zeitungen und Schulen, ein Spital, ein Opernhaus und sogar eine Aktienbörse. Der grösste Stolz ist das dreistöckige Gebäude der Cook Bank mit Treppen aus italienischem Marmor und Mahagoni-Verzierungen.

Doch als der Prunkbau Anfang 1908 fertiggestellt wird, ist die Blase bereits geplatzt. Der Bankenkrach von 1907 erschüttert das Vertrauen von Kapitalgebern, ein Feuer macht einen grossen Teil der Stadt dem Erdboden gleich, Investoren sorgen sich, dass die Aktien der Montgomery-Shoshone-Minengesellschaft überbewertet sind. Als eine Studie befindet, dass die Erwartungen an das Goldvorkommen völlig übertrieben sind, kollabiert der Kurs.

Der Abstieg ist brutal. Eine Mine nach der anderen gibt den Betrieb auf, die Wirtschaft kommt zum Erliegen. Im Jahr 1910 zählt Rhyolite nur noch 611 Einwohner, nachdem es zu Spitzenzeiten bis zu 5000 gewesen sind. Im folgenden März muss auch die Montgomery-Shoshone-Mine schliessen. 1920 ist die Stadt komplett ausgestorben. Ihren kurzlebigen Glanz können Besucher heute nur anhand vereinzelter Ruinen erahnen, darunter der Bahnhof sowie Überreste des Bankgebäudes, einer Schule und eines Gemischtwarenladens.

Mehr als ein Jahrhundert später kommt erneut Hoffnung auf grosse Bodenschätze auf. In Rhyolite Ridge nordöstlich der Geisterstadt plant die Explorationsgesellschaft Inoeer ein ehrgeiziges Lithium-Projekt. Vor wenigen Wochen haben die Behörden es bewilligt. «Das Projekt könnte nach seiner Fertigstellung genug Lithium liefern, um jährlich fast 370’000 Elektrofahrzeuge zu betreiben», posaunt eine Medienmitteilung heraus. Weiter wird von technologischem Fortschritt, Arbeitsplätzen und wirtschaftlichem Aufschwung geschwärmt – fast genauso, wie es wohl schon einmal klang.

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