Bei manchen schlägt das Herz beim Genuss von exzellentem Essen höher. Bei anderen, wenn sie sich ins Unbekannte stürzen, sich verlieren, der Natur ausliefern. Wer das neue Restaurant von Jérémy Galvan besucht, erfährt beides zugleich.

Im «220 BPM», das Anfang Februar 2025 eröffnet wurde, will der Spitzenkoch den Puls seiner Gäste in die Höhe treiben; dies durch Genuss – und den völligen Kontrollverlust.

Das Restaurant hat keine Adresse. Keine Wegbeschreibung. Nur einen kommunizierten Treffpunkt in Lyon. Auf der Place Belle­cour beginnt die Reise im Shuttlebus. Zuerst wird einem das Handy abgenommen. Dann verliert man die Orientierung. Mit verbundenen Augen fahren die Gäste in einen geheimen Wald, begleitet von einem Trance-ähnlichen Soundtrack, der das Gefühl der Erwartung und Aufregung, aber auch der Angst steigern soll.

Im tiefen Wald tauchen plötzlich Gebäude auf, die schwarze Fassade des Restaurants wirkt wie verkohlt. Hinter der massiven Eingangstür führt eine scheinbar endlose Treppe in einen Himmel aus kopfüber hängendem Weizen. Über der goldenen Decke steht das Team bereit– gekleidet in schwarze Lederpanzer, die an Kostüme aus «Game of Thrones» erinnern.

Für die Bekleidung arbeitete Jérémy Galvan mit Maison Robin zusammen, einem französischen Modehaus, das auf massgeschneiderte Kleidung für die Luxusgastronomie spezialisiert ist. Der Designprozess nahm anderthalb Jahre sowie mehrere zehntausend Euro in Anspruch.

Was man isst, weiss man nicht

Im Gegensatz zu all den Gourmetrestaurants mit Panoramablick gibt es im Speisesaal kaum Fenster. Das verstärkt die Dramatik der Atmosphäre. Auch Tische sucht man vergebens. Die Gäste nehmen Platz auf Sesseln, die etwas Privatsphäre schaffen – um sich wieder auf sich selbst und das Essen zu konzentrieren. Das sei wichtig. «Trotz der Spannung sollte man im ‹220 BPM› nicht in unangenehme Unruhe kippen», erklärt Maude Cucinotta, die gemeinsam mit Paul Coudamy für Architektur und Design verantwortlich ist.

Was serviert wird? Weiss man nicht. Es gibt keine Speisekarte, keine klassische Menufolge. Stattdessen rund 30 Kreationen, serviert auf Speisewagen. Einige werden direkt im Speisesaal zubereitet. Die Verkostung sei einem Waldstreifzug nachempfunden, einem Pflücken, einer Erfahrung, die an Urinstinkte appelliert, beschreibt Cucinotta. Zutaten wie Flechte, Moos und Haselnusskätzchen bringen den Wald auf die Zunge.

Auch kulinarisch ist man Jérémy Galvan ausgeliefert. Man ahnt bestenfalls, was man isst.

Wie die Kleidungsstücke, die in der Region Lyon produziert werden, bezieht Galvan auch die Zutaten lokal. Zudem verbindet er seine Kreationen mit Produkten, die aus der Natur stammen – das passe zu seinem Locavore-Ansatz. Dazu arbeitet er mit einem Wildsammler zusammen.

Zurück zu den ursprünglichen, kindlichen Empfindungen

Der Kontrollverlust bei Ort, Zeit und vielem, was die Gäste von der Gastronomie kennen und erwarten, sei wichtig, erklärt Galvan. Nur so könne er seine Gäste an die Grenze zwischen Realem und Irrealem bringen. Den Wunsch, einen anderen Blick auf die erworbenen Dinge und konventionellen Gewohnheiten zu werfen, hatte der Koch schon, bevor er sich mit seinem eigenen Lokal in Lyon einen Stern erkocht hat. Zwei Jahre lang feilte er an dem Konzept, das eine sinnliche Erfahrung in die Wildnis bringen soll, ohne dabei auf digitale Technik zurückzugreifen. Bedient hat sich der Chefkoch stattdessen an vom Theater inspirierten Mechanismen, die einen Ort lebendig machen.

Nach vier Stunden bringt der Shuttlebus die Gäste zurück nach Lyon. Wieso überhaupt der ganze Aufwand – reicht gutes Essen nicht mehr aus? «Ich mache das nicht aus Opportunismus», entgegnet Galvan. Er wolle die Menschen nur zu ihren ursprünglichen, kindlichen Empfindungen führen, in eine Parallelwelt, in der sie die Realität für einmal vergessen können.

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