Vor einem Vierteljahrhundert begab sich die Schweiz auf den bilateralen Weg. Heute ist unklar, ob und wie er weitergeht. Die Befürworter nutzen das Jubiläum für ihre Sache.
Progresuisse entstand im Ringen um den Rahmenvertrag mit der EU. Mit dem Aus für das Abkommen im Mai 2021 wurde es auch um die Vereinigung still. Nun verhandelt die Schweiz erneut über eine Weiterentwicklung der Bilateralen. Die Gegner sind den Befürwortern einen Schritt voraus: Seit Monaten besetzen sie kommunikativ das Feld, allen voran die SVP, aber auch wirtschaftsnahe Gruppierungen wie Autonomiesuisse. Von der SP sind fast nur kritische Stimmen von Gewerkschaftern wie Pierre-Yves Maillard zu hören. Die FDP hat sich weitgehend aus dem Spiel genommen, bis die Schweiz die Verhandlungen abgeschlossen hat. Bei der Mitte ist es ähnlich.
Doch nun versuchen auch Befürworter einer Einigung, sich in die Debatte einzubringen. Sie nutzen das 25-Jahr-Jubiläum der Bilateralen I, um die Bedeutung enger Beziehungen zur EU aufzuzeigen. Die europapolitische Allianz «stark + vernetzt» organisiert vom 17. bis zum 21. Juni eine Jubiläumswoche, um die Vorteile des bilateralen Wegs zu betonen. In fünf Städten der Deutschschweiz sowie in Genf und im Tessin soll es Aktivitäten geben. In Bern ist ein grösserer Anlass auf dem Waisenhausplatz geplant, der sich an die Bevölkerung richtet.
«Mit der Unterzeichnung der Bilateralen I am 21. Juni 1999 beschritt die Schweiz einen Erfolgsweg, der sich nun bereits seit 25 Jahren bewährt», schreibt Monika Rühl, die Direktorin von Economiesuisse, in einem Beitrag zur Jubiläumswoche. Die Bilateralen hätten sich als massgeschneiderte Lösung erwiesen zwischen einer Mitgliedschaft in der EU oder dem EWR und der Isolation.
Economiesuisse koordiniert als Wirtschaftsdachverband die Kampagne von «stark + vernetzt». Zur Allianz gehören 91 Mitglieder, von kantonalen Handelskammern und Branchenverbänden wie Swissmem über Unternehmen wie Novartis und Swiss bis zu zivilgesellschaftlichen Akteuren wie der Operation Libero, aber auch der Mitte und der FDP. Diverse Mitglieder planen im Juni Anlässe. So sehen mehrere kantonale Handelskammern Aktivitäten mit Firmen vor. Der ETH-Rat beteiligt sich ebenfalls an der Jubiläumswoche. «Der bilaterale Weg war auch für den Bildungs-, Forschungs- und Innovationsstandort sehr positiv», sagt Michael Hengartner, der Präsident des ETH-Rates. Die Schweiz habe von den europapolitischen Optionen die richtige gewählt.
Vorteile für Bevölkerung
Rühl argumentiert nicht alleine ökonomisch, wie es die Wirtschaft lange tat. Sie betont den Nutzen des Vertragswerks mit der EU für die Bevölkerung. «Jedes der bilateralen Abkommen bringt Vorteile für die Wirtschaft, aber auch für jede und jeden von uns», sagt sie. Die Bilateralen hätten nicht nur den Handel zwischen der Schweiz und der EU massiv vereinfacht, sondern auch viele weitere Bereiche wie die Luftfahrt, den Landverkehr und die Landwirtschaft gestärkt. Die Zusammenarbeit mit der EU habe dazu beigetragen, die Innovationskraft der Schweizer Firmen zu erhöhen. Sie bringe im Alltag viele Vorteile, sei es beim Kauf von Lebensmitteln oder der Reise über die Grenze.
Das wichtigste, aber auch umstrittenste Abkommen der Bilateralen I ist die Personenfreizügigkeit. Rühl betont ebenfalls den Nutzen für die Bürger. «Die Personenfreizügigkeit hat uns das Recht gegeben, überall im EU-Raum zu lernen, zu leben und zu arbeiten.» Umgekehrt trügen Erwerbstätige aus der EU zum Erfolg der Schweiz bei. Seit der Einführung der Bilateralen sei mehr Wohlstand für alle geschaffen worden. Gemäss Rühl wuchs das reale BIP pro Kopf zwischen 2000 und 2022 um 21 Prozent – das ist mehr als in vielen europäischen Ländern, aber weniger als in den USA oder Deutschland. Zugleich nimmt Economiesuisse den Unmut über die Zuwanderung ernster als auch schon. Rühl hat sich hinter die Idee einer Schutzklausel gestellt.
Abgesehen von der SVP bestreiten wenige, dass der bilaterale Weg ein Erfolg ist. Tatsache ist aber auch, dass die EU seit 15 Jahren nicht mehr gewillt ist, ihn in der heutigen Form weiterzuführen. Sie verlangt, dass die Schweiz in jenen Bereichen, in denen sie am Binnenmarkt partizipiert, dynamisch neues EU-Recht übernimmt. Zudem beharrt sie auf einer juristischen Streitbeilegung. Andernfalls will die EU-Kommission mit Bern keine neuen Abkommen mehr schliessen und bestehende nur im Ausnahmefall aufdatieren.
In den Sondierungen haben sich die zwei Parteien darauf geeinigt, dass jede Seite im Streitfall künftig ein Schiedsgericht einschalten könnte. Geht es um EU-Recht, müsste der Europäischen Gerichtshof (EuGH) beigezogen werden. Bei einer Einigung mit der EU würden die Bilateralen damit auf eine neue Stufe gestellt – auch wenn einzelne Abkommen schon heute eine dynamische Rechtsübernahme vorsehen. «Es ist wichtig, dass der bilaterale Weg weiterentwickelt werden kann», sagt Rühl. Eine gleichwertige Alternative sei nicht in Sicht.
Verhandlungsresultat abwarten
Die Befürworter einer Einigung mit der EU sind jedoch in einer weniger komfortablen Situation als die SVP, die jede engere Anbindung bekämpft. Die Grundzüge einer Lösung sind zwar absehbar. Aber die Verhandlungen haben erst im März begonnen. Wer sich in dieser Phase vorbehaltlos hinter ein neues Vertragspaket stellt, schadet der Position der Schweiz. Diese versucht, nach den Sondierungen Verbesserungen herauszuholen. So will der Bundesrat mit der EU auch über eine Schutzklausel für die Zuwanderung sprechen.
Das erklärt, warum die Kampagne eher zurück als nach vorne blickt. Es gelte das Verhandlungsresultat abzuwarten, sagt Michael Hengartner, der Präsident des ETH-Rats. Auch die EU müsse Konzessionen machen, wenn sie wolle, dass es eine Lösung gebe. «Grundsätzlich sind die Bilateralen III aber eine sinnvolle Weiterentwicklung der beiden ersten Vertragspakete.» Rühl verweist unter anderem auf die Vorteile einer verbindlichen Streitbeilegung. «Als kleinerer Partner ist es in unserem Interesse, künftig einen Rechtsweg zu haben.» Auch die Schweiz könne das Schiedsgericht anrufen. Die Schweizer tendierten dazu, nur die Risiken statt die Chancen zu sehen.
Die Schweiz und die EU dürften die Verhandlungen frühestens bis Ende Jahr abschliessen. Aber die Befürworter haben erkannt, dass sie nicht so lange zuwarten können. Auch die Vereinigung Progresuisse meldet sich aus der Versenkung: Sie hat nach längerer Zeit ihre Website aktualisiert.