Donnerstag, Oktober 31

Werden die Verschollenen des Kosovokriegs jetzt vergessen? Die Belgrader Menschenrechts-Juristin Natasa Kandic sagt Nein.

Am 31. Mai 1998 war Xyfe neunzig Jahre alt und Witwe. Sie lebte bei ihrem Neffen Dine und seiner Familie in einem Dorf im Westen Kosovos. An dem Tag begannen serbische Truppen, das Dorf zu beschiessen. Die Familie floh, bis auf Xyfe, die nicht mehr gehen konnte, und Dine, der das Dorf mit Mitgliedern der UCK, der selbsternannten «Kosovo-Befreiungsarmee», verteidigte.

Erfolglos, am Nachmittag eroberten die Serben den Ort. Dine und die UCK zogen sich zurück. Am folgenden Tag kehrte er jedoch zurück ins Dorf. Bewaffnet mit einem leichten Maschinengewehr, wollte er nach zurückgebliebenen älteren Bewohnern, wie Xyfe, suchen. Ein Zeuge berichtete später, Schüsse aus dem Dorf gehört zu haben.

Seither fehlen von Xyfe und Dine jede Spur. Als Verwandte wenige Monate später in ihr Haus im Dorf zurückkehrten, fanden sie nur einen Haufen Patronenhülsen am Boden.

Diese Geschichte erzählt das Buch «Dignity for the Missing», Würde für die Vermissten, herausgegeben von der prominenten serbischen Menschenrechtsaktivistin Natasa Kandic, der Gründerin des Fonds für humanitäres Recht. Die Studie basiert auf über 2000 Aussagen von Angehörigen oder Zeugen und über 1500 Berichten, Gerichtsurkunden sowie den Datenbanken des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP). Auf 750 Seiten berichtet es über die letzten Momente von 1636 vermissten Personen, die 25 Jahre nach dem Kosovokrieg immer noch vermisst werden.

Dieser Umstand – ein Vierteljahrhundert ohne jede Spur Hunderter Menschen – belastet die Angehörigen tagtäglich: Sollen sie ein leeres Grab errichten? Damit warten, bis die Leiche gefunden und identifiziert ist? Oder darauf hoffen, dass der Sohn, die Tochter, der Vater, die Schwester doch noch am Leben ist und eines Tages zurückkommt?

Obwohl auf beiden Seiten des Konflikts Hunderte Angehörige auf Aufklärung hoffen, wird diese von der Politik ignoriert oder sogar blockiert. Das hat viel mit der Vergangenheit und dem andauernden Zerwürfnis zwischen Belgrad und Pristina zu tun.

Beide Seiten vertuschen ihre Kriegsverbrechen

Der Kosovokrieg tobte von 1998 bis 1999. Rund 12 000 Menschen wurden getötet, die Mehrheit davon Kosovaren, aber auch Serben und Angehörige ethnischer Minderheiten. 4500 Menschen wurden nach dem Ende des Kriegs vermisst. Die Kriegsparteien – die jugoslawische Armee, die serbische Polizei und Paramilitär-Einheiten auf der einen, die kosovarische UCK-Guerilla auf der anderen Seite – liessen sie verschwinden.

Mit dem Eingreifen der Nato im März 1999 intensivierten serbische Truppen die Massaker an der albanischen Zivilbevölkerung. Um die Kriegsverbrechen zu verbergen, wurden in den letzten Kriegsmonaten Massengräber in Kosovo geöffnet, die Leichen in Lastwagen verfrachtet und in Serbien in sogenannten sekundären Massengräbern erneut verscharrt. Kühltransporter mit menschlichen Überresten wurden in Seen und Flüssen versenkt. Auch sollen Leichen massenhaft verbrannt worden sein.

Als sich nach Kriegsende im Juni die serbischen Truppen zurückzogen, verübte die kosovarische Seite brutale Racheakte an der verbliebenen serbischen und nichtalbanischen Zivilbevölkerung. Die UCK ging auch gegen angebliche kosovarische «Kollaborateure» vor. Auch hier wurde versucht, die Spuren der Kriegsverbrechen zu verwischen.

Zwar wurden seither über 2500 vermisste Personen identifiziert und ihre sterblichen Überreste den Angehörigen zur Beerdigung übergeben. Doch die Hoffnung, die verbliebenen 1600 Vermissten zu finden, schwindet. Dagegen regt sich Widerstand.

Eine erneute Untersuchung der Fundorte ist notwendig

«Mit dem Buch wollen wir die Erinnerung an jene, die nur noch im Gedächtnis ihrer Familien leben, in die Gesellschaft tragen», sagt Natasa Kandic. «Wir wollen verhindern, dass sie ausgelöscht werden, als hätte es sie nie gegeben.» Die Juristin spricht sich für eine erneute Untersuchung jener Orte aus, an denen Massengräber mit Leichen von Vermissten gefunden wurden.

Das grösste Massengrab befand sich in Batajnica, einem Vorort Belgrads. Es enthielt die Leichen von 744 Kosovaren. 61 weitere Leichen wurden bei Petrovo Selo gefunden, und 84 in einem Massengrab neben dem Perucac-Stausee. Alle drei Massengräber wurden 2001 gefunden, nachdem der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milosevic gestürzt und an das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag ausgeliefert worden war.

Danach stagnierte die Suche. Lediglich zwei weitere Massengräber wurden seither gefunden: eines 2014 in Rudnica und das andere 2020, in der Nähe davon, in Kizevak.

Kandic sagt, dass ihre Nachforschungen darauf hindeuteten, dass die Leichen von vermissten Personen, deren Nachbarn oder Verwandte in einem der grösseren Massengräber gefunden wurden, meist ebenfalls dort oder dann in unmittelbarer Nähe begraben seien. Dass die zuletzt gefundenen Massengräber in Rudnica und Kizevak nahe beieinander liegen, stützt diese Annahme.

Beim Perucac-Stausee sei die Angelegenheit komplizierter, sagt Kandic. Sie verfüge über glaubhafte Informationen, nach denen Leichen, mit Steinen befestigt, im See versenkt worden seien. Sie ist überzeugt: Eine sorgfältige Untersuchung würde das bestätigen. Dafür allerdings müsste der Stausee komplett entleert werden.

Die Chancen, dass die Standorte der Massengräber tatsächlich erneut untersucht werden, sind jedoch gering. Laut Kandic ist Serbien zwar grundsätzlich damit einverstanden, es finden aber keine konkreten Massnahmen vor Ort statt.

Das habe mit dem politischen Klima zu tun: Beide Seiten fokussierten ausschliesslich auf die eigenen Opfer, bauten um diese eine nationale Erinnerungskultur auf. Informationen, die bei der Suche nach Vermissten hilfreich wären, würden verheimlicht, zum Schutz der eigenen «Helden» vor strafrechtlichen Folgen.

Dieses politische Klima zeigt sich exemplarisch am Verhältnis der beiden staatlichen Vermisstenkommissionen.

Trotz neuen Hinweisen auf ein Massengrab geschieht nur wenig

Serbien und Kosovo verfügen beide über staatliche Kommissionen für vermisste Personen. Diese sollten eigentlich kooperieren, was sporadisch gelingt. Kürzlich etwa baten die beiden Kommissionen die Schweiz um Unterstützung. Eine Schweizer Expertengruppe reiste vom 14. bis zum 25. Oktober in beide Länder und testete den Einsatz neuer Technologien zur Suche nach Vermissten. Und in der Vergangenheit konnten sterbliche Überreste den Angehörigen übergeben werden. Meistens funktioniert die Zusammenarbeit aber nicht.

«Beide Kommissionen sind verschwiegen, verheimlichen Informationen über mögliche Exhumierungen vor Journalisten und der Öffentlichkeit und kommunizieren nur sehr begrenzt mit den Familien der Vermissten», sagt Natasa Kandic dazu.

Insbesondere Kosovo fordert von Serbien, die Archive serbischer Militäreinheiten öffentlich zugänglich zu machen. Diese sollen Hinweise auf den Verbleib vermisster Personen liefern. Kosovos Ministerpräsident Albin Kurti beschuldigte Belgrad, Archive verschlossen zu halten, gerade weil sie solche Hinweise enthielten.

Serbien erwidert die Vorwürfe: Es habe über 2000 Dokumente zugänglich gemacht, während die kosovarische Seite 90 Leichen getöteter Serben in einer Leichenhalle in Pristina zurückhalte und Hinweisen aus Serbien auf vermutete Massengräber nicht nachgehe.

Eigentlich verpflichteten sich Albin Kurti und Serbiens Präsident Aleksandar Vucic dazu, uneingeschränkten Zugang zu Informationen und Dokumenten zu gewähren, die Hinweise auf den Verbleib vermisster Personen lieferten – Dokumente mit «Verschlusscharakter» inbegriffen. Sie hatten sich im Mai 2023, unter EU-Vermittlung, auf den Inhalt einer gemeinsamen Erklärung zu vermissten Personen geeinigt. Doch die Erklärung blieb weitgehend folgenlos.

Unter dieser Streiterei leiden letztlich die Angehörigen der Vermissten. Auf beiden Seiten: Die Mehrheit der 1600 weiterhin Vermissten sind Albaner aus dem Kosovo. Dazu kommen rund 400 Serben sowie Dutzende Angehörige ethnischer Minderheiten, wie Roma oder Bosniaken.

Auch auf die jüngsten Hinweise auf ein mögliches Massengrab im Südwesten Serbiens, nahe der Stadt Novi Pazar, folgen nur sehr zögerlich Massnahmen. Serbische und kosovarische Vertreter einigten sich in zwei Gesprächsrunden in Genf, im Januar und Juli, das Gelände zu untersuchen. Sie besuchten den Ort – eine Mülldeponie – im August. Ein Datum für den Beginn der Ausgrabungen hätte Mitte September genannt werden sollen. Geschehen ist dies nicht. Laut einem Vertreter der kosovarischen Vermisstenkommission soll Serbien den Beginn der Ausgrabungen auf nächstes Jahr vertagt haben.

«Dignity for the Missing» ist der zweite Band des «Kosovo Memory Book». Es erschien am 31. August 2024 in Belgrad. Das Buch wurde von dem Fonds für humanitäres Recht in Belgrad, dem Fonds für humanitäres Recht Kosovo in Pristina und in Zusammenarbeit mit dem Projekt Reconciliation Network (Recom) veröffentlicht.

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