Mittwoch, März 19

Die konservativen Muslime erhöhen den Druck auf die malaysische Politik: In ihren Augen ist die Regierung von Anwar Ibrahim zu liberal. Diese versucht, die Wut zu besänftigen, indem sie den Scharia-Gerichten mehr Macht gibt.

Die Geschichte holt Malaysia wieder ein. Es ist dem Land seit seiner Unabhängigkeit 1957 von den britischen Besetzern nicht gelungen, die Frage zu klären, ob es ein islamischer oder ein säkularer Staat ist. Dieser Zwiespalt stellt auch die «Einheitsregierung» von Anwar Ibrahim, die seit Ende 2022 an der Macht ist, vor ein Dilemma: Sie muss bei der malaiisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit, die rund zwei Drittel der Gesellschaft stellt, glaubwürdig bleiben, ohne die Unterstützung der nichtmuslimischen Minderheiten zu verlieren.

Zwei von drei Malaysiern sind Muslime

Anteil an der Bevölkerung, in Prozent

Nun haben sich Anwar und sein Minister für religiöse Angelegenheiten jedoch auf die Seite der Muslime geschlagen und damit bei den chinesisch-indischen Minderheiten Argwohn erweckt. Der Minister hat angekündigt, bis Ende dieses Jahres einen Gesetzentwurf im Parlament einzubringen, damit die Scharia-Gerichte in den Gliedstaaten härtere Strafen bei Verstössen gegen islamisches Recht verhängen dürfen. Der Applaus der konservativen Muslime ist der Regierung sicher.

Die Konservativen sind auf dem Vormarsch

Malaysia ist ein föderaler Staat mit einem dualen Rechtssystem: Es gibt das Zivilrecht, das in die Zuständigkeit des Landesparlaments in Kuala Lumpur fällt und das auf dem britischen Rechtssystem («common law») basiert. Die Gliedstaaten sind für das islamische Recht, das nur für Muslime gilt, zuständig. Es regelt persönliche sowie familiäre Angelegenheiten und Fragen, wie die Religion ausgeübt werden soll. Bei Verstössen fällen Scharia-Gerichte die Urteile, wobei die Scharia zum Ziel hat, dass Muslime nach den Wünschen von Allah leben, also beten, fasten und sich für wohltätige Zwecke engagieren.

Die Regierung Anwar greift mit dem Gesetz auf einen Entwurf des Präsidenten der ultrakonservativen Pan-Malaysian Islamic Party (PSA), Hadi Awang, zurück, den dieser 2016 im Parlament eingebracht hatte. Er sieht vor, dass die Bussen für Vergehen gegen islamisches Recht drastisch verschärft werden.

Bis jetzt dürfen Scharia-Gerichte Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren, Geldbussen von 5000 Ringgit (rund 917 Franken) und maximal sechs Stockhiebe verhängen. Den Konservativen sind diese Strafen zu lax. Die Gesetzesänderung sieht vor, dass Scharia-Gerichte Täter künftig zu Haftstrafen von bis zu dreissig Jahren, zu Geldbussen von 100 000 Ringgit (rund 18 402 Franken) sowie zu maximal hundert Stockhieben verurteilen dürfen.

Für das Vorhaben erhält Anwar grosse Zustimmung von der oppositionellen PAS, die die stärkste Partei im Parlament ist und auch bei den vergangenen Wahlen in den Gliedstaaten zu den Gewinnern gezählt hat. Wie ultrakonservativ die PAS ist, zeigen ihre Parteistatuten. Dort heisst es, dass die Einführung eines theokratisch-islamischen Staates das oberste Ziel sei.

Kritik an dem Gesetzentwurf kam dagegen von der chinesischen Minderheit, die ein wichtiger Bündnispartner von Anwar ist. Sie äusserte die Sorge, dass künftig auch Nichtmuslime von Scharia-Gerichten verurteilt werden können. Bis jetzt ist dies nicht der Fall.

Aber die Minderheiten sind gewarnt, denn Malaysia ist konservativer geworden – nicht nur an den Urnen. In einer Umfrage der amerikanischen Denkfabrik Pew Research Center, die zwischen Juni und September 2022 durchgeführt wurde, sagten fast alle Muslime, dass nur ein Muslim ein wirklicher Malaysier sein könne. Und es sprachen sich 86 Prozent der Muslime dafür aus, die Scharia zum offiziellen Gesetz des Landes zu machen.

Die obersten Richter bescheren dem Säkularismus einen Sieg

Bei Anwar und seiner Regierung ist die Botschaft angekommen. Sie reagieren mit dem Gesetzentwurf aber auch auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, das dieser Anfang Februar verkündet hatte. Die neun Richter hatten darüber zu befinden, ob die Regierung im Gliedstaat Kelantan, der im Nordosten liegt und an Thailand grenzt, 2021 mit der Verabschiedung von sechzehn islamischen Gesetzen zu weit gegangen war; der Gliedstaat ist das Kernland der malaiisch-muslimischen Mehrheit und wird seit mehr als dreissig Jahren von der konservativen PAS regiert.

Der malaysische Gliedstaat Kelantan

Es ging um Straftatbestände wie Homosexualität, Laster, sexuelle Belästigung, Unzucht und Zerstörung sowie Schändung von Kultstätten. Das Urteil des Obersten Gerichtshofes war ein Sieg für den Säkularismus: Acht von neun Richtern erklärten die sechzehn islamischen Gesetze für «null und nichtig». Sie seien verfassungswidrig, weil das Zivilrecht die Tatbestände bereits regele.

Die malaiisch-muslimische Bevölkerungsmehrheit schäumte, es kam zu Protesten. Die Muslime sahen sich durch das Urteil in ihrer Meinung bestätigt, wonach die Regierung Anwar sich zu wenig um ihre Belange kümmere und liberal sowie säkular sei. Anwars Versuch, diese Wut zu besänftigen, führt nun aber zu Unmut der nichtmuslimischen Minderheit. Die Frage, ob Malaysia ein islamischer oder ein säkularer Staat ist, wird das Land weiter beschäftigen.

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