Dienstag, November 26

Eine Gesetzesänderung soll die Aufklärung von Cold Cases in der Schweiz erleichtern. Doch ist das wirklich sinnvoll?

Wer hat Heike Kötting ermordet? Am Morgen des 26. Februar 1991 wird die 28-Jährige von ihrem Vater in ihrem Haus in Dortmund erstochen aufgefunden. Alles deutet darauf hin, dass der Täter für einen Einbruch durch ein Kellerfenster ins Haus eingestiegen und im Wohnzimmer überrascht worden ist. Die Polizei vermutet, dass Heike Kötting ihren Mörder gekannt hat und möglicherweise deshalb sterben musste.

Doch der Fall ist äusserst rätselhaft. So ist der rote Ford Fiesta von Heike Kötting verschwunden. Er wird später an einer Autobahnraststätte in Frankreich aufgefunden. Obwohl die Ermittler das Umfeld der jungen Frau bis in den hintersten Winkel ausleuchten, kommen sie nicht weiter – bis am 15. Januar 2024.

An diesem Tag, 33 Jahre nach der Tat, verhaftet die Polizei in Dortmund auf offener Strasse einen 60-jährigen Mann, den sie verdächtigt, Heike Kötting ermordet zu haben. Er landet umgehend in Untersuchungshaft. Der Coup sorgte bundesweit für Aufsehen. Ein Klebeband, mit dem die Polizei am Tatort Mikrofasern gesichert hatte, führte die Ermittler zur verdächtigen Person: An dem Band hafteten DNA-Spuren, die die Polizei zusammen mit den Fasern unbewusst ebenfalls gesichert hatte.

Treffer in Österreich

Zu der Zeit, als Heike Kötting ermordet wurde, spielte die DNA-Analyse in der Polizeiarbeit keine Rolle. Jahrzehnte später aber ist sie eine der wichtigsten Ermittlungsmethoden und wird zur Aufklärung von Cold Cases regelmässig eingesetzt. Im Fall Kötting ergibt eine europaweite Überprüfung prompt einen Treffer in einer österreichischen Datenbank. Alles scheint zu passen: Der Verdächtige kommt aus Dortmund – und er ist fast genau so alt, wie es Heike Kötting heute wäre.

Wäre der Mord in der Schweiz geschehen: Die Justiz bliebe untätig, und der Verdächtige hätte nichts zu befürchten. Spätestens nach dreissig Jahren verjähren die meisten Delikte hierzulande auch dann, wenn sie mit einer lebenslangen Gefängnisstrafe bedroht sind. Sogar falls einem Täter ein Mord hieb- und stichfest nachgewiesen werden kann, bleibt er für die Strafverfolger nach dreissig Jahren unmöglich zu fassen.

Denn mit der Verjährung erlischt der Strafanspruch des Staates. Damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass das gesellschaftliche Bedürfnis nach staatlichem Ausgleich und Strafe mit der Zeit nachlässt. Wer in einer alten Zeitung Berichte über ein Jahrzehnte zurückliegendes Verbrechen liest, kennt diesen Effekt des abnehmenden Sühnebedürfnisses. Doch ist dies immer gerecht?

Seit langem sorgt die Verjährung immer wieder für Diskussionen. Jetzt flammt die Auseinandersetzung erneut auf – und einiges deutet darauf hin, dass sie anders verlaufen könnte als früher. Derzeit berät das Parlament über eine Standesinitiative aus dem Kanton St. Gallen, mit der die Verjährungsfrist für Mord aufgehoben werden soll.

«Alles ist vergessen? Das kann bei Mord nicht sein»

Der Vorstoss aus St. Gallen geht auf einen bis heute ungelösten Mordfall in der Ostschweiz zurück. 1982 entdeckte ein Spaziergänger nahe der Kristallhöhle im St. Galler Rheintal die Leichen zweier Mädchen, die Wochen zuvor ermordet worden waren. Der Fall, der als «Kristallhöhlenmord» in die Schweizer Kriminalgeschichte einging, wurde nie geklärt.

Ein Polizist, der damals bei den Ermittlungen dabei war, suchte vor Jahren den Kontakt zum SVP-Nationalrat Mike Egger. Er erzählte ihm, welche Qual die Verjährung für die Angehörigen darstelle: «Sie leiden lebenslang», sagte er. Schon als Kantonsparlamentarier setzte sich Egger deshalb für die Aufhebung der Verjährungsfrist bei Mord ein. Jetzt muss das eidgenössische Parlament entscheiden.

Dass die Verjährung den Rechtsfrieden wahren soll, wird zwar kaum bestritten, auch nicht vom Zürcher Strafrechtsprofessor und Ständerat Daniel Jositsch: «Das stimmt bei fast jedem Delikt. Aber stimmt das bei Mord?», fragte er, als die kleine Kammer das Thema vor zwei Jahren behandelte: «Nehmen wir den Täter, wenn er auftaucht, wieder in die Gesellschaft auf und sagen: Alles ist vergessen?» Jositsch beantwortete seine Frage im Rat gleich selbst: «Das kann bei solchen Delikten nicht der Fall sein.» Er unterstützt den Vorstoss aus St. Gallen.

Allerdings gibt es noch einen weiteren Grund für die strafrechtliche Verjährung: Mit zunehmender Dauer lässt sich ein Sachverhalt kaum mehr rekonstruieren. Zeugen können sich nicht mehr genau erinnern, Spuren sind verwischt und abhandengekommen. Das erschwert ein Strafverfahren – oder es verunmöglicht es gar. Bezeichnenderweise sind auch zum Kristallhöhlenmord seit langem keine stichhaltigen Indizien aufgetaucht, die dem Fall eine neue Wende gegeben hätten.

DNA-Analysen werden immer präziser

Die Aufklärungsrate bei Tötungsdelikten ist in der Schweiz äusserst hoch. Von 472 Taten, die in den Jahren 2013 bis 2022 begangen wurden, konnten 452 aufgeklärt werden – nur in 20 Fällen blieb die Polizei gemäss Bundesamt für Statistik erfolglos. Das entspricht einer Quote von weniger als 5 Prozent. Nicht bei allen handelt es sich um Mord. Und höchstens in sehr seltenen Ausnahmen wäre nach mehr als dreissig Jahren mit neuen Hinweisen zu rechnen, die einem Fall eine neue Wende geben könnten.

Die Verjährung stelle somit auch eine Entlastung für Polizei und Justiz dar. Sie müssen sich nach einer gewissen Zeit nicht mehr um alte Fälle ohne reale Chancen auf Aufklärung kümmern und können Akten schliessen. Der Zürcher Strafrechtsprofessor Felix Bommer befürchtet, die Unverjährbarkeit würde den Verfolgungsdruck in aufsehenerregenden Cold Cases erhöhen – selbst wenn die Aussichten gering seien. Im Gegensatz zu Jositsch steht Bommer der Unverjährbarkeit bei Mord skeptisch gegenüber.

Der Coup der Dortmunder Polizei zeigt jedoch, dass Jahrzehnte später durchaus neue Ermittlungsergebnisse auftauchen können. «Heute können Dinge noch nach langer Zeit geklärt werden, von denen man dies vor zwanzig Jahren nicht einmal geträumt hat», erklärt Eva Scheurer, Leiterin des Instituts für Rechtsmedizin in Basel. Aus ihrer Sicht spricht der technologische Fortschritt eher dafür, die Verjährung bei Mord aufzuheben.

Vor allem DNA-Untersuchungen würden immer besser und präziser. So kann inzwischen gar die DNA einzelner Zellen analysiert werden. So dass auch ein Gemisch von mehreren DNA-Spuren Hinweise auf die Täterschaft liefern kann, wenn man sie in Einzelspuren auftrennt und analysiert. Vor wenigen Jahren war dies noch unmöglich.

In Basel wurde ein Mann vierzehn Jahre nach der Tat verurteilt

Es lohne sich heute in jedem Fall, Spurenträger in ungeklärten schweren Delikten aufzubewahren, sagt Scheurer. Denn die technischen und methodischen Entwicklungen in der forensischen Genetik werden in den nächsten Jahren weitergehen. Alleine in den letzten Jahren seien in Europa Ermittlungen in mehreren ungeklärten Cold-Case-Tötungsdelikten aufgrund der neuen Untersuchungsmethoden in der forensischen Genetik wiederaufgenommen worden.

Vor einigen Jahren wurde in Basel ein Mann verurteilt, der im Jahre 2000 seine Freundin umgebracht und danach in Neuseeland ein neues Leben aufgebaut hatte. Er war unauffindbar geblieben. Erst vierzehn Jahre später wurde er in Neuseeland entdeckt und aufgrund der DNA als Täter identifiziert und schliesslich verurteilt.

In diesem Fall war die Verjährungsfrist zwar noch nicht abgelaufen. Doch das Beispiel zeigt, wie die Zeit wegen der Verjährung für den Täter spielt. Die Rechtsmedizinerin Scheurer stört sich deshalb daran, dass heute bei schwersten Delikten nicht einmal ermittelt werden darf, selbst wenn dies technisch gesehen möglich wäre.

Und doch ist Andreas Eckert, leitender Oberstaatsanwalt im Kanton Zürich, persönlich skeptisch, ob die Abschaffung der Verjährungsfrist für Mord wirklich klug wäre – aus einem anderen Grund: Denn ob überhaupt ein Mord vorliegt, entscheidet erst das Gericht. Während der ganzen Untersuchung des Delikts bleibt das offen. Das Gericht kann bei seiner Beurteilung dennoch auf vorsätzliche Tötung erkennen. Eine Tat, die weiterhin verjähren würde. Was wäre also, wenn der Täter ermittelt, aber doch nicht verurteilt werden könnte?

Der Verdächtige im Fall Kötting schweigt

Ein Argument, dass auch der Strafrechtler Bommer vorbringt. «Vorsätzliche Tötung und Mord lassen sich nicht trennscharf abgrenzen», sagt er. Er befürchtet, dass die Gerichte stark unter Druck kommen würden, Beschuldigte wegen Mordes zu verurteilen, selbst wenn die Tatumstände dagegen sprächen. Dies, weil sie den Mann wegen der Verjährung freilassen müssten, wenn nur eine gewöhnliche vorsätzliche Tötung bewiesen werden könnte.

Bommer hält es für einen Irrglauben, dass der kriminaltechnische Fortschritt die Verjährung überflüssig mache. Die Klärung der Umstände und des Motivs werde nach Jahrzehnten immer schwieriger. Das erschwere ein Strafverfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, wonach nur unzweifelhaft nachgewiesene Schuld des Angeklagten zur Verurteilung führen dürfe, sagt er. Mit der Unverjährbarkeit seien deshalb viele unerfüllbare Hoffnungen verbunden.

Nicht ausgeschlossen, dass auch der Tod von Heike Kötting trotz dem spektakulären Ermittlungserfolg für immer ungeklärt bleibt. Ob und wann es zu einer Anklage komme, sei offen, erklärt die zuständige Staatsanwältin Gülkiz Yazir auf Anfrage der NZZ. Der Tatverdächtige selbst schweigt zum Tatvorwurf. Spuren und die Verletzungen des Opfers weisen aber darauf hin, dass im Februar 1991 eine weitere Person beteiligt gewesen sein könnte. Bis feststeht, was in jener Nacht geschah und wer wirklich für das Verbrechen verantwortlich ist, ist noch viel Ermittlungsarbeit nötig.

Wer hat Heike Kötting getötet? Niemand weiss, ob dieses Rätsel je gelöst wird.

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