Donnerstag, Mai 15

Wenn unschuldige Straftäter in Grossbritannien ihr Urteil überprüfen lassen wollen, laufen sie bei den Justizbehörden oft auf. Nun fordern Betroffene und Rechtsexperten Reformen.

Im Sommer 1986 wühlt ein brutaler Mord in Birkenhead bei Liverpool Grossbritannien auf. Eine 21-jährige Floristin und Barfrau fährt nach ihrer Schicht im Pub zu später Stunde nach Hause, als ihr das Benzin ausgeht. Zu Fuss macht sie sich auf den Weg zu einer Tankstelle – die sie nie erreichen wird. Ein Unbekannter fällt die Frau an, schleppt sie in eine dunkle Gasse und malträtiert sie. Als sie am nächsten Tag tot aufgefunden wird, weist ihre Leiche Kopfverletzungen, Riss- und unzählige Bisswunden auf.

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Wenig später stösst die Polizei auf offener Strasse auf ein Feuer, in dem Kleider des Opfers brennen. Rasch gerät der 30-jährige Peter Sullivan unter Tatverdacht. Zeugen haben beobachtet, wie er sich in der Nähe des Feuers in einem Gebüsch versteckte.

Sullivan, der als Kind unter Lernschwierigkeiten litt, verwickelt sich im Verhör in Widersprüche. Aufgrund eines Abgleichs seines Gebisses behauptet die Staatsanwaltschaft dann, dass die Bisswunden am Opfer von ihm stammten. Aufgrund der Indizien wird er 1987 schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die Medien betiteln ihn als «Biest von Birkenhead» und als «Wolfsmenschen».

Überprüfung mehrfach blockiert

38 Jahre später steht fest, dass Sullivan das Opfer eines schwerwiegenden Justizirrtums ist. Diese Woche hat eine Revision seines Falles durch den Appellationsgerichtshof aufgrund von DNA-Spuren zweifelsfrei ergeben, dass Sullivan nicht der Täter sein kann. Wer die Bluttat begangen hat, ist unklar. Nach fast vier Jahrzehnten Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis kam Sullivan auf freien Fuss. Inzwischen ist er 68 Jahre alt.

In einer Stellungnahme, die seine Anwältin kurz nach der Freilassung verlas, lässt Sullivan ausrichten, er sei weder wütend noch verbittert.

Dabei hätte er dazu allen Grund: 1986 konnten sich die Justizbehörden bei der Verfolgung von Verbrechen noch nicht auf DNA-Spuren stützen. 2008 gelangte Sullivan erstmals vergeblich mit der Bitte an die Criminal Case Review Commission (CCRC), eine Revision des Urteils gegen ihn zu ermöglichen. Doch die CCRC argumentierte, die DNA-Technologie sei nicht fortgeschritten genug, um eine allfällige Unschuld gesichert nachzuweisen.

Spätestens ab 2015 aber hätte die technologische Entwicklung eine zweifelsfreie Überprüfung ermöglicht. Doch die CCRC wurde auch da nicht aktiv. Erst als Sullivan 2021 erneut an die Kommission gelangte, schaute sie den Fall noch einmal an, wenn auch erst nach einer Verzögerung von vier Jahren. Dies ermöglichte nun den Freispruch durch den Appellationsgerichtshof.

Kritik an Kommission

Sullivans Leidensgeschichte hat in Grossbritannien Bestürzung ausgelöst – und die Debatte über den Umgang mit Justizirrtümern befeuert. Denn Sullivan ist kein Einzelfall. Rund 900 unbescholtene Leiter von Postfilialen wurden wegen einer fehlerhaften Software der britischen Post zwischen 1999 und 2015 wegen Diebstahls oder Bilanzfälschung verurteilt. Viele von ihnen landeten unschuldig im Gefängnis, erst vergangenes Jahr wurden die Betroffenen rehabilitiert, nach jahrelangem Kampf.

Für grosses Aufsehen sorgte auch der Fall des der Vergewaltigung bezichtigten und verurteilten Andrew Malkinson: Er sass 17 Jahre lang unschuldig im Gefängnis, bevor er 2023 aufgrund von DNA-Beweisen freigesprochen wurde. Auch er war mehrfach vergeblich an die Criminal Case Review Commission gelangt. Die Nichtregierungsorganisation Appeal schreibt, die Kommission untersuche die ihr vorgelegten Fälle nur oberflächlich und baue für eine Revision fast unüberwindbare Hürden auf.

Die CCRC hat die Aufgabe, Revisionsgesuche von Straftätern zu prüfen und an den Appellationsgerichtshof weiterzuleiten. Kritiker argumentieren, die Behörde verhalte sich viel zu formalistisch und habe Angst, Richtern Fehler zu unterstellen. Der Anwalt und Oberhausabgeordnete Edward Garnier, der einst als Rechtsberater in der Regierung von David Cameron gedient hatte, erklärte im Gespräch mit der BBC, die träge CCRC müsste proaktiv die Fälle von allen Tätern anschauen, die aufgrund von Indizien verurteilt worden seien und die nun dank DNA-Analysen allenfalls entlastet werden könnten.

Neuer Prozess für Letby?

Die Labour-Regierung prüft derzeit anhand des Berichts einer unabhängigen Kommission von Rechtsexperten eine Justizreform. «Der Postskandal hat gezeigt, wie schnell man Opfer eines Justizirrtums werden kann», sagte Penney Lewis, die Vorsteherin der Kommission, im März. Gemäss heutiger Praxis kommt es nur zu einer Revision, wenn neue Beweise auftauchen, die beim ursprünglichen Prozess nicht verfügbar gewesen sind. Die Expertenkommission schlägt nun vor, dass die CCRC künftig unabhängig von neuen Beweisen prüfen kann, ob ein Schuldspruch glaubwürdig erscheint.

Bald wird sich die CCRC mit einem der publikumswirksamsten Mordfälle der vergangenen Jahre befassen müssen: mit jenem der Kinderkrankenschwester Lucy Letby. Sie wurde 2023 als Serienkillerin von Säuglingen zu lebenslanger Haft verurteilt. Inzwischen aber äussern immer mehr Experten erhebliche Zweifel an ihrer Schuld. Beobachter argumentieren, dass nur eine Neuauflage dieses Prozesses das angeschlagene Vertrauen in die britische Justiz stärken könne.

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