Freitag, Dezember 27

Unternehmen klagen über Fachkräftemangel. Dennoch haben manche Bewerber Schwierigkeiten bei der Jobsuche. Ein Personalvermittler erklärt, warum die beiden Seiten in verschiedenen Welten leben.

Nach dem Abklingen der Corona-Pandemie war er plötzlich ganz akut: der Fachkräftemangel. Viele Unternehmen klagten lautstark und heftig, kein Personal mehr zu finden. Inzwischen hat sich die Lage am Arbeitsmarkt wieder entschärft, weil sich die Konjunktur verlangsamt hat. Trotzdem sind gewisse Talente immer noch so gefragt, dass ihre Lohnforderungen quasi nebensächlich sind.

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Die Gewinner

Zu den grössten Gewinnern am Arbeitsmarkt zählen 2024 die Steueranwälte. Sie sind so gesucht, dass bei Positionen, die neu besetzt werden mussten, die Gehälter innert eines Jahres um 24 Prozent stiegen. Das geht aus einer Erhebung des Personalvermittlers Michael Page hervor. Davon profitierten generell Fachleute im Legal- und Compliance-Bereich. Die Löhne der neu eingestellten administrativen Mitarbeitenden in diesem Bereich lagen Ende 2024 um 15 Prozent höher als ein Jahr zuvor.

Gut bezahlt sind auch die HR-Chefs von grossen, multinationalen Unternehmen. Die Personalabteilungen gelten zwar als die unbeliebtesten im ganzen Betrieb. Aber Chef einer solchen Abteilung zu sein, scheint zumindest in finanzieller Hinsicht attraktiv zu sein. Die Jahresgehälter betragen bis zu 400 000 Franken.

Ebenfalls stark gefragt waren Vertriebsmanager, Vertriebsingenieure und technische Vertriebsspezialisten. In diesen Kategorien zahlten Firmen für neue Mitarbeitende gemäss Michael Page 17 bis 18 Prozent höhere Löhne. «Leute mit starker Vertriebserfahrung sind für die Umsatzentwicklung der Unternehmen gerade in schwierigen Zeiten enorm wichtig», so erklärt Yannick Coulange, Managing Director von Michael Page Schweiz, die Entwicklung.

Steueranwälten und Anwälten generell kam zugute, dass viele Unternehmen dringend juristische Hilfe brauchten und unter Druck bereit waren, deutlich mehr zu bezahlen. Die Experten profitieren davon, dass es häufig nicht viele dieser Jobs in den Unternehmen gibt und ein starker Lohnzuwachs somit nicht das gesamte Lohngefüge durcheinanderbringt.

Für die meisten Positionen stagnierten die Löhne 2024 gemäss der Auswertung. Dieses Ergebnis passt zur Entwicklung des Fachkräftemangel-Indexes des Personalvermittlers Adecco. Er gab im laufenden Jahr um 18 Prozent nach, nachdem er im Vorjahr noch um 24 Prozent angestiegen war. Besonders IT-Spezialisten und Ingenieure sind wieder leichter zu finden. Die grössten Engpässe bestehen weiterhin im Gesundheitswesen.

Was Unternehmen sagen . . .

Was heisst das für die Gesamtlage – ist der Arbeitsmarkt nun angespannt oder nicht? Und gibt es den Fachkräftemangel überhaupt noch? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. Unternehmen und Stellensuchende jedenfalls scheinen in sehr unterschiedlichen Welten zu leben.

Anekdotisch berichtet ein Firmenvertreter, dass er auf Stellenausschreibungen immer weniger Bewerbungen erhalte. Und die Personen, die er unlängst habe einstellen wollen, hätten ihm schliesslich abgesagt, weil ihnen andere Angebote mehr zugesagt hätten. Da könne man doch nicht sagen, dass es keinen Fachkräftemangel gebe.

Ein Banker stösst ins gleiche Horn und beklagt, auf Stellenausschreibungen kaum mehr als zehn Bewerbungen zu erhalten. Zudem würden diejenigen, die sich bewerben würden, häufig nicht passen. Sie hätten entweder nicht die richtige Qualifikation, passten vom Auftreten her nicht oder hätten zu hohe Lohnvorstellungen.

Anders sei es lediglich bei Führungspositionen. Dort bekomme er jeweils rund 100 Bewerbungen. Alle wollten Manager sein, aber niemand wolle die Arbeit machen, folgert der Banker.

. . . und wie Stellensuchende die Welt sehen

Ganz anders tönt es bei Stellensuchenden: Es sei zynisch, von Fachkräftemangel zu sprechen, findet ein Manager, der seine Stelle bei einer Restrukturierung verloren hat und nun seit über einem Jahr nach einem neuen Job sucht.

Unlängst habe ein Headhunter eine interessante Stelle ausgeschrieben. 700 Bewerbungen, so habe er im Nachhinein erfahren, seien eingegangen. Er sei zwar in die engere Auswahl gekommen, am Ende aber doch nicht genommen worden.

Eine Stellensuchende mit universitärem Hochschulabschluss berichtet, dass sie trotz Bewerbungsmarathon über ein Jahr lang nicht nur keine Stelle gefunden habe, sondern auch kaum jemals zu Interviews eingeladen worden sei. Andere Kandidaten klagen, dass die Unternehmen oftmals nicht einmal Absagen schickten – und auf Nachfrage auf die Vielzahl der eingegangenen Bewerbungen verwiesen.

Die Vermutung, dass viele Stellen heiss umkämpft sind, ist nicht aus der Luft gegriffen. Bei Michael Page, in der Schweiz ein Personalvermittler mittlerer Grösse, gehen pro Monat rund 25 000 Bewerbungen ein, wobei eine Person in der Regel mehrere Bewerbungen einreicht. Rund ein Prozent der eingegangenen Bewerbungen erfolgreich. 99 Prozent nicht.

Offenbar nehmen Stellensuchende und Unternehmen die Wirklichkeit sehr unterschiedlich wahr. «Auf beiden Seiten ist die Frustration gross», meint Yannick Coulange.

Der Fluch der Karriere

Für die Misere gibt es zwei wesentliche Gründe: erstens die Hierarchie und zweitens die demografische Entwicklung. Sie verstärken sich gegenseitig.

Fast alle Unternehmen kennen eine hierarchische Pyramide. Auf den unteren Hierarchieebenen gibt es viele Stellen. Gesucht werden also vor allem Leute, die noch nicht so viel Berufserfahrung haben. «Entry level», nennt Coulange das.

Da die Babyboomer und die nachfolgende Generation Y allerdings weniger Kinder bekommen haben als ihre Eltern, gibt es weniger junge Berufsleute der Generation Z.

Spiegelbildlich dazu steigt der Anteil der älteren Arbeitnehmer. Diese bewerben sich auf eine geringere Anzahl von Jobs, weil sie höheren Hierarchiestufen entsprechen. «Für alle höheren Positionen gibt es viele Kandidaten», bestätigt Coulange.

Arbeitnehmer können leicht einer Illusion erliegen

Nun ist es grundsätzlich denkbar, dass Menschen, die oben auf der Karriereleiter nicht fündig werden, den Rückwärtsgang einlegen und wieder weiter unter einsteigen. Das funktioniert in der Praxis aber häufig nicht.

Erstens ist ein solcher Rückschritt mit Einbussen beim Gehalt verbunden. Nicht jeder will und kann sich das leisten. Zudem sind das Aufgabenspektrum und das Prestige geringer. Doch selbst wenn ältere Arbeitnehmer bereit sind, diese Nachteile in Kauf zu nehmen, werden sie von den Unternehmen häufig abgelehnt. Diese zögern, ältere Arbeitnehmer in jüngere Teams aufzunehmen. Sie fürchten soziale Spannungen, etwa wenn die Chefin jünger ist als ihr Mitarbeiter oder weil sich die Älteren als Besserwisser entpuppen könnten.

«Für dieses Problem ist noch keine Lösung gefunden», sagt der Arbeitsmarktexperte Yannick Coulange. Die Karriere kann so zum Fluch werden.

Für wechselwillige Arbeitnehmer ist es also nicht in jedem Fall einfach, einen neuen Job zu finden – trotz tiefer Arbeitslosigkeit und dem immer wieder angeführten Fachkräftemangel.

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