254 koreanische Schülerinnen und Schüler fanden 2014 den Tod, als eine Insel-Fähre kenterte und sank. Die Lyrikerin Kim Hyesoon hat dieses Unglück nicht mehr losgelassen. In einem erschütternden Gedichtband «Autobiographie des Todes» erhebt sie Klage und Anklage.

Wohl noch niemand hat über den Tod so befremdlich und faszinierend geschrieben wie die südkoreanische Lyrikerin Kim Hyesoon in ihrem Gedichtband «Autobiographie des Todes». Wobei es eher um Tode als um Tod geht, denn was uns da entgegentritt, hat viele Gesichter und Formen, gleicht Wesenheiten, ja Geistern. Und die Autorin, die diese beschwört, nennt sich eine «Geistersprecherin». Das klingt etwas schamanisch, liegt aber durchaus in koreanischer Tradition. Dieser fühlt sich Kim Hyesoon verbunden, ohne ihre christliche Erziehung zu leugnen, was sich in Bibelzitaten und einem dekonstruierten Vaterunser äussert.

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Hilfreich ist es, die Lektüre des Bandes, der aus einem 49-teiligen Zyklus und einem Poem besteht, hinten zu beginnen: In einem ausführlichen Gespräch gibt die Lyrikerin Auskunft über Entstehung, Hintergründe und Sprache der Gedichte, über Erkenntnis als «Schleudertrauma» und Dichten als «Wahrnehmungsuniversum». Auslöser für ihre obsessive Beschäftigung mit dem Tod war das tragische «Sewol»-Fährunglück 2014, bei dem 254 Schülerinnen und Schüler einer Schule in Ansan umkamen, die in der Nähe von Kims Universität lag. Oft schaute sie sich die Fotos der Verstorbenen an. Mit Wut auf eine korrupte Regierung, die dieser Tragödie Vorschub leistete.

Die «Geistersprecherin» leiht ihre Stimme

Wie aber über den Tod schreiben? Im Zyklus «Autobiographie des Todes» wählt Kim eine zum Subjektlosen tendierende, an ein «Du» in der Vielzahl gerichtete Sprache und beschreibt 49 Tage, denn laut einer buddhistischen Sage irrt die Seele nach dem Tod 49 Tage lang in der Zwischenwelt umher, bis sie sich reinkarniert.

Die Dichterin sieht sich als «Geistersprecherin», die zwischen Diesseits und Jenseits vermittelt, in einer synästhetischen Gleichzeitigkeit. Die ihre Stimme denen leiht, die «für immer tot im Leben und untot im Tod sind». Dazu dienen ihr kühne Bilder und Vergleiche, ungewöhnliche Metonymien, Wortneubildungen und -spiele: «Die Frau erstickt. Wenn sich ihre Lippen öffnen, stehen die schüchternen Zähne Spalier im Schädel, wie Stühle in einem Restaurant. Wenn ihr gelbes Fleisch hart wird, verwandeln sich die roten Rosen zu blauen. Setzt ihre Rose eine Maske auf? Wenn man die Tür ihrer Gefängniszelle öffnet, liegt das faulende Herz am Boden. Legt ihrem Herzen eine Windel an!»

Viele Todesarten verraten Gewaltanwendung, es wird «zugeschlagen» und «zugestochen», die Rede ist von täglichen Prügelstrafen und «roten Zwangsvollstreckungssiegeln» auf dem Rücken. Kim Hyesoons Gedichte tragen unverkennbar Züge einer Anklage: gegen politische und gesellschaftliche Repressionsstrukturen, gegen eine patriarchalische Ordnung, die dem Weiblichen zu wenig Raum lässt. Im Gedicht «Nichtherr» findet der Protest eine sprachlich groteske Zuspitzung.

Schmerz und Schönheit

Es gibt aber auch andere Töne: schmerzlich-zärtliche wie in «Wiegenlied», visionäre wie in «Schmerzhafte Halluzination»: «Es ist Nacht, all deine in dir gestorbenen Ichs erwachen (. . .) Du sollst sehen, fürchte dich nicht, sieh genau hin». Und im Poem «Gesicht des Rhythmus» findet Kim durch die durchgängige Verwendung der ersten Person Einzahl zu einer persönlicheren Sprechweise, die «Neurologie mit Ethik», konkrete Schmerzerfahrungen der Autorin mit einer spezifisch poetischen Wahrnehmung der Welt verbindet.

Zugleich zeigt dieses Poem, das koreanische Mythen und schamanische Rituale aufgreift, wie virtuos die Lyrikerin mit Rhythmen und Klängen, Wiederholungen und Homonymen umzugehen weiss. Dass es Sool Park und Uljana Wolf gelungen ist, diese im Deutschen wiederzugeben, noch die kleinste Sprachnuance einzufangen und originelle Neologismen wie «schmerzieren», «brüllieren», «rhythmieren» zu erfinden, verdient höchstes Lob.

«Autobiographie des Todes» kann man nicht weglegen, ohne gleich wieder danach zu greifen. Wo hat man schon solches gelesen: «Jetzt bist du so leicht, dass du nie mehr stürzen kannst / Bist nur die Wellewelle im obersten Stock des Abgrunds!» Eine erschütternde Entdeckung, dieser Gedichtband.

Kim Hyesoon: Autobiographie des Todes. Gedichte. Aus dem Koreanischen von Sool Park und Uljana Wolf. Zeichnungen von Fi Jae Lee. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 149 S., Fr. 39.90.

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