Donnerstag, September 19

Patienten mit medizinischen Bagatellen sind schuld an der Überlastung der Notaufnahmen: So lautet ein gängiges Narrativ. Doch es könnte falsch sein.

Die Notfallstationen der Schweizer Spitäler sind chronisch überlastet, die Zahl der Konsultation steigt und steigt. «Die Situation ist schwierig, und das in allen Regionen», sagte Regine Sauter, FDP-Nationalrätin und Präsidentin des Spitalverbandes H+, 2023 in einem Gespräch mit der NZZ.

Der Ansturm hat verschiedene Gründe. Viele Patientinnen und Patienten finden keinen Hausarzt mehr und gehen deshalb bei Beschwerden direkt ins Spital. Manche sind laut Sauter auch ängstlicher und ungeduldiger geworden: Statt zu versuchen, eine Krankheit daheim auszukurieren, wollen sie sofort eine medizinische Betreuung. Und dann gibt es auch noch Ausländer, die das hiesige Gesundheitswesen zu wenig kennen und die es von ihren Herkunftsländern gewohnt sind, dass Spitalambulatorien eine erste Anlaufstelle sind.

Schon seit Jahren steht deshalb die Forderung im Raum, mit einer Sondergebühr von 50 Franken jene abzuschrecken, die mit medizinischen Bagatellen ins Spital kommen – und damit auch das medizinische Personal davon abhalten, sich um die wirklichen Notfälle zu kümmern. Eine entsprechende parlamentarische Initiative, die der damalige grünliberale Nationalrat Thomas Weibel 2017 eingereicht hat, ist immer noch hängig.

Allerdings ist umstritten, wie gross der Anteil der medizinischen Lappalien im Spitalnotfall überhaupt ist. Manche Ärzte vermuten, dass bis zur Hälfte der Konsultationen keine «echten» Notfälle betreffen. Eine neue Untersuchung der Helsana kommt jedoch zu einer anderen Erkenntnis.

Kaum Bagatellfälle

Die Abrechnungsdaten der Krankenkasse zeigen, dass die Anzahl Konsultationen in Notaufnahmestationen in den letzten Jahren tatsächlich stark gestiegen ist, auf gut 1,75 Millionen im Jahr 2023. Besonders an den Wochenenden ist der Andrang gross. Das ist für die Spitäler ein Problem, weil sie immer mehr Personal für die Notfälle bereitstellen müssen, und dies in Zeiten des Fachkräftemangels. Und es belastet auch die Prämienzahler, weil eine Behandlung im Spitalnotfall rund doppelt so teuer ist wie in einer Hausarztpraxis.

Der Verdacht liegt nah, dass der Anstieg der Konsultationen auf die «falschen» Notfälle zurückzuführen ist. Doch der Verdacht ist laut den Helsana-Zahlen falsch: Der Anteil der Bagatellen sei sogar kontinuierlich gesunken, von 10 Prozent im Jahr 2014 auf lediglich 7 Prozent neun Jahre später.

Es gibt zwar keine Definition davon, was eine Bagatelle ist. Aber man kann sich dem Phänomen zumindest annähern: Bei Fällen in einer Notaufnahmestation, bei denen in den 30 Tagen zuvor und danach kein weiterer Leistungsbezug stattfindet – ausser einem allfälligen Medikamentenbezug in einer Apotheke –, könne angenommen werden, dass der Notfall-Besuch nicht zwingend gewesen sei, schreiben die Helsana-Autoren.

Bloss mehr Bürokratie

Und sie betonen: Weil die Zahl solcher Bagatellfälle nach dieser Definition deutlich geringer ausfällt als erwartet, ergebe die Forderung der parlamentarischen Initiative wenig Sinn. «Die Notfallgebühr verursacht statt der gewünschten Entlastung bloss mehr administrativen Aufwand.»

Als Alternative propagiert die Helsana Telmed-Modelle, wie sie mittlerweile alle grossen Kassen anbieten: Medizinische Fachpersonen können im Telefon- oder Videogespräch beurteilen, ob eine Krankheit oder eine Verletzung sofortige Behandlung benötigt – oder ob auch ein Besuch in einer Apotheke oder in einer Arztpraxis am nächsten Tag reicht.

Thomas Weibel hielt in seiner Initiative fest, die Gebühr für Bagatellfälle schärfe das Bewusstsein für die unterschiedlichen Elemente des schweizerischen Gesundheitswesens. Ob diese Haltung obsiegt oder jene der Kritiker einer Gebühr, wird sich in der laufenden Herbstsession zeigen.

Der Nationalrat muss Ende September entscheiden, ob er dem Vorstoss, der schon manche parlamentarische Zusatzrunde gedreht hat, nochmals eine Fristverlängerung gewähren will. Die vorberatende Kommission hat entschieden, dass es keine Unterscheidung geben soll zwischen echten Notfällen und Bagatellen. Denn ein «solcher Ansatz hätte zu Rechtsunsicherheit geführt und die Arbeitslast des Medizinal- und Pflegepersonals erhöht».

Zahnloser Gesetzesentwurf

Stattdessen sieht der neuste Gesetzesentwurf vor, dass sich der Selbstbehalt eines Versicherten von normalerweise 700 Franken pro Jahr durch jede Konsultation in einer Spitalnotaufnahme um 50 Franken erhöht. Ob diese Massnahme die gewünschte Wirkung entfaltet, ist allerdings fraglich.

Der Selbstbehalt beträgt 10 Prozent der Krankheitskosten. Um auf den Maximalbetrag von 700 Franken zu kommen, ab dem die Notfallgebühr überhaupt relevant würde, muss ein Patient also medizinische Leistungen im Wert von 7000 Franken beziehen. Das tun die wenigsten – und jene, die es tun, sind meist im hohen Alter oder chronisch krank und medizinisch eng betreut.

Es sind kaum die Patienten, die abends um elf wegen eines Sonnenbrands oder eines Schnupfens im Spitalnotfall stehen.

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