Sonntag, November 24

Langweilig, bieder – und sehr beliebt. Der VW Golf zählt seit Jahrzehnten zu den meistverkauften Autos in Europa. Dabei stand das Konzept vor 50 Jahren auf der Kippe.

Es ist diese Klappe am Heck. Mit einer Hand lässt sie sich weit öffnen und gibt einen grossen Kofferraum frei – keinen Motorraum. Heute selbstverständlich, vor 50 Jahren ungewöhnlich. Denn Ende der 1960er Jahre rumpeln in Europa vor allem VW Käfer über die Strassen, fast ratternd tönt das typische Geräusch des Boxermotors im Heck. Ein Klang, den viele Autofahrer nicht mehr hören wollen. Heckmotor und Heckantrieb sind nicht mehr zeitgemäss, luftgekühlte Motoren werden immer weniger akzeptiert. Nach 30 Jahren Käfer-Monokultur ist die Technik heillos veraltet. Ein neues Modell muss her.

«Der erste Golf als Ablösung des Käfers hat bei VW eine neue Ära begründet und war sehr wichtig für das Unternehmen», sagt Stefan Bratzel, Professor für Automobilwirtschaft an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach. «Das war damals keine einfache Entscheidung, weil der Käfer lange sehr erfolgreich lief. Die Bedeutung für den drastischen Modellwechsel kann man gar nicht hoch genug einschätzen.» Und er fügt an: «Das zu schaffen, dazu noch ein neues Konzept in eine spannende, neue Form zu bringen und die DNA des Konzerns weiterzuführen, war auch aus heutiger Sicht ein echtes Wagnis.» Im Nachhinein hat VW vieles richtig gemacht.

Die Verantwortlichen in Wolfsburg planen nicht nur einen Käfer-Nachfolger, sondern gleich einen Neuanfang für die ganze Modell-Familie. Vor dem Golf erscheinen Passat und Scirocco. Rund sechs Jahre Entwicklungszeit investieren die Ingenieure für einen Generationswechsel des volumenstärksten und wichtigsten Modells. Verschiedene Ideen und etliche Prototypen entstehen, denn die Verantwortlichen sind sich nicht sicher, wohin die Reise gehen soll.

1967 präsentierte der Volkswagen-Chef Heinrich Nordhoff seinen Mitarbeitern 36 Prototypen – um sie direkt wieder wegzuschliessen. Er findet: «Der Stern des Käfers leuchtet unvermindert hell, und Sie können Tag für Tag selber beobachten, welche Lebenskraft in diesem Auto steckt, das man häufiger totgesagt hat als irgendeines jener Konkurrenzmodelle.» Erst nach dem Tod Nordhoffs 1968 ist für seinen Nachfolger Kurz Lotz der Weg frei für neue Ideen, wie die Entwicklungsaufträge (EA) 266 und 276.

Der EA 266 von 1969 stammt vom jungen Porsche-Ingenieur Ferdinand Piëch. Der Porsche-Enkel erhält aus Wolfsburg den Auftrag, einen Versuchsträger zu bauen. Sportlich soll der sein, dazu komfortabel, fahrsicher, geräumig und kompakt – die eierlegende Wollmilchsau. Der Ingenieur denkt typisch Porsche: Leistung ist durch nichts zu ersetzen. Piëch installiert einen wassergekühlten 1,6-Liter-Unterflur-Mittelmotor mit 100 PS, der den Prototypen 189 km/h laufen lässt. Das Konzeptfahrzeug kommt aber nicht gut an: zu teuer, zu sportlich, zu unpraktisch und zu anfällig. Der VW-Vorstand stoppt das Projekt 1971 – ein Jahr vor der von Porsche geplanten Markteinführung. Aber auch der EA 235a aus Wolfsburg fällt durch: Die Transaxle-Bauweise mit Vierzylinder-Frontmotor und Getriebe an der Hinterachse sorgt zwar für ein ausgewogenes Fahrverhalten – aber günstig produzieren lässt er sich nicht.

Praktisch, dass in Ingolstadt Audi mit dem Kauf der Marke NSU das Projekt K 50 in der Schublade schlummert. Der Nachfolger des NSU Prinz soll einen Reihenvierzylinder-Frontmotor mit Frontantrieb erhalten. Eine Idee, die auch den Niedersachsen gefällt. So tüfteln die Ingenieure ab 1969 mit dem EA 276 an einer ähnlichen Lösung. Unter der Fronthaube sitzt zwar noch ein umgedrehter Käfer-Boxer mit 1,5 Liter und 44 PS, der treibt aber schon die Vorderräder an. Dem Vorstand gefällt das Konzept, er will aber einen modernen Motor integriert haben – den wassergekühlten Frontmotor des NSU K 70 (EA 297). Nach der ersten Ölkrise 1973 erwarten die Kunden einen sparsamen Antrieb und auch andere Marken wie Fiat, Renault, Simca und Peugeot setzen auf die Technik.

Fehlt nur noch das passende Design. VW lädt 1970 den italienischen Designer Giorgetto Giugiaro von Ital Design ein. Der bricht bei seinem Entwurf mit dem runden Design des Käfers. Statt auf ausgestellte Kotflügel, winzige Scheiben und viele Rundungen setzt der Italiener auf flache Kotflügel, grosse Scheiben, gerade Flächen und scharfe Kanten. Dazu sorgen, entgegen dem damaligen Trend, eine breite C-Säule, ein breiter Türrahmen und eine breite Heckklappe optisch für Robustheit, Qualität, Bodenständigkeit und Solidität. «Der Golf wirkt quadratisch, praktisch und gut, aber nicht bullig – kein Wettbewerber konnte damals mithalten», sagt Paolo Tumminelli, Professor für Design-Konzepte an der Köln International School of Design.

Durch die für VW neuartige Motoranordnung über der Vorderachse bietet das neue Modell einen grossen Innenraum und einen üppigen Kofferraum, das ist für Käfer-Kunden neu. Dazu kommen die Verbundlenkerachse und der unter der umklappbaren Rücksitzbank angeordnete Tank. Der VW-Vorstand ist von den Ideen begeistert und bestellt gleich eine ganze Modellfamilie: Neben dem Golf entstehen aus Giorgio Giugiaros Hand auch das Kleid von Passat, Audi 50/VW Polo und Scirocco.

«Der Golf I ist aber kein idealer Wurf des Designers Giorgio Giugiaros. Er ist vielmehr von den Anforderungen von VW enttäuscht, weil er das Leistungsheft konservativ und das Endergebnis uninspirierend findet», erklärt Paolo Tumminelli. Giugiaro schwebt eine schnittigere Linie mit einer flacheren Windschutzscheibe vor, dazu zeitgemässe und eckige Scheinwerfer. Doch VW entscheidet sich aus Kostengründen für runde Scheinwerfer und aus Exportgründen für eine steilere Windschutzscheibe. Zwar wirkt dadurch die Form klobiger, der Golf erhält so aber auch einen eigenen Charakter. Zudem lassen die klassischen Scheinwerfer den Würfel sympathisch und einzigartig erscheinen.

Dennoch gibt es Anfang der 1970er Jahre eine grosse Unsicherheit bei VW. Nach dem Wechsel an der Konzernspitze sind sich die Verantwortlichen nicht sicher, ob sie mit dem neuen Golf wirklich die richtige Entscheidung getroffen haben. Parallel wird der Audi 50/VW Polo entwickelt. «Der erste Golf wird zum Lebensretter für VW. Er löst nicht nur den Käfer ab, sondern steht mit dem wassergekühlten Frontmotor auch für eine neue Generation von Automobilen», sagt Paolo Tumminelli. Im Innenraum herrschen noch nackter Kunststoff und lieblos vernähte Polster. Neu ist das nah am Fahrer orientierte, bedienerfreundliche Cockpit. Das ist in der Standardausstattung zwar leer, bietet gegen Aufpreis aber Platz für Drehzahlmesser und die Temperaturanzeige für das Kühlwasser.

Das Platzangebot ist auf 3,70 Meter Länge im Vergleich zum Käfer üppig, die Variabilität mit der umlegbaren Rückbank ergibt einen Kofferraum wie in einem Kombi. Dazu kommt ein sicheres und modernes Fahrwerk: vorne McPherson-Federbeine und Dreieckslenker, hinten eine Verbundlenkerachse mit Längslenkern, Schraubenfedern und Teleskopstossdämpfern. Für die Verzögerung sorgen anfangs rundum Trommelbremsen. Mit 8000 Mark ist der Golf nur 520 Mark teurer als der 1303-Käfer mit seiner veralteten Technik und kommt bei den Käufern schnell an.

Mit dem Golf ändert VW zudem sein Image – vom spiessigen Hersteller, der seit Jahrzehnten den ewig gleichen und alten Käfer und seine Derivate baut, zu einem Vorreiter im Bereich Design, Qualität und Technik. Selbst ausserhalb Deutschlands wie in Frankreich und Italien wird der Wagen schnell beliebt. «Der Golf läutet eine neue Ära ein, entwickelt sich zum Bestseller», sagt Paolo Tumminelli. «Er wird ein Symbol für ein neues, modernes Europa, später zum Synonym für Kompaktwagen.»

Denn der Golf ist nicht nur anders und moderner als der Käfer, er repräsentiert vor allem die Wünsche von Durchschnittskunden. «Mit einem Golf spricht VW unterschiedliche Käuferschichten an, ähnlich wie beim Käfer, und macht ihn damit zum klassischen Volkswagen. Das ist Teil des jahrzehntelangen Erfolges», sagt Stefan Bratzel. Wer einen Golf fährt, leistet sich bezahlbare Technik, die auf der Höhe der Zeit ist.

Wie sehr die Kunden bereit sind, das Geld zu investieren, sehen die Manager schon bald. Im Oktober 1976 feiert VW den einmillionsten Golf, ab 1975 auch als Golf GTI und ab 1979 eine Cabrio-Version. Bis zur Ablöse durch den Golf II 1983 werden 6,24 Millionen Fahrzeuge verkauft. Mit dem Golf II führt VW unter anderem Katalysator, ABS und Allrad im Golf ein. 6,3 Millionen Kunden greifen zu. 1991 läuft die dritte Generation des Golfs von den Bändern: grösser (auch als Kombi), moderner und mit Airbags und Tempomat auch sicherer. Insgesamt entstehen 4,8 Millionen Autos.

Im Sommer 1997 folgt die vierte Generation mit 4,1 Meter, aber auch mit ESP, Direkteinspritzung und DSG. Rund 4,9 Millionen Kunden entscheiden sich für den Kompakten. 2003 kommt der Golf V auf den Markt: steifer, komfortabler und stärker. 3,4 Millionen Autos verkauft VW von der Generation.

Schon 2008 folgt die sechste Generation, erstmals mit Knieairbag und adaptiver Fahrwerksregelung. Innerhalb von vier Jahren entstehen 3,6 Millionen Autos. Zwischen 2012 und Ende 2023 baut VW den um 100 Kilogramm leichteren Golf VII, der sich 6,3 Millionen Mal verkaufte. Der VW Golf ist ein Phänomen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten weiter verändert hat. «Nach wie vor hat das Fahrzeug eine grosse Bedeutung für Volkswagen, auch wenn viele weitere Baureihen hinzukamen», sagt Stefan Bratzel. Auch für die Zukunft kann er sich die Markenikone vorstellen, dann mit reinem Elektroantrieb.

VW und Giugiaro gelingt mit dem Golf I ein Objekt für die Gross-Gross-Gross-Serie. Innerhalb von acht Generationen entstehen bis Ende 2023 rund 37 Millionen Golf. Auch wenn der Golf für VW eine Revolution darstellt, für die Automobilgeschichte ist er keine. «Es ist vielmehr eine Kombination aus verschiedenen Innovationen, die den Golf heute noch einzigartig und zu einer Ikone machen», sagt Paolo Tumminelli. Der Golf I wird zum Vorbild einer neuen Automobilform weltweit, zum Standard neuer Kompaktwagen. Viele Modelle aus der damaligen Zeit sind verschwunden – nicht so der VW Golf. Happy Birthday.

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