Montag, November 25

Eine unglückliche Millionärin in Zürich, ein Mordfall in Basel und eine Reise in das türkische Heimatdorf: Sechs Autorinnen und Autoren vermessen in ihren Büchern das Land neu.

Julia Kohli erzählt mit bissigem Humor von der Emanzipation einer facettenreichen Protagonistin zwischen Zürich und Warschau.

«Die Cellulite-Katastrophe», so wurde die Multimillionärin Matylda Żelichowska von der Presse betitelt. Nachdem solche abwertenden Kommentare über ihren Körper in der Öffentlichkeit zirkuliert waren, liess sie sich Fett absaugen, kaufte sich ein Rudergerät und begann, Kalorien zu zählen. Ihre Beine zeigte sie trotzdem nie wieder bei Tageslicht. Einige Jahre später erleidet Matylda an einer Vernissage einen Zusammenbruch, und es wird deutlich, wie sehr sie der Vorfall noch immer beschäftigt. «Dieses Beschämen . . . es sticht mitten in den Kern deines Wesens, dort wo du eigentlich mit dir im Reinen bist.»

Die Schweizer Autorin und Journalistin Julia Kohli erzählt wortgewandt und einfühlsam von den Bestrebungen einer vielschichtigen Heldin, ihr inneres Wohlgefühl wiederzufinden. Der Roman geht der Frage nach, was im Leben wirklich wichtig ist und wie man mit sich selbst ins Reine kommt, und das mit viel Witz und einer gehörigen Portion Gesellschaftskritik.

Matylda führt auf den ersten Blick ein aufregendes Leben. Als junge Frau hat sie einen Schweizer geheiratet und für ihn ihre Heimat Polen verlassen. Auch nach der Scheidung bleibt sie in Zürich und geniesst einen luxuriösen Lebensstil, bis die unvorteilhaften Fotos sie zutiefst erschüttern. Sie kehrt dem Reisen und ihren Freunden den Rücken zu und verkriecht sich in ihrer Wohnung. Wenn ihre Freundin Antonia sie dazu drängt, sich unter die Menschen zu mischen, verstellt sich Matylda, hält ihre Maske perfekt. Sie lächelt im richtigen Moment, erklärt ihren geringen Appetit mit einem Reizdarmsyndrom und betätigt sich nicht ohne Belustigung philanthropisch im Kunstbereich.

Aber «irgendwo unter uns tanzen sie alle im Dunkeln, unsere wahren Identitäten». Unter Matyldas Fassade verbergen sich Einsamkeit und selbstkritische Verletzlichkeit, die sich in Ess- und Schlafstörungen niederschlagen und auf Dauer nicht verleugnen lassen. Der Zusammenbruch lässt sie auffahren. Um herauszufinden, wie sie zu dieser privilegierten, aber gelangweilten Frau wurde, reist sie in ihr Heimatland zurück. In Warschau beginnt Matyldas Suche nach Emanzipation und Identität.

Julia Kohli gelingt es in ihrem neuen Roman, mit scharfem Witz das Porträt einer Multimillionärin zu zeichnen, deren materieller Reichtum mit einer sozialen und emotionalen Erschöpfung kontrastiert. In ihrer klaren Sprache legt sie die Auswirkungen des drastischen Eingriffs in die Privatsphäre auf die physische und psychische Verfassung der Verletzten offen. Kohlis leichter Schreibstil ist von einer sanften Eleganz geprägt, die dem Werk eine poetische Note verleiht und stellenweise von einer zeitgeistig-modernen Wortwahl durchbrochen wird. Das kontrastfarbige Zusammenspiel lässt beschriebene Übergriffigkeiten umso nachdrücklicher wirken: «Und ich, Matylda Żelichowska, hatte dabei geglüht und die nächsten zehn Jahre von seinen Worten gezehrt, als wären sie Ambrosia. Eine Molluske ohne Rückgrat war ich, abhängig von grössenwahnsinnigen Wichten, die mir im Gesicht herumfummelten.»

Sprachgewaltig beleuchtet die Autorin die Objektivierung und Sexualisierung der Frau in der patriarchalen Gesellschaft und kombiniert den empörten feministischen Unterton mit stiller Ironie. Auch vor dem affektierten Kunstbetrieb und dem Schweizer Bünzlitum macht der unterhaltsame Roman nicht halt. Wie im wahren Leben wird dabei nicht jeder Handlungsstrang zu einem Abschluss gebracht, sondern einiges der Vorstellung der Leserschaft überlassen. Mit ihrem neuen Werk ist Julia Kohli ein fesselnder Roman gelungen, der einen zum Schmunzeln und Nachdenken bringt. Ein Muss für alle, die sich von der Geschichte einer geistreichen Multimillionärin in ihrer Ruhe stören lassen wollen.

Von Rahel Löliger

Gesellschaft: Die geistreiche Millionärin

«Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung» von Julia Kohli

Lenos 2024. 294 Seiten, um 30 Franken, E-Book 21 Franken.

Eine Studentin arbeitet den Sommer über als Landwirtschaftshilfe. Lorena Simmel nimmt uns mit in die Strukturen der Saisonniers.

Nebel, der sich langsam verzieht, blauer Himmel, die unerbittliche Sonne, die auf die Felder und die Arbeiterinnen herunterscheint. Dort, im Schweizer Seeland, liegt Ferymont, liegt der Ausgangspunkt von Lorena Simmels Debütroman. Darin erzählt die Freiburgerin die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Studium in Berlin unterbricht, um in der Region, in der sie aufgewachsen ist, als Landwirtschaftshilfe zu arbeiten: in der Tabakfabrik, auf Erdbeerfeldern, in den Hühnerhallen, zusammen mit Saisonniers, zu denen sie auch Freundschaften knüpft. Zum Beispiel Daria. Mit ihr verstrickt sie sich in Gespräche über Herkunft, Arbeit, Familie.

Wie sich in der Region der Nebel lichtet, so tut er das auch bei Simmel. Die Erzählerin hat zu Beginn eine verklärte Vorstellung von der Arbeit auf den Feldern, doch diese weicht bald der harten Realität. Sie trifft Gastarbeiterinnen, die gute Ausbildungen haben, die ihre Familien zurücklassen, um Geld zu verdienen. Deren Schicksal bleibt wegen der Abgebrühtheit der Ich-Erzählerin jedoch blass. Simmel erzählt sachlich und verwendet viel Zeit darauf, zu beschreiben, welche Kleider die Figuren tragen. Eine Sekretärin, die nur auf einer Seite erscheint, trägt «eine weisse Bluse und einen helltürkisfarbenen Pullunder aus dünner Wolle». Viele Beschreibungen erscheinen überflüssig, die kurzen Porträts zusammenhangslos.

Eine fehlende Verbindung wird auch in der Distanz zwischen der Ich-Perspektive und der abgebrühten Erzählweise spürbar. Die Ich-Position passt nicht zum nüchternen Beobachten. Während des ganzen Romans äussert die Erzählerin nie Gedanken oder Meinungen. So erfahren wir kaum, wie sich die Diskrepanz zwischen der Arbeit und ihrem Leben in Berlin anfühlt. Als ein Arbeitskollege sie nach einem Wochenende fragt, wie es in Berlin gewesen sei, antwortet sie nur: «Seltsam. Aber auch gut. Aber auch seltsam.» Durch diese Unnahbarkeit und die lose Zusammensetzung der Figuren und Handlungselemente fehlt eine Entwicklung. Man folgt der Protagonistin in ihrer repetitiven, etwas eintönigen Arbeit.

Stark ist der Roman dann, wenn er Arbeitsabläufe beschreibt – oft mit einer Körperlichkeit, die ungewohnt ist. Dann werden Menschen zu Maschinen. Beispielsweise in einer Szene, in der Hühner aus der Massentierhaltung in Kisten verpackt werden, um zum Schlachthof gefahren zu werden. Die Erzählerin sieht die Hühner als «weisse Masse», als eine «riesige Fläche, die wie eine über den Hallenboden ausgeleerte dicke Flüssigkeit» aussieht. «Nach einer Weile bewegte sich mein Oberkörper wie ein Pendel. Für Momente dachte ich an nichts.» Solche Beschreibungen stehen in der Tradition des nüchternen naturalistischen Erzählens.

Alles in allem ist «Ferymont» ein Roman, der genau hinschaut und beobachtet, der aber auch unter der Distanz und dem abgeklärten Blick der Erzählerin leidet. Während die vielen Beschreibungen helfen, sich Szenen besser vorzustellen, fragt man sich, ob es wirklich so viele Details braucht, um auf die Unterschiede zwischen den porträtierten Klassen aufmerksam zu machen. Simmel gelingt der Spagat zwischen Beobachtung und Botschaft nicht immer. Der Roman wird zu einer interessanten Feldstudie, nicht aber zu einer unterhaltsamen Lektüre.

Von Michelle Harnisch

Debüt: Auf den Feldern des Seelandes

«Ferymont» von Lorena Simmel

Verbrecher Verlag. 176 Seiten, um 33 Franken, E-Book 14 Franken.

Lukas Holliger versetzt die Leser ins Basel der 1980er Jahre. Sein politischer Roman ist ein Page-Turner.

Lukas Holligers Roman erinnert an George Orwells Klassiker «Animal Farm». In «1983. Verfluchte Hitze» spielt Holliger nämlich fast so geschickt wie Orwell mit dem Stilmittel der Satire. So entsteht eine humorvolle und gut geschriebene Erzählung.

Zwar sind Holligers Charaktere keine Tiere, doch geht der Protagonist gerne in den Zoo, um dort die Affen zu beobachten. Ein Affe ist eine neugierige, aufgeweckte und verspielte Kreatur – befindet er sich jedoch hinter Gittern, verblassen Neugier und Lebensfreude schnell. Der Affe passt sich der neuen Lebenssituation an und verwandelt sich in einen Schatten seiner selbst. Hier scheint Holliger ein Sinnbild der Menschheit zu malen. In der Umgangssprache repräsentiert der Affe aber auch einen Trottel. Metaphorisch verstanden, macht der Autor die Menschheit also regelrecht zu Trotteln.

Im Mittelpunkt des Romans steht Heiner Glut, ein Kriminalkommissar mittleren Alters, der schon an seinem ersten Tag bei der Basler Polizei den Wald mit einem weggeworfenen Zigarettenstummel abfackelt. Nebst dem verbockten Start in den neuen Arbeitsalltag leidet Glut auch unter den täglichen Hitzerekorden. Alle schwitzen, haben rote Köpfe, können sich kaum konzentrieren – auch die Ventilatoren funktionieren nicht –, und der Kalte Krieg, in dem sich die Welt befindet, droht auch in der Schweiz immer heisser zu werden.

Als Kommissar Glut zusammen mit seinen Arbeitskollegen in einer Riehener Villa auf einen brutal hingerichteten Mann stösst, wird alles nur noch brenzliger – denn das Opfer ist Russe. Die historische Kulisse ist gut gewählt. 1983 war eines der gefährlichsten Jahre des Kalten Krieges – was Holliger mit seinen Hitzeanekdoten unterstreicht. So «glühen» die Telefonleitungen, die Welt (so wie der Wald) «brennt», Protestierende kämpfen mit «frisiertem Benzin», und der Fall, mit dem sich Glut auseinandersetzen muss, ist «heisser» als alle anderen.

Tag für Tag werden Hitzerekorde gebrochen, die Menschen halten das Klima fast nicht mehr aus und finden nirgends Zuflucht. Die Hitze, auf die im Buch oft angespielt wird, symbolisiert die bevorstehenden Atomwaffenversuche treffend. Auch jongliert der Theaterautor Holliger überzeugend mit den Gegensätzen von heiss und kalt. So befindet sich Glut mit einem «kalten» Team inmitten eines «heissen» Falles, in dem von allen Involvierten nur das Mordopfer einen «kühlen Kopf» zu bewahren scheint. Ebenso finden sich Anspielungen auf die Kommunisten («rote Socken») und deren Spione, die aber blau gekleidet sind.

Holligers Werk zeigt durchaus Parallelen zur Gegenwart. Russland ist wieder bedrohlicher geworden, die Schweizer Neutralität wird von den Bürgern infrage gestellt, und die Angst vor einer weltzerstörenden nuklearen Auseinandersetzung ist zurück. Die Anspielung auf das «menschliche Trotteltum» durch das Symbol des Affen greift auch auf der politischen Ebene. Politik beeinflusst unsere Realität so sehr, dass es manchmal schwierig ist, das Reale vom Fiktiven zu trennen. Glut muss dies auch lernen, da «sein» Todesfall politisch verheerende Folgen nach sich ziehen könnte.

Lukas Holligers Roman überzeugt auch durch einen leichten, fliessenden Schreibstil und lebendige Charaktere. Seine Sätze sind kurz und knackig, und in den Dialogen wird Holligers Erfahrung als Dramatiker bemerkbar. Trotz den vielen Charakteren und dem anfangs häufigen Perspektivenwechsel ist «1983» ein Page-Turner. Ich fieberte eifrig mit und fühlte mich durch die akkuraten Beschreibungen mitten ins Basel der 1980er Jahre versetzt.

Von Lia Marti

Kriminalroman: Zeitreise in die Schweiz des Kalten Krieges

«1983. Verfluchte Hitze» von Lukas Holliger

Rotpunkt 2024. 224 Seiten, um 30 Franken, E-Book 23 Franken.

Sein Vorfahr war ein Sklavenhalter. Nun schreibt Daniel de Roulet die grausame Geschichte neu – in Versform.

Wie geht man damit um, wenn man erfährt, dass der eigene Vorfahr ein sklavenhaltender Despot war? Diese Frage hat sich der Schriftsteller Daniel de Roulet gestellt, als er von seinem Vater einen Goldstich seines Ahnen, des Marquis Jacques-André Lullin de Châteauvieux, erhielt. In «Die rote Mütze» rekapituliert de Roulet aber nicht dessen Geschichte, sondern die seiner Untergebenen. Denn Châteauvieux, Angehöriger des Genfer Patriziergeschlechts, besass ein Regiment von Söldnern, welches infolge der Französischen Revolution eine Meuterei in Nancy anzettelte. Ihnen wurde der rechtmässige Lohn verweigert, wobei dem Regiment 230 000 Pfund geschuldet wurden.

De Roulet hat bei der Recherche die Schritte der Söldner zurückverfolgt, von Meillerie am Genfersee über Clarens bei Montreux bis nach Paris, Nancy, Brest und Irland. In Brest findet er in einer Strafanstalt die Namen der verurteilten Söldner, unter anderem den Namen Samuel Bouchaye. Bouchaye, ein 19-jähriger Schreiner aus Genf, ist es, den die Leserin durch die Erzählung begleitet. Als Sohn eines Revolutionärs wächst er in seiner geliebten Heimat Genf auf, bis die Konterrevolution Vater und Sohn zu den Savoyarden drängt. Infolge unglücklicher Wendungen tritt Bouchaye ins Regiment von Châteauvieux ein, mit dem er quer durch Frankreich reist, in Paris den Sturm auf die Bastille miterlebt und einen Abstecher in die Bretagne macht, wo er eine rote Häftlingsmütze aufgesetzt bekommt.

«Die rote Mütze» ist ein gelungenes Experiment in der Auf- und Verarbeitung grausamer Familiengeschichten. De Roulet erwähnt seinen Vorfahren Lullin de Châteauvieux nur am Rande und fokussiert entschieden auf die Affären der einundvierzig Söldner, die in ihrer Dienstzeit zum Teil ihr Leben und ihre Ehre verloren.

Obwohl die Ereignisse im Roman fiktiv sind und nur die Namen und einzelne Schicksale, wie das von André Soret, historisch belegt, sind de Roulets Beschreibungen lebhaft und fesselnd. Er berichtet vom einjährigen Jubiläum der Stürmung der Bastille, vor allem aber vom stürmischen Wetter. «Warum dieser masslose Jubel? Warum diese albernen Freudenausbrüche?», fragt sich Bouchaye, der die Feierlaune als schweisstriefender Fahnenschwenker kaum nachvollziehen kann.

Neben den Söldnern ist auch der Genfersee mit seinen Winden ein Protagonist des Romans. Samuel Bouchaye verliert sich in Erinnerungen an den «Wasserspeicher des Kontinents», welchen er sehnsüchtig wiederzusehen wünscht. «Er schliesst die Augen und glaubt in der Ferne das Heulen der schwarzen Bise zu hören», heisst es, als Bouchaye, umgeben von Feierlichkeiten der Revolution in Paris, nichts mehr als den Lac Léman vor sich zu sehen wünscht.

Die politischen Implikationen des Verlusts des Sees an machthungrige Tyrannen spiegeln sich in den Gesprächen mit Waadtländern in Paris, welche den See ebenso vermissen wie er. Der Genfersee steht für die Heimat, für das Wilde und die Grenzenlosigkeit, die die Revolutionäre bei Jean-Jacques Rousseau aufgeschnappt haben. De Roulet verflicht die brandgefährlichen Lehren der Revolution in den Wirbelwind des Genfersees. Die Liebe zum Gewässer verstärkt, wofür die Söldner kämpfen.

Wiederum beweist der Genfer Daniel de Roulet sein Talent fürs Erzählen historischer Geschichten, wobei seine langjährige Übersetzerin, Maria Hoffmann-Dartevelle, seine Figuren für das deutschsprachige Publikum meisterhaft aufs Blatt bringt. «Die rote Mütze» ist in Versen verfasst und liest sich an gewissen Stellen wie eine Elegie, an anderen wie eine Lobeshymne. Auf knapp 160 Seiten verleiht de Roulet den von der Geschichtsschreibung Vergessenen und von der Gesellschaft Unterdrückten eine Stimme und den Lesenden mit dem letzten Satz eine Gänsehaut.

Von Philippa Smith

Historischer Roman: Die Freiheit, zum Greifen nahe

«Die rote Mütze» von Daniel de Roulet

Übersetzt von Maria Hoffmann-Dartevelle. Limmat 2024. 168 Seiten, um 30 Franken, E-Book 25 Franken.

Gianna Olinda Cadonaus Roman «Feuerlilie» erweist sich als verpasste Gelegenheit.

«Feuerlilie» präsentiert sich auf dem Umschlag als Roman. Doch bereits nach wenigen Seiten wird klar: Dieses Buch sprengt die Konventionen dieses Genres, denn es weist weder eine «Fülle von Ereignissen» noch eine tiefgehende «Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen» auf, wie es die Definition des Romans erwarten lässt. Der Anfang weckt Erwartungen: Vera trifft in einem Zug auf einen jungen Fremden, einen ehemaligen Soldaten, der ein Haus von seinem Offizier geerbt hat. Dort versucht er, seine Kriegstraumata zu überwinden, doch seine psychischen Belastungen äussern sich in bedrohlichen Halluzinationen: Zwei Pumas verfolgen ihn und lassen keinen Frieden zu. Vera, die ebenfalls ihrem Alltag in der Stadt entfliehen möchte, zieht sich in das Haus ihrer Eltern zurück.

Die Lesenden hoffen auf eine sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Vera und dem Fremden, Kálmán. Doch diese Erwartung wird nicht erfüllt. Stattdessen verliert sich die Autorin in detaillierten Alltagsbeschreibungen, die eher an ein Nature-Writing erinnern. Landschaften, Bäume, Wälder und Häuser dominieren die Erzählung.

«Wir sitzen schweigend. Wahrscheinlich könnten wir lange so dasitzen und schweigen und nichts tun, das geht mit ihm, es ist, als ob wir dem Denken des anderen zusähen oder zuhörten und das genügte.» Die Handlung bleibt minimalistisch, Schweigen ist ein zentrales Motiv: Vera und Kálmán lernen sich schweigend kennen. Sie gehen nebeneinander her und schweigen, stellen wenige Fragen und geben kaum Antworten. Dieses Schweigen verhindert eine tiefere Verbindung zwischen den beiden. Es ermöglicht der Autorin jedoch innere Monologe in wechselnden Perspektiven.

Inhaltlich bleibt das Buch also in Grenzen. Es scheint, als ob Cadonau viele Ideen einfliessen lassen wollte, doch diese werden nicht überzeugend vermittelt. «Am nächsten Morgen sind die Pumas immer noch da. Jetzt verstehe ich sie, ihr Knurren, das Zähnefletschen, wie ihr Rücken sich spannt. Sie meinen es ernst. Ich darf jetzt nicht nach unten schauen. Noch halten sie es in Schach. Sie sehen es kommen, das Erinnern, spüren den Sog. Nicht nach unten. Schauen. Nicht.» Die Pumas und die Türen stehen wohl für Kálmáns Kriegstraumata, als Manifestation seiner psychischen Belastungen und Ängste. Dennoch bleibt die symbolische Ebene zu vage und oberflächlich, da die Verbindung zwischen den Symbolen und der Handlung nicht klar genug herausgearbeitet ist.

Die Sprache Cadonaus, die sowohl auf Deutsch als auch auf Rätoromanisch schreibt, ist einfach und nüchtern. Was das Lesen jedoch erschwert, sind die kurzen Sätze ohne Konjunktionen. Die Aneinanderreihung von Wörtern ohne Verben, ohne «und» oder «aber» sorgt für eine abgehackte und fragmentierte Leseerfahrung. Besonders in den Abschnitten aus Kálmáns Perspektive treten diese kurzen Sätze auf. Als Darstellungsform für die innere Zerrissenheit findet die holprige Sprache eine gewisse Berechtigung. Allerdings weckt die ständige Unterbrechung die Sehnsucht nach ausführlicheren, flüssigeren Sätzen. Der Wunsch, tiefer in die Geschichte einzutauchen und eine stärkere emotionale Verbindung zu den Charakteren aufzubauen, wird nicht erfüllt.

Trotz den Bemühungen, ins Innere der Charaktere einzutauchen, mangelt es der Geschichte an Tiefe und Spannung. Die minimalistischen Handlungselemente und die fragmentierte Sprache von «Feuerlilie» lassen die Lesenden in einer Melancholie zurück, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Von Eda Karkin

Debüt: Zwischen Pumas und verschlossenen Türen

«Feuerlilie» von Gianna Olinda Cadonau

Lenos 2023. 172 Seiten, 30 Franken, E-Book 18 Franken.

In ihrem Debütroman unternimmt Özlem Çimen eine ebenso intime wie universelle Reise in die Vergangenheit.

Özlem Çimens neuer Roman «Babas Schweigen» entführt die Leserinnen und Leser auf eine emotionale Reise zu den Geheimnissen einer türkischen Familie. Die in der Schweiz lebende Autorin erzählt aus postmigrantischer Perspektive und fungiert selbst als Protagonistin ihrer Geschichte, indem sie sich mit der Vergangenheit ihres Vaters und der Grosseltern konfrontiert.

Der autobiografische Roman beginnt im Jahr 2022 mit der Frage von Çimens vierjähriger Tochter, wann sie denn endlich die Aprikosenbäume sehen dürfe. Diese unschuldige Frage löst eine Kette von Erinnerungen und Reflexionen aus. Çimen beschreibt mit grosser Sorgfalt die sommerlichen Besuche in ihrem Heimatdorf in der türkischen Provinz Erzincan, die Freuden und Ängste der Kindheit sowie die unausgesprochenen Tragödien, welche die Familiengeschichte prägen. Dabei springt die Erzählung zwischen drei Zeitebenen hin und her. Zuerst ist die Erzählerin selbst noch ein Kind, auf der zweiten Zeitebene ist sie schwanger und besucht mit ihrem Mann die Türkei, und auf der dritten Zeitebene reist Çimen mit ihren beiden Kindern ins Dorf. Die Rückblenden sind nicht nur nostalgisch, sondern enthüllen auch die sozialen und politischen Spannungen, die das Leben im Dorf prägen. Diese Spannungen wurzeln im Genozid an den Armeniern, in der Türkifizierung und der latenten Angst vor Konflikten zwischen sunnitischen und nichtsunnitischen Menschen.

Ein zentrales Thema des Buches ist das Schweigen. Die Grosseltern und die Eltern haben nie offen über die Gründe gesprochen, warum sie in das Dorf gezogen sind, und dieses Schweigen hat in der Familie eine Kluft hinterlassen. Erst als Erwachsene beginnt die Erzählerin, die Leerstellen zu füllen und sich der schmerzhaften Wahrheit zu stellen: Ihre Familie gehörte ursprünglich einem zazaischen Stamm an und wurde aus ihrem Heimatort in Dersim vertrieben. Infolge der Türkifizierung wurden sie zu Mittätern am Genozid an den Armeniern. Çimen zeigt, wie das Schweigen über Generationen hinweg die Identität und das kulturelle Erbe einer Familie beeinflussen kann und wie das Verschweigen dieser traumatischen Ereignisse eine Quelle anhaltenden Schmerzes und der Entfremdung ist.

Çimens Werk ist durch einfache und leichte Sätze geprägt. Diese wenig anspruchsvolle Sprache verleiht dem Buch zwar eine gewisse Leichtigkeit, schafft es jedoch nicht immer, die Tiefe und Tragweite der behandelten Themen angemessen zu erfassen. Darüber hinaus bleiben einige Charaktere und ihre Motivationen unklar, was die emotionale Bindung an die Figuren schwächt. Çimen wechselt oft zwischen den einzelnen Szenen und lässt die Leser an ihren Denkprozessen teilhaben. Mit zahlreichen, nicht immer gelungenen Gedankensprüngen versucht sie, die Familiendynamik und die Bräuche ihrer Kultur zu vermitteln. Jedoch wirken die Themenwechsel und geistigen Brüche teilweise ungeordnet, wodurch die narrative Struktur auseinanderfällt.

«Babas Schweigen» hätte durch eine intensivere und detailliertere Auseinandersetzung mit den schwierigen Themen einen noch nachhaltigeren Eindruck hinterlassen können. Trotz der ausbaufähigen Schreibweise nimmt einen das Buch jedoch auf eine bewegende Reise mit, die sowohl intim als auch universell ist. Çimen betont die Notwendigkeit, das Schweigen über die Vergangenheit zu brechen. Die Tiefe und Tragweite dieses Ansatzes werden zwar nicht vollständig ausgeschöpft, aber gerade dadurch wird die Anregung des Buches, über die unausgesprochenen Geschichten in der eigenen Familie nachzudenken und sich aktiv mit ihnen auseinanderzusetzen, noch bedeutender.

Von Ceyda Ozan

Zeitgeschichte: Reden wir über Familiengeheimnisse

«Babas Schweigen» von Özlem Çimen

Limmat 2024. 120 Seiten, um 29 Franken, E-Book 25 Franken.

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