Das grösste Verteidigungsbündnis der Welt feiert sein 75-jähriges Bestehen – und fürchtet sich vor der Rückkehr seines lautesten Kritikers.
Joe Biden war sechs Jahre alt, als die Nato ins Leben gerufen wurde. Der amerikanische Präsident ging in Scranton, Pennsylvania, zur Schule, während in Washington am 4. April 1949 die Vertreter von zwölf Staaten den Nordatlantikvertrag unterzeichneten.
75 Jahre später ist Biden Gastgeber für den Nato-Jubiläums-Gipfel in der amerikanischen Hauptstadt. Das grösste Militärbündnis der Welt ist mittlerweile auf 32 Mitgliedstaaten angewachsen. Es gibt Gründe, zu feiern. Historische Erfolge wie den Triumph über die Sowjetunion im Kalten Krieg und die Befreiung der Länder des ehemaligen Ostblocks.
Doch es gibt auch Sorgen. Zum Beispiel die, ob der Ausrichter des Gipfels überhaupt in der Lage ist, diesen zu überstehen. Biden ist physisch und mental angezählt. Das lässt Zweifel an der Autorität der Führungsmacht aufkommen, und es ist nichts, was die Nato in diesen Tagen gebrauchen kann.
Jede Mengen Herausforderungen
Bidens Herausforderer Donald Trump steht schon in den Startlöchern. Der Republikaner macht kein Hehl aus seiner Abneigung gegenüber der Nato und seinem Unwillen, Kiew weiter zu unterstützen. Dabei zeigen gerade die jüngsten Luftangriffe Russlands, wie dringend die Ukraine auf westliche Militärhilfen angewiesen ist.
Die Augen der Staats- und Regierungschefs, die sich von Dienstag an für drei Tage in Washington versammeln, werden also genau auf den greisen Gastgeber gerichtet sein. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wird auch erwartet. Und weil die USA wollen, dass sich die Nato mehr mit China beschäftigt, wurden ausserdem die Vertreter der vier asiatisch-pazifischen Partnernationen Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea eingeladen.
Welche Fragen werden das Spitzentreffen bestimmen, das ein letztes Mal vom norwegischen Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg orchestriert wird, bevor der Niederländer Mark Rutte am 1. Oktober das Amt übernimmt? Ein Überblick.
1. Kann die Ukraine mit einer Beitrittseinladung rechnen?
Selenski drängt seit langem darauf, aber er wird wohl wieder keine offizielle Einladung zum Nato-Beitritt erhalten. Vor allem die USA und Deutschland bremsen in der Frage. Schon beim letzten Nato-Gipfel in Vilnius 2023 speiste man die Ukraine mit dem Versprechen ab, dass das Land beitreten könne, sobald die «Voraussetzungen erfüllt» seien. Um Kiew dieses Mal etwas mehr zu bieten, ist die Rede von einer «Brücke zur Mitgliedschaft».
Gemeint ist mit der Metapher, dass man die Ukraine noch näher an die Nato heranführen will. Der Weg in die Allianz soll «unumkehrbar» sein. Doch Papier ist geduldig. Die Wahrheit ist, dass mehrere Nato-Verbündete den Zeitpunkt für einen Beitritt schlicht für verfrüht halten.
2. Werden die Nato-Staaten Kiew mehr Waffen liefern?
Wichtiger als ein konkretes Beitrittsdatum sind ohnehin Zusagen für neue Waffenlieferungen. Dass Russland die Ukraine am Montag mit den schwersten Luftangriffen seit langem überzog, zeigt den Ernst der Lage. Die Verbündeten werden Selenski versprechen, im kommenden Jahr mindestens 40 Milliarden Euro an Militärhilfe zur Verfügung zu stellen.
Am meisten benötigt die Ukraine derzeit Flugabwehrsysteme. Im Vorfeld des Gipfels hiess es, dass unter anderem Rumänien und die Niederlande jeweils ein Patriot-System liefern wollen, zusätzlich zu den bereits bestehenden fünf ukrainischen Batterien. Auch aus Israel könnten bald alte Patriots geliefert werden.
3. Wie halten es die Alliierten mit dem Zwei-Prozent-Ziel?
Auch über die nationalen Rüstungsausgaben wird weiter debattiert werden. Stoltenberg gab jüngst bekannt, dass im laufenden Jahr 23 von 32 Nato-Staaten das Ziel erreichen, zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in die Streitkräfte zu investieren. Vorreiter sind die baltischen Staaten und Polen, das inzwischen sogar die Vier-Prozent-Marke anpeilt.
Die statistischen Erfolge (die mitunter auf Buchhaltungstricks zurückgehen) könnten ein Mittel sein, Trump zu beeindrucken. Dieser hatte sich in der Vergangenheit immer wieder darüber beschwert, bei der Lastenteilung von den Alliierten «übers Ohr gehauen zu werden».
4. Ist die Nato gewappnet für Trump 2.0?
Trump wird in Washington der sprichwörtliche «Elefant im Raum» sein. Viele Verbündete verdrängen die Aussicht auf eine zweite Amtszeit des Republikaners, der einen Rückzug amerikanischer Truppen aus Europa in Aussicht stellt. Wären die Europäer in der Lage, sich konventionell zu verteidigen? Welche Fähigkeiten müssten sie neu aufbauen?
Immerhin: Einen nuklearen Schutzschirm würde es wohl weiter geben. Und dass die USA ihre Nato-Mitgliedschaft aufkündigen, ist extrem unwahrscheinlich, schliesslich hat der amerikanische Senat mit der National Defense Authorization Act selbst eine Notbremse geschaffen. Ohne eine Zweidrittelmehrheit kann danach kein Präsident das westliche Bündnis verlassen.
5. Wird der Westen auch im Indopazifik verteidigt?
Als möglicherweise grösste Herausforderung des Bündnisses in der Zukunft gilt nicht Russland, sondern China. Die USA drängen auf eine klare Position gegen Peking, doch Länder wie Frankreich oder Deutschland sind skeptisch. Sie glauben eher, dass Amerika das Bündnis für den wirtschaftlichen Machtkampf mit Peking missbrauchen könnte und der Konflikt mit China nicht militärisch aufgeladen werden sollte.
Dabei spielt China nicht zuletzt wegen seiner Waffenlieferungen an Russland im Ukraine-Krieg eine kritische Rolle, die den sicherheitspolitischen Interessen des Westens widerspricht. Sicher ist, dass der Ton gegenüber Peking in der Gipfelerklärung noch einmal schärfer wird.

