Interne Untersuchungen zeigen, dass die israelischen Streitkräfte die Hamas während Jahren unterschätzten und Warnsignale missachteten. Einen Angriff von dieser Grössenordnung hielten sie schlicht für unrealistisch.
Wo ist die Armee? Diese Frage stellten sich Tausende Israeli, die am 7. Oktober 2023 in ihren Häusern rund um den Gazastreifen ausharren mussten, während die Terroristen der Hamas in dem Gebiet scheinbar ungehindert wüteten, 1200 Menschen ermordeten und 251 weitere verschleppten. Am Donnerstag haben die israelischen Streitkräfte (IDF) nun ihren lange erwarteten Untersuchungsbericht zum schwärzesten Tag in Israels Geschichte vorgestellt.
In den vergangenen Monaten haben die IDF laut eigenen Angaben Zehntausende von Arbeitsstunden investiert, um die Geschehnisse aufzuarbeiten. Die Auswertung zeigt, dass die Armee nicht nur am 7. Oktober kolossal scheiterte, sondern auch in den Wochen, Monaten und Jahren vor dem Massaker die Gefahrenlage unterschätzt hatte.
Die Gaza-Division der Armee war «besiegt»
Laut dem Bericht waren an jenem Samstagmorgen nur 767 israelische Soldaten im Grenzgebiet stationiert. Ihnen gegenüber standen 5000 Terroristen, die die Sperranlage um den Gazastreifen durchbrachen, in die Dörfer und Städte eindrangen und dort wahllos töteten. Zwischen 7 und 8 Uhr morgens griff die Hamas insgesamt 34 Orte an – die IDF waren nur in elf präsent.
Zwar forderten sie rasch Verstärkung an. Doch in den ersten Stunden des Angriffs herrschte ein derartiges Chaos, dass sich die Armee kaum ein Bild der Lage machen konnte. Dies wurde durch den Umstand verstärkt, dass die für das Gebiet zuständige Einheit – die Gaza-Division – weitgehend handlungsunfähig war. Laut dem Bericht war die Truppe während fast 10 Stunden faktisch «besiegt». Das Hauptquartier der Gaza-Division war schon in den frühen Morgenstunden von Terroristen überrannt, ihr Kommandant kurz nach 7 Uhr getötet worden.
In der Folge wussten die IDF nicht, in welche Ortschaften sie Verstärkungen schicken sollten. Manche Einheiten gerieten zudem auf dem Weg in Hinterhalte. Es dauerte bis 13 Uhr, bis die Armee ein adäquates Bild vom Ausmass des Angriffs hatte. Erst am Abend des 9. Oktobers konnte sie die operative Kontrolle über die Grenzgebiete wiedererlangen. Dennoch hält die Untersuchung fest, dass die Zahl der Soldaten, die im Vorfeld des Angriffs um den Gazastreifen stationiert waren, dem Protokoll entsprochen habe – weil man davon ausgegangen war, dass keine unmittelbare Bedrohung vorlag.
Fünf Warnsignale in der Nacht
Hätte die Armee wissen können, dass ein solcher Angriff bevorsteht? Auch damit hat sich die Untersuchung beschäftigt. Laut dieser hatte es in der Nacht auf den 7. Oktober fünf Hinweise auf ungewöhnliche Aktivitäten der Hamas gegeben. So waren etwa Dutzende Handys mit israelischen SIM-Karten im Gazastreifen aktiviert worden. Dies war laut den IDF in der Vergangenheit immer wieder einmal vorgekommen – allerdings nicht in diesem Ausmass. Welches die weiteren vier Warnsignale waren, bleibt vorerst geheim.
Die ungewöhnlichen Vorgänge waren von der israelischen Aufklärung durchaus registriert, aber als unbedeutend abgetan worden. Mehrere Offiziere kamen in der Nacht zum Schluss, dass die Ereignisse im Gazastreifen nicht auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff hindeuteten.
Viel entscheidender ist jedoch die Tatsache, dass die IDF die Bedrohung durch die Hamas bereits seit Jahren unterschätzt hatten. In dem Bericht heisst es, dass der militärische Geheimdienst fälschlicherweise davon ausgegangen sei, dass der inzwischen getötete Hamas-Chef Yahya Sinwar «pragmatisch» und nicht an einem grossen Krieg mit Israel interessiert sei. So hatte sich die Hamas nach dem kurzen Krieg von 2021 aus weiteren Waffengängen herausgehalten und sich scheinbar auf die Regierungsführung im Gazastreifen fokussiert.
Schon 2018 Angriffspläne entdeckt
Derweil hatte sich laut der Untersuchung in der Armee die Auffassung durchgesetzt, dass man der Hamas ohnehin überlegen sei. Zuvor waren die Kapazitäten zur Aufklärung im Gazastreifen gar reduziert worden. Stattdessen investierte Israel seine geheimdienstlichen Ressourcen in die libanesische Schiitenmiliz Hizbullah und Iran, die es als grössere Bedrohung wahrnahm.
Dabei hatte es durchaus Hinweise darauf gegeben, dass die Hamas einen grösseren Angriff plante. Schon 2018 hatte die Armee Pläne für einen Überfall auf Israel entdeckt. Im Mai 2022 fanden die IDF ein weiteres Dokument mit entsprechenden Plänen für einen Angriff auf Südisrael. Doch die Militärs kamen zum Schluss, dass dies unrealistisch sei. Das Worst-Case-Szenario, mit dem die IDF rechneten, war ein Angriff von bis zu 70 Terroristen, die die Grenzanlage an maximal acht Stellen durchbrechen würden – am 7. Oktober 2023 jedoch überwanden Tausende Islamisten an insgesamt 114 Stellen den Zaun.
Gemäss dem Bericht hatte die Hamas die Pläne für einen Grossangriff schon im April 2019 gutgeheissen. Im September 2022 sollen die Vorbereitungen zu 85 Prozent abgeschlossen gewesen sein. Der Entscheid, den Überfall am 7. Oktober durchzuführen, soll im Mai 2023 gefallen sein.
Forderungen nach staatlicher Untersuchung
Der am Donnerstag veröffentlichte Bericht dürfte trotz seiner Brisanz keine unmittelbaren Konsequenzen haben. Armeechef Herzl Halevi hat bereits im Januar seinen Rücktritt angekündigt und Verantwortung für das Scheitern übernommen. Zuvor waren bereits der Kommandant der Gaza-Division und der Chef des Militärgeheimdiensts zurückgetreten.
Womit sich die Untersuchung der Armee nicht beschäftigt hat, ist die Rolle und die Verantwortung der Regierung am und vor dem 7. Oktober. Israels Ministerpräsident Netanyahu hat wiederholt gesagt, dass eine entsprechende Untersuchung erst nach dem Krieg stattfinden könne. Nun werden erneut Stimmen laut, die die sofortige Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission fordern.