Das britische Kriegsschiff HMS «Belfast» spielte bei der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 eine Schlüsselrolle – und hätte am D-Day beinahe Winston Churchill mitnehmen müssen.
Am Abend des 5. Juni 1944 ist die Besatzung der HMS «Belfast» in ihren Aufenthaltsräumen im Mannschaftsdeck versammelt, als sich Kapitän Frederick Parham per Lautsprecher an sie richtet. Innert zwei Tagen ist das britische Kriegsschiff von den Orkney Islands im Norden Schottlands nach Portsmouth am Ärmelkanal gefahren. Unter den Marinesoldaten kursieren Vermutungen, dass die Landung in dem von den Nazis besetzten Frankreich bald bevorstehen könnte.
Doch der Zeitpunkt und die genauen Pläne sind streng geheim. Wegen schlechten Wetters musste der D-Day zunächst verschoben werden. Nun aber verkündet Kapitän Parham, das Schiff breche zur Befreiung Westeuropas auf. Nach weiteren Lautsprecherdurchsagen des Admirals und des Kaplans herrscht Stille im Mannschaftsdeck. Dann lockert der Marinesoldat Bob Shrimpton die Stimmung auf: «Lasst uns eine Tasse Tee trinken, wer weiss schon, wann wir die nächste kriegen.»
D-Day prägt britisches Nationalbewusstsein
80 Jahre später ist Shrimpton ebenso verstorben wie alle weiteren Marinesoldaten, die im Juni 1944 auf der HMS «Belfast» dienten. Seine Erinnerungen sind aber Teil eines grossen Fundus von Tonaufnahmen. Diese hat das Imperial War Museum in London im Rahmen eines Projekts zu mündlich überlieferter Geschichte neu ausgewertet, wie Nigel Steel, Kurator und Historiker des Museums, bei einer Spezialführung durch das Schiff erklärt.
Die HMS «Belfast» liegt heute als beliebte Touristenattraktion am Südufer der Themse in London vor Anker. Sie ist das einzige am D-Day beteiligte britische Kriegsschiff, das noch besichtigt werden kann. Daher feuert sie zum 80-Jahre-Jubiläum der Landung in der Normandie nicht nur Kanonensalven ab, sondern nimmt auch symbolisch einen wichtigen Platz in den mehrtägigen Gedenkfeierlichkeiten ein.
Unzählige Dokumentarfilme und Zeitungsbeilagen zeugen von der Stellung, welche der Zweite Weltkrieg und der D-Day im britischen Nationalbewusstsein bis heute einnehmen. Zu Wort kommen die letzten noch lebenden Kriegsveteranen. Sie sind rund 100 Jahre alt, die meisten dürften das nächste grosse D-Day-Jubiläum nicht mehr erleben. Umso wichtiger werden in Zukunft Oral-History-Projekte sein – wie jenes, das die Geschehnisse des historischen Tags auf der HMS «Belfast» veranschaulicht.
1944 führt die HMS «Belfast» rund 850 Personen mit, was eine Infrastruktur erfordert wie in einem Dorf. Unter Deck gibt es ein Lazarett, eine Schiffsküche, eine Bäckerei sowie eine Abgabestelle für die tägliche Ration von Rum, die allen Marinesoldaten zusteht. Die Offiziere speisen in einem Salon. Die Soldaten essen an grossen Tischen im Mannschaftsdeck, das sich in einen Schlafsaal verwandelt, sobald die Hängematten an der Decke befestigt werden.
Zu viel Schlaf kommt die Besatzung in der Nacht auf den 6. Juni 1944 nicht. Kapitän Parham beschreibt in seinen Memoiren die Bedeutung des Mondlichts, dank dem die HMS «Belfast» gefahrlos an den anderen Schiffen vorbeimanövrieren kann. Der Kapitän erzählt auch von seiner Verblüffung, als er in den Morgenstunden den Kontrollraum betritt. An dem Tag, der die Weichen für die Zukunft Westeuropas stellen sollte, lauschen seine Soldaten einem Programm des BBC Home Service, in dem eine Moderatorin Fabrikarbeiterinnen zu Turnübungen anleitet.
«Schwimmende Geschützplattform»
Um 5 Uhr morgens erreicht die HMS «Belfast» den ihr zugewiesenen Standort knapp zehn Kilometer vor den französischen Küstenabschnitten Juno und Gold. Um 5 Uhr 27 feuert das Schiff den ersten Schuss ab.
«Die HMS ‹Belfast› dient als eine riesige schwimmende Geschützplattform», erklärt der Kurator Steel. Das Kriegsschiff nimmt die deutschen Bunker am Strand, aber vor allem auch weiter im Landesinneren liegende Geschützbatterien zwei Stunden lang unter Dauerbeschuss. Das pausenlose Feuer soll auch die psychische Widerstandskraft der Wehrmachtsoldaten brechen – und damit die Landung von britischen und kanadischen Infanteristen, Panzerbrigaden und Fallschirmjägern erleichtern.
Die HMS «Belfast» ist mit zwölf 152-Millimeter-Kanonen in vier Dreifach-Geschütztürmen ausgestattet. Jede Kanone hat eine Reichweite von etwa 22,5 Kilometern und feuert pro Minute acht 50 Kilogramm schwere Granaten ab. Um diese hohe Kadenz einzuhalten, laden 27 Soldaten in Schutzanzügen die Kanonen laufend nach.
Gelagert werden die Geschosse tief unten im Bauch des Schiffs im vierten Deck, von wo sie per Flaschenzug nach oben transportiert werden. Als Treibladung dient Kordit – ein sehr gefährlicher Sprengstoff, der im Ersten Weltkrieg etliche Schlachtschiffe ohne Feindeinwirkung zur Explosion brachte. Daher werden die Granaten erst im letzten Moment mit dem Kordit versehen, das in einem hermetisch abgeriegelten Magazin in einem noch tiefer liegenden Deck lagert.
Der 20-jährige Bernard Thompson gehört zu den Soldaten, die am D-Day im Kordit-Magazin im Einsatz stehen. Wegen der Explosionsgefahr muss er sich bis auf die Unterhosen ausziehen und in völliger Dunkelheit arbeiten. Der Einsatz dauert drei Tage. Jahre später wird er seine damalige Angst schildern. Aber auch seinen Stolz, ein winziges, aber unentbehrliches Zahnrad in der erfolgreichen Kriegsführung der HMS «Belfast» gewesen zu sein.
Churchill wollte auf Kriegsschiff
Am D-Day fahren rund 7000 Kriegsschiffe aus acht Ländern über den Ärmelkanal. Laut dem Historiker Steel spielt die HMS «Belfast» dabei eine Schlüsselrolle. «Als britisches Flaggschiff steht sie im Herzen der Operation vor den zentralen Küstenabschnitten», sagt er. Fünf Wochen dauert der Einsatz vor der Küste Frankreichs. Sie wird nie direkt getroffen, doch werden im Lazarett verletzte Soldaten aus anderen Schiffen behandelt.
An Bord befindet sich der britische Admiral Bertram Ramsay, der das Oberkommando über die alliierten Seestreitkräfte führt. Vor dem Start der Operation beharrt Premierminister Winston Churchill darauf, die Landung der Alliierten von der HMS «Belfast» aus mitzuverfolgen. Doch Ramsay graut vor dieser Vorstellung. Er und andere Armeekader befürchten, Churchill könnte sich in die Operation einmischen und im schlimmsten Fall gar einem deutschen Gegenangriff zum Opfer fallen.
Doch Churchill lässt sich kaum von seinem Plan abbringen. Erst ein Brief von König George VI. bringt ihn kurz vor dem D-Day doch noch zur Vernunft. Darin schreibt der König: «Es wäre unmöglich, Sie zu kontaktieren, und womöglich müssten Sie wichtige Entscheide treffen. Zudem wäre der Befehlshaber des Schiffs in seinen Handlungen limitiert, weil er für Ihre Sicherheit verantwortlich wäre. Falls Sie gingen, würden Sie mir und Ihren Ministerkollegen grosse Sorgen bereiten!»